„Nowhere Man“-Intellektuelle, „Glass Onion“-Dekonstruktivsten, „Walrus“-Poststrukturalisten und der „Hey Jude“-Effekt

Ein Sammelband findet allerlei Philosophisches in den Songs der Beatles

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Spätestens mit dem Erscheinen der Platte „Rubber Soul“ haben Beatles-Fans gerne Text-Exegese betrieben, was John Lennon bekanntlich dazu veranlasste, absichtlich irgendwelche zufälligen, dunklen und sinnlosen Zeilen in die Songs einzufügen. Dass Texte – inklusive solcher Stellen – jedoch stets einen Subtext haben, der sich sinnvoll deuten lässt, weiß man spätestens seit der poststrukturalistischen Literaturtheorie.

In einem nun in deutscher Übersetzung vorliegenden Sammelband haben sich zwar nicht LiteraturwissenschaftlerInnen, aber doch PhilosophInnen mit interpretativen Versuchen an die Songtexte herangewagt. Und immerhin handelt es sich bei der Philosophie auch um eine Textwissenschaft. Bei der Lektüre des unterhaltsamen und oft erhellenden Bandes hat man nicht selten den Eindruck, ein jeder Song ließe sich mit jedem beliebigen Ansatz aus Gegenwart und Geschichte der Philosophie engführen. Sollten die PhilosophInnen über die Jahrtausende hinweg etwa alle das Gleiche vertreten haben? Natürlich nicht. Doch wie sagte schon der Marburger Neukantianer Hermann Cohen vor rund 100 Jahren: Jeder liest seinen eigenen Kant. Und so hören natürlich auch alle ihre eigenen Beatles-Songs. Da lässt sich schon so manches zusammenbringen, was zwar nicht so recht zusammengehört, aber doch irgendwie zusammenzupassen scheint.

Oft fragen die Beiträge nicht danach, wer einen bestimmten Song geschrieben hat, und schon gar nicht, ob sich aus der jeweiligen Autorschaft der Songtexte verschiedene philosophische Haltungen ihrer Verfasser ableiten lassen. Zu den wenigen, die das jedoch sehr wohl tun, zählen Michael H. Hoffheimer und Joseph A. Hoffheimer, die „Georges Sicht auf das Leben“ und seine Haltung zu den „Ideen des Existenzialismus“ nachgehen. Nun kündigte sich mit dem Aufstieg der Beatles zwar schon langsam der Niedergang des Existentialismus an. Doch immerhin waren sie ‚Zeitgenossen’. Andere Interpreten des vorliegenden Bandes gehen tiefer in die Philosophiegeschichte zurück. Eine Interpretin macht hingegen Verbindungen zu einem psychologischen und moralphilosophischen Ansatz aus, der sich erst nach dem Ende der Beatles herausgebildet hat.

Einem der ganz Großen vergangener Jahrhunderte wendet sich James B. South zu. Ihm zufolge versuchen die Beatles, „uns ebenso wie Kant klar zu machen, dass wahre Weisheit den meisten Menschen als Torheit oder nutzlose Träumerei erscheinen kann“. Denn die Pilzköpfe setzen um, was der Transzendentalphilosoph des 18. Jahrhunderts sowie etliche Stoiker der Antike „empfehlen“ und „versuchen die Lücke zwischen philosophischem Nachdenken und Alltag zu schließen.“ Einem anderen Heroen des Deutschen Idealismus gilt das Interesse von Jacob M. Held. Er bringt die Band mit Georg Wilhelm Friedrich Hegels Philosophie der „Liebe und Gemeinschaft“ zusammen. Dabei wartet Held sogar mal mit einem abgelegen Hegelzitat aus dessen „Theologischen Jugendschriften“ auf. Rick Mayrock lässt sich hingegen von Friedrich Nietzsche durch die Beatles-Songs begleiten und „dazu anspornen, Vertrautes in neuem Licht zu sehen.“ Paul Swift erkennt in der Band sogar „Nietzsches ‚Musik treibende[n] Sokrates“.

In einem solchen Sammelband kann es nicht ausbleiben, dass eine Reihe Lieder wie etwa „Rain“ oder „She’s Leaving Home“ von den Beitragenden unterschiedlich interpretiert werden. Aber das ist natürlich keine Schwäche des Bandes, regt es doch gerade dazu an, den eigenen Verstand zu benutzen. Und das ist schließlich die Voraussetzung allen philosophischen Denkens.

