Der Weg zurück in die Küche dauerte fast eine Woche

Jürgen Beckers Gedichte der 90er Jahre

Von Thomas BetzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Betz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Jürgen Beckers neuer Gedichtband ist ein "Journal der Wiederholungen", und das in mehrfacher Hinsicht. Eine Abteilung kurzer Notate trägt die Überschrift "Einzelheiten. Wiepersdorfer Journal". In anderen Gedichten ist vom offenen "Heft", von "Skizzen" die Rede; auch thematisieren viele der Texte "Augenblick" und "Wiederholung", sie lassen sich zuerst lesen als Aufzeichnungen von Wahrgenommenem und als Vergewisserungen. Das Buch als Ganzes enthält überdies - verschiedentlich auch explizit - eine Poetik der Aufzeichnung: "das Einmalige kann man nicht / festhalten, auch wenn man aufhört / mit jedem Vergleich ... der Wind schreibt auf seine Art / die Bewegungen vor. Also noch einmal, es geht // um die Wiedergabe der Augenblicke, die plötzlich / etwas unterbrechen ... so scheint es ". Der Titel des Bandes wiederholt den Titel des abschließenden langen Gedichts, in dem gefragt wird: "Es war doch / eine Reise, und du hast dich nur wenig / im Zimmer bewegt?" Beckers Gedichte über Landschaften, Gemälde, Augenblicke sind immer Gedichte über ineinandergreifende Zeiterfahrungen; letztlich sind es Gedichte aus Stimmen.

Das Ansprechen zweier Orte im Gedicht eröffnet mindestens zwei Zeitebenen. Oder ein Ort im Osten, Wiepersdorf, ist dreifach historisch besetzt: "es sind Stimmen / aus einem anderen Land (und gleich entsteht / eine Korrektur: es war ein anderes Land)". Vorkriegszeit, Exil, Krieg - "nie / hört die Nachkriegszeit auf" -, die "Zone", BRD und DDR und die Wiedervereinigung markieren die historischen Dimensionen, die in den Zeiterfahrungen der Gegenwart virulent bleiben. Tages- und Jahreszeiten, Augenblicke, Veränderungen und Zeiterwartungen werden in sinnlichen Empfindungen, Reflexionen und Imaginationen verknüpft und gebrochen.

Motiv-Ensembles werden deutlich; es ist Beckers Repertoire seiner bisherigen Bände, zu dessen Gegenständen und Namen die Pappeln, Wind, Wälder, Schnee, Kraniche, Fenster gehören. Einzelne Wörter kehren entfernt im Buch wieder oder sind in die Nähe gestellt, in verschiedene Stimmungen und Umgebungen: Birnbaum, Kirschbaum oder Parkplatz sind Zeugen für Präsenz und Verlust, Erwartung und Erinnerung. Autobahn, Landhaus, Landstraßen für Orte auf Reisen, "Straßen zum Meer", Küsten und Zimmer eröffnen Imaginationen. Topographisch werden die Gedichte von Ostende bis Warschau und "Im Rheinland. An der Oder" situiert.

Der Band umfaßt 33 Gedichte (mit oder ohne "strophische" Unterbrechungen), zwei Sammlungen von Versen und Notaten aus wenigen Zeilen oder Einzeilern und gefundenen Wörtern ("Klangverkehr"), den Zyklus "Stimmen im Sommer" sowie das lange Titelgedicht. Allesamt Formen, wie sie auch in früheren Gedichtbüchern des Autors verwendet werden. Becker-Lesern vertraut ist ebenso die Sprache der Gedichte, eine Sprache in Brüchen, Auslassungen und Fortsetzungen, in Wendungen, in Fremd- und Selbstzitaten (April, "der grausamste Monat"), scheinbar einfach hingesprochen.

Insofern liefert diese Neuerscheinung mit Gedichten aus den Jahren 1993 bis 1997 keine "Neuigkeiten im Repertoire". Krisenmeldungen und Kulturlandschaft, die Medienwirklichkeit (Fernsehen, Hörfunk, Telefon, Briefverkehr, Computer) und Zeichen aus der Vergangenheit (Fotos, Archivalien, Pläne, Bilder) sind gleichermaßen Teil der Situationen. Die Texte formieren sich zu gemischten Stimmen, zum Gespräch, formieren sich zum Selbstgespräch. Den Eindruck melancholischer Idylle versucht Becker von Anfang an zu unterlaufen, indem er Gewohnheitsmuster thematisiert und Vorformuliertes nachspricht ("Es ist alles ganz einfach."; "Es geht weiter.").

Wiederholung heißt Repetition des Gewohnten, heißt "Wiederholungen" und die Bereitschaft zu ihrer Wahrnehmung, "wo man warten und gewiß sein kann, daß / vorläufig nichts geschieht". Wiederholung heißt auch Wiederkehr, Wiederauftauchen im allgegenwärtigen Verschwinden, "wie zum Beweis einer Gegenwart, die nicht aufhören will". Wiederholung bedeutet die Wieder-Holung alles Vergangenen ins Sprechen, bedeutet zuletzt auch die Fortsetzung dieses Sprechversuchs "bis zur letzten Seite im Heft". Dieser Versuch bleibt phantomatisch, gefährdet.

"Das Zimmer voll Bilder; Anfänge, Reste. Das Zimmer

betretend; das Zimmer ist leer.

Du kannst es weiter versuchen; du sprichst, und mitten

im Nichts geht eine Stimme umher, die

anfangen wird, sich selbst kennenzulernen, solange

sie nicht das Medium

eines alten sich hinziehenden Echos ist."

Becker notiert und komponiert "Variationen des Verschwindens", er schreibt damit persönliche wie politische Geschichte: "Die Geschichte der Versäumnisse geht weiter." Das Buch enthält also mehr als nur "einzelne Sätze zum Mitnehmen". Beckers experimentelle Anfänge zeigen Fernwirkung in seinen Gedichten. In den Gedichtbüchern seit 1971 hat er ein kontinuierliches, weiträumiges poetisches Gedächtnis entwickelt, das er mit diesem Buch leise fortgesetzt hat. Unter den zeitgenössischen Lyrikern erweist sich Jürgen Becker in der Darstellung von Gegenwart als der mit dem längsten Atem.

Titelbild

Jürgen Becker: Journal der Wiederholungen. Gedichte.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 1999.
104 Seiten, 15,20 EUR.
ISBN-10: 3518410261

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