Von ihren philosophischen Ahnen unterscheiden sich die Beitragenden des vorliegenden Banden vor allem in einem wichtigen Punkt. Glaubten diese von der Antike bis weit ins 19. Jahrhundert hinein, sie klärten das staunende Publikum über all die Irrtümer und Fehler ihrer VorgängerInnen auf und erläuterten nun als erste und endgültig, was es mit Gott, der Welt und allem sonstigen auf sich hat, so wissen die hier vertretenen Beatles-InterpretInnen sehr wohl, dass sie nur eine Lesart von vielen möglichen anbieten können. Was wiederum keineswegs heißt, dass sie alle gleichermaßen überzeugend sind oder dass es keine Plausibilitätskriterien gibt. So ist etwa die von David Detmer in seinem Beitrag zu „Skeptizismus und Erkenntnistheorie bei den Beatles“ vorgelegte Interpretation von Lennons Solo-Stück „God“ weit überzeugender als die allgemein gängige.

Die Beatles selbst, so erklären die Herausgeber Michael und Steve Baur in der Einleitung, verstanden sich nicht als Philosophen. Jere O’Neal Surber schließt sich dem in seinem Beitrag an und fügt hinzu, dass sie aber sehr wohl „begnadete Künstler“ gewesen sind, die „mit Raffinesse und Intelligenz“ eine Reihe von „Kernfragen unserer Zeit“ ansprachen. Was ihm, den anderen Beitragenden und überhaupt allen, die Beatles-Songs hören, die Möglichkeit eröffne, sich „einen schöpferischen Raum zu erschließen“, in dem man sich „auf eigene Faust“ mit ihnen befassen kann. Auch Michael Baur wendet sich in seinem Beitrag „Die Beatles und der idealistische Monismus“ noch einmal der Frage des wechselseitigen Verhältnisses der Beatles beziehungsweise überhaupt der Popkultur einerseits und der Philosophie andererseits zu. Diese kann über jene „Auskunft geben, indem sie die interessanten, provokativen Ideen ausformuliert, die in der Populärkultur schlummern“, erklärt er, und umgekehrt sei die Populärkultur imstande, „als Vermittlungsmedium philosophischer Aussagen den Zugang zur Philosophie erleichtern“. Auch der Rezensent ist erleichtert. Darüber nämlich, dass sich die AutorInnen nicht dazu versteigen, die Beatles zu den besseren Philosophen zu (v)erklären.

Einen der kurzweiligsten Beiträge hat James Crooks verfasst, dem zufolge die Texte der Beatles nicht nur „einige Grundmerkmale postmodernen Denkens auf[weisen]“, sondern es den fab four zudem „in kürzester Zeit“ gelang, eine „Metaerzählung der Postmoderne“ schaffen. „Wenn wir dem Optimismus, den die Metaerzählung der Beatles ausstrahlt, ein wenig auf den Grund gehen“, verspricht Crooks, „kann er uns helfen, die Grenzen des postmodernen Denkens zu erkennen.“ Denn schließlich würden die Philosopheme der „‚Nowhere Man‘-Intellektuellen“, „‚Glass Onion‘-Dekonstruktivsten“ und „‚Walrus‘-Poststrukturalisten“ im „‚Hey Jude‘-Effekt“ der „naive[n] Verherrlichung der Liebe“ – aufgehoben, um es gut hegelianisch zu sagen.

Es lässt sich allerdings nicht verhehlen, dass der Band auch einige schwächere Beiträge bietet. Zu ihnen zählt zunächst einmal Jere O’Neal Surbers Versuch über den Film „Yellow Submarine“, von dem er meint, die Beatles hätten in dem Streifen „ihr harmonisches Gemeinschaftsleben im Unterseeboot mit den ‚Blue Meanies‘ kontrastiert“. Tatsächlich hatten die Beatles mit Entstehung und Inhalt des Films jedoch so gut wie nichts zu tun.

Schwächer noch ist Peggy J. Bowers Aufsatz über „[d]ie Beatles und die feministische Ethik der Fürsorge“, dem nicht nur, wie manch anderem auch, die Leichtigkeit der Einleitung fehlt. Hinzu kommen inhaltliche Mängel. Ihre primäre Gewährsperson für feministische Ethik ist Carol Gilligan, deren annähernd 30 Jahre altes Fürsorgekonzept weder sonderlich emanzipatorisch noch auf der Höhe des heutigen Genderdiskurses ist, jedoch ganz offenbar von der Autorin geteilt wird. „Die Ethik der Fürsorge beschützt vor leerer, verallgemeinerter Emotion“, versichert Bowers, was immer das bedeuten soll. Jedenfalls macht sie zwischen Gilligans „philosophischem Standpunkt“ und dem „künstlerischen Schaffen“ der vier Musiker „zahlreiche Parallelen“ aus. Anders als die Herausgeber scheint Bowers sogar dazu zu neigen, die Beatles zu Philosophen zu erklären. Jedenfalls haben sie ihr zufolge in ihrem Werk eine „konsistente ethische Vision“ geschaffen, „die durch ihre durchdachte Originalität besticht.“ Obwohl Bowers erkennt, dass die Musik der Beatles „nicht explizit feministisch“ ist, macht sie in deren Texten einen „mächtige[n] Subtext moralischen Denkens“ aus, „der im abendländischen Denken schon seit jeher mit weiblichen Grundhaltungen assoziiert wird.“ Abgesehen davon, dass eine essentialistische Geschlechtervorstellung nicht schon darum richtiger wird, weil sie recht alt ist, rezipiert Bowers Songs, die zu diesem Befund schwerlich passen würden, einfach nicht. So etwa das frühe „Girl“, „Maxwell’s Silver Hammer“ aus dem Spätwerk oder gar das grauenvolle „Run for Your Life“, in dem ein eifersüchtiger Typ einem Mädchen droht, es zu ermorden, falls sie sich mit einem anderen Mann einlässt. John Lennon bekannte nicht umsonst, dass er dieses Lied nie mochte.

Bowers Interpretationen der Lieder, die sie überhaupt heranzieht, sind wiederum nur wenig überzeugend. So interpretiert sie „Lady Madonna“ als „Hymne auf das Urbild der mütterlichen Ernährerin angesichts großer ökonomischer und häuslicher Widrigkeiten.“ Denn die „schambesetzten Lebensumstände von Lady Madonna erweck[t]en Pauls berechtigte Bewunderung“. Plausibler ist allerdings, in dem Song eine Anklage dieser Umstände zu sehen. Die Autorin aber glorifiziert die aufopfernde Haltung von Frauen, statt sich, was eigentlich ein feministisches Anliegen wäre, dafür stark zu machen, dass sie sich von dieser Rolle emanzipieren. Auch anderen Befunden Bowers lässt sich schwerlich folgen. So meint sie, „She’s Leaving Home“ evoziere bei den jugendlichen Beatles-Fans Mitleid mit den verlassenen Eltern. Tatsächlich dürften die sich aus guten Gründen mit dem Mädchen identifizieren, das aus dem goldenen, aber lieblosen Käfig des Elternhauses auf und davon fliegt, um endlich etwas Spaß zu haben. Andere von Bowers Interpretationen bleiben dunkel bis unverständlich. Das Stück „Help“, erklärt sie etwa, „handelt von der Vorstellung, dass man tragfähige Beziehungen braucht, um die eigene Existenz als Epiphanie zu erfahren – als plötzliche Erkenntnis offensichtlicher Fakten.“ Was sie damit sagen will, bleibt unklar. Aber vielleicht ist die Übersetzung an solchen Unklarheiten nicht ganz schuldlos.

Nicht besser als Bowers Beitrag ist derjenige von Mitherausgeber Steven Baur, der „Marx und die Beatles“ miteinander vergleicht. Ersteren nennt er einen „großen deutschen Philosophen.“ Den würde dieses Lob allerdings kaum erfreut haben, worauf schon die Elfte Feuerbachthese hindeutet: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kömmt darauf an sie zu verändern.“ Die kennt zwar auch Baur, doch interpretiert er sie dahingehend, dass die Philosophie die Welt nicht nur interpretieren, sondern verbessern solle. Auch aus der „Deutschen Ideologie“ zitiert Baur. Dass Karl Marx in ihr ätzt, „Philosophie und Studium der wirklichen Welt verhalten sich zueinander wie Onanie und Geschlechtsliebe“, scheint er allerdings überlesen zu haben. Auch lässt er sich manche Verballhornung Marx(isti)scher Thesen zu Schulden kommen. Dafür aber ist er der Überzeugung, dass die Beatles eine „antikulturelle Haltung“ entwickelten und sich „[i]m Laufe ihrer Karriere […] für dieselbe Art von politischem Bewusstsein stark [machten], für deren Verbreitung Marx sich einsetzte.“

Ungeachtet solcher schwächerer Beiträge ist das Buch keine schlechte Lektüre für Leute, die beginnen, ins Grübeln zu geraten. Doch das tut man gemeinhin ja bereits in jüngeren Jahren. LeserInnen, die sich für die Beatles interessieren, dürften hingegen meist schon älteren Semesters sein. Doch unterhaltsam ist die Lektüre auch für sie. Und „klüger werden mit der besten Band aller Zeiten“, wie der Untertitel verspricht, das kann man mit dem Buch tatsächlich, trotz des überflüssigen Superlativs.

Titelbild

Steve Baur / Michael Baur (Hg.): Die Beatles und die Philosophie. Klüger werden mit der besten Band aller Zeiten.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Susanne Held und Christoph Trunk.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2010.
320 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783608504026

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch