‚Warme Kunst‘ und ‚kalter Künstler‘?

Kai Graf Mölln, Hanno Buddenbrook und eine romantische Universalpoesie

Von Birte LipinskiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Birte Lipinski

Kai Graf Mölln, „[dieser] kleine, verwahrloste Gesell“ und Hanno Buddenbrooks Freund, schafft etwas, was nicht vielen Figuren in Thomas Manns „Buddenbrooks“ gelingt: Er zieht die Sympathie des Erzählers auf seine Person. Erst gegen Ende des Romans tritt Kai in die Geschichte ein, dann aber umso heftiger und leidenschaftlicher: er hatte „mit einem Feuer, einer stürmisch aggressiven Männlichkeit um die Gunst des stillen, elegant gekleideten Hanno geworben, der gar nicht zu widerstehen gewesen war“. Der kleine Graf erlangt dessen Gunst – und im selben Zuge auch die der Erzählinstanz. Im Falle Kais erhält der Rezipient den Eindruck, auch der sonst so kritische Erzähler habe Kais Feuer ‚nicht zu widerstehen‘ gewusst.

1. Wie man die Zuneigung des Erzählers erringt

Kai ist nur ein sehr kleiner Teil des Romans gewidmet: Trotz der wenigen Seiten, auf denen er vorkommt, wird er jedoch auf ganz besondere Weise geschildert und fügt der Familien- und Verfallsgeschichte eine Bedeutungsebene hinzu. Der kleine Poet Kai Graf Mölln ist, wenn Thomas Mann seinen Protagonisten Tonio Kröger in den „Betrachtungen eines Unpolitischen“ als „Spätling der Romantik“ bezeichnet, in Analogie dazu ein ‚Spätling der Frühromantik‘.

Solch kritiklose Schilderung einer Figur wie im Falle Kais sucht man in den „Buddenbrooks“ lange. Gemessen an den wenigen Auftritten im Roman müsste man Kai Graf Mölln wohl als Nebenfigur der Handlung bezeichnen; solche werden in „Buddenbrooks“ oft mit besonderer Ironie geschildert. Sie werden zur komischen Figur wie Bendix Grünlich und Alois Permaneder oder zum Typus wie der Arbeiter Grobleben, der Arzt Dr. Grabow oder der Lebemann Peter Döhlmann. Die große Forschungsdiskussion zur Ironie Thomas Manns soll hier nicht wiederholt werden. Zentral für die Betrachtung Kais wird lediglich die Tatsache, dass die Ironie in der Darstellung der Figuren als distanzbildend und somit kühl charakterisiert wird. Diese Distanz nimmt also in Bezug auf die Figur Kais ab, und der veränderte Fokus stellt ihn als besondere Figur heraus. Der Vorwurf an Thomas Mann, ein ‚kalter Künstler‘ zu sein, der sich gerade an der Figurenzeichnung in „Buddenbrooks“ entzündete, scheint hier nicht zu greifen.

Kai wird schon über seine Handlungen positiv gewertet: Die wenigen Seiten, auf denen er eine zentrale Rolle spielt, zeigen ihn als stürmisch emotionalen Kavalier und als Retter in der Not. Gegen die Hagenström-Jungen, die seinen Freund Hanno im Schwimmbad drangsalieren, etabliert er sich als Held: „Neben ihm [Hanno; Anm. der Verf.] aber kam Kai Graf Mölln zum Vorschein, welcher sich auf irgend eine Weise das Eintrittsgeld verschafft hatte, unversehens unter Wasser herbeigeschwommen war und den jungen Hagenström gebissen – mit allen Zähnen ins Bein gebissen hatte, wie ein kleiner wütender Hund. Seine blauen Augen blitzten durch das rötlich-blonde Haar, das naß darüber hing…“. So wie Kai in einer seiner Erzählungen mit einer Art Tierarmee gegen den bösen Zauberer ins Feld zieht, um (neben anderen Heldentaten) Hanno zu befreien, wird er auch außerhalb seiner eigenen Fiktion zu Hannos Retter: Da es sich hier nicht um ein Märchen handelt, muss er einstecken und nimmt auch das in Kauf. Denn Kai ist emotional, liebend, leidenschaftlich und ein guter Freund.

Bei soviel Unwiderstehlichkeit scheint es verwunderlich, dass die meisten der Forschungsarbeiten zu den „Buddenbrooks“, selbst das Handbuch zum Roman, Kai nicht oder nur in Nebensätzen erwähnen; nicht selten wird (mit Blick auf „Buddenbrooks“ als Schlüsselroman) lediglich sein historisches Vorbild genannt: Eberhard Graf Schwerin, ein Schulkamerad Thomas Manns. Gerade im Falle Kais jedoch sagt diese Parallele wenig aus, denn das interessanteste Charakteristikum der Figur, die Entwicklung zum Dichter, ist dem Vorbild Graf Schwerin offenbar hinzugefügt – eine sehr bewusste selbstreflexive Wendung am Ende des Romans, die über diesen hinausweist.

Man könnte mutmaßen, dass sich die Zuneigung der Erzählinstanz zu Kai aus einer kollegialen Solidarität ergibt: Der extradiegetische Erzähler zeichnet den Dichter innerhalb seiner Fiktion entsprechend positiv. Doch Literat zu sein, reicht allein nicht aus, um den Erzähler auf seine Seite zu ziehen. Das wird an Jean Jacques Hoffstede deutlich: Hoffstede, „der Poet der Stadt“ verliest zur Einweihung des neuen Hauses ein Gelegenheitsgedicht. Doch er sinkt trotz Beifall für seine Dichtung, trotz Goethe’scher Dichtmanier, Bildungszitaten und Galanterie im Vortrag zur komischen Figur herab. Als Dichter zählt er hier nicht, er hat nur „ein paar Reime in der Tasche“ – Gelegenheits- und Unterhaltungskunst mit Anspruch auf ein bildungsbürgerliches Niveau, orientiert an der Weimarer Klassik. Was unterscheidet also Kai von Dichter Hoffstede? Es sind Form und Inhalte seiner Kunst sowie eine besondere Art der Empathie, des hellsichtigen Gefühls im Schreiben. Das Schreiben als Seelenkunde, die Haltung des Poeten und – daraus resultierend – ein utopisches Moment seiner Kunst lassen Kai Graf Mölln als Idealbild des Literaten aus dem Roman hervorgehen.

2. Kais Nachvollzug einer romantischen Gattungsentwicklung

Eine Analyse der Erzählungen des Jungen wird zeigen, dass Kais Entwicklung als Dichter sich gleichsam parallel zur Genese einer Gattung vollzieht, nämlich der des romantischen Kunstmärchens. Schon Kais erste Geschichte, die der Erzähler von „Buddenbrooks“ nur zusammenfassend wiedergibt, orientiert sich deutlich an Märchenmotiven. Sie erzählt vom Prinzen Josephus, der in Gestalt eines bunten Vogels von einem bösen Zauberer festgehalten wird. Doch Rettung naht: „Schon aber wachse in der Ferne der Auserwählte heran, welcher dereinst an der Spitze einer unwiderstehlichen Armee von Hunden, Hühnern und Meerschweinchen, gegen den Zauberer furchtlos zu Felde ziehen und den Prinzen, sowie die ganze Welt, besonders aber Hanno Buddenbrook vermittelst eines Schwertstreiches von ihm erlösen werde. Dann werde, befreit und entzaubert, Josephus in sein Reich zurückkehren, König werden und Hanno sowohl, wie Kai zu sehr hohen Würden emporsteigen lassen…“.

Die Geschichte scheint dem Leser nicht unbekannt: Sie ähnelt Motiven des Grimm’schen Märchens „Die treuen Tiere“, besonders aber „Von einem der auszog, das Fürchten zu lernen“, denn auch hier geht es ja um einen Furchtlosen, der ein verzaubertes Schloss befreit. Ida Jungmann liest den Jungen die Grimm’schen Märchen vor – und offenbar findet Kai Anregungen für sein eigenes Erzählen darin. Es ist jedoch kaum möglich, einen einzelnen Prätext für Kais Märchen auszumachen, tatsächlich handelt es sich um eine Orientierung des kleinen Kai an häufig auftauchenden Motiven und Strukturen des Volksmärchens sowie romantischer Zaubermärchen. Dies zeigt das zweite Märchen, das Kai in „Buddenbrooks“ erzählt: „Durfte man ihm glauben, so war er vor langer Zeit bei schwüler Nacht und in fremder, unkenntlicher Gegend einen schlüpfrigen und unermeßlich tiefen Abhang hinabgeglitten, an dessen Fuße er im fahlen und flackernden Schein von Irrlichtern ein schwarzes Sumpfgewässer gefunden hatte, aus dem mit hohl glucksendem Geräusch unaufhörlich silberblanke Blasen aufgestiegen waren. Eine aber davon […] hatte die Form eines Ringes gehabt, und diese hatte er nach langen, gefahrvollen Bemühungen mit der Hand zu erhaschen verstanden, worauf sie nicht mehr zerplatzt war, sondern sich als glatter und fester Reif hatte an den Finger stecken lassen. Er aber, der mit Recht diesem Ringe ungewöhnliche Eigenschaften zugetraut hatte, war mit seiner Hilfe den steilen und schlüpfrigen Abhang wieder emporgelangt und hatte unweit davon in rötlichem Nebel ein schwarzes, totenstilles und ungeheuerlich bewachtes Schloß gefunden, in das er eingedrungen war, und in dem er, immer mit Hülfe des Ringes, die dankeswertesten Entzauberungen und Erlösungen vorgenommen hatte…“.

Die Erzählinstanz spart sich die genauere Beschreibung dieser ‚Entzauberungen‘ – denn auch diese Geschichte sollte dem Leser bereits bekannt sein. Da werden verzauberte Schlösser erlöst wie in „Dornröschen“ oder in der Geschichte „Die zwölf Brüder“. Da werden Ringe aus dem Wasser geholt oder entpuppen sich als magisch – wie der Wunschring in den „Sieben Raben“. Doch nicht nur Grimms Hausmärchen bieten Anregung. In Giambattista Basiles „Pentamerone“ handelt die Geschichte „Der Hahnenstein“ von Mäusen, die dem Protagonisten helfen, sich gegen böse Zauberer zu Wehr zu setzen, einen Zauberring und ein Schloss zurückzugewinnen. Bei Richard von Volkmann-Leander erhebt sich im Märchen „Heino im Sumpf“ um den verzauberten Heino ein Schloss aus dem Sumpf; ein Mädchen kann ihn durch seine Liebe retten – auch ein Ring spielt dabei eine Rolle, wenn auch als Zeichen der Liebe und nicht als Zauberring. Diese Motivsammlung ließe sich noch lange fortführen. Betrachtet man Kais erzählerische Werke literaturwissenschaftlich, so kann man nicht nur von Intertextualitäten sprechen. Im Sinne von Leví-Strauss’ „Wildem Denken“ stellen die Texte eine Art Märchen-bricolàge dar.

Die Geschichten gewinnen gegenüber den Grimm’schen Vorbildern zunehmend an Ausführlichkeit und Komplexität; so schildert das Märchen vom Zauberring etwa detailliert die unheimliche Umgebung. Die Erzählinstanz liefert mit der Beschreibung der Genese von Kais Erzählungen eine Definition der Textsorte gleichsam mit: „Kais Geschichten waren anfangs kurz und einfach, wurden dann aber kühner und komplizierter und gewannen an Interesse dadurch, daß sie nicht gänzlich in der Luft standen, sondern von der Wirklichkeit ausgingen und diese in ein seltsames und geheimnisvolles Licht rückten…“. Schon der vom bösen Zauberer in einen bunten Vogel verzauberte Prinz Josephus entspricht dem Papageien bei Zahnarzt Brecht, von welchem sich Hanno sicher gern befreien lässt. Kai erzählt Kunstmärchen, die sich durch ihre besondere Komplexität und durch ein spezielles Verhältnis von lebensweltlicher Erfahrung des Rezipienten und Fantastik auszeichnen. In Kais Anregung durch die Grimm’schen Volksmärchen und den Übergang zu komplexeren Formen, später auch von Mündlichkeit zu Schriftlichkeit wird wiederum fast eine Definition des Kunstmärchens im Entstehungsprozess nachgezeichnet: Volker Klotz deutet in „Das Europäische Kunstmärchen“ dieses Genre als „eine Ableitung“, „ein Derivat“ des Volksmärchens. Kai Graf Mölln authentifiziert seine Geschichten, indem er sich selbst als Ich-Erzähler und Protagonisten einsetzt, und er gibt ihnen so Anschluss an die extradiegetische Wirklichkeit. Mit dieser Fokalisierung eignet er sich ein Verfahren an, das für das romantische Kunstmärchen von besonderer Bedeutung ist und für das sich ohne Mühe berühmte Vorbilder finden lassen: Joseph von Eichendorffs „Aus dem Leben eines Taugenichts“ nutzt diese Erzählform, genauso wie Adelbert von Chamissos „Peter Schlemihls wundersame Geschichte“, die Thomas Mann in seinem Essay so rühmt, oder Clemens Brentanos „Gockel, Hinkel und Gackeleia“.

Das Grimm’sche Volksmärchen als Ausgangspunkt dieser Genese des jungen Dichters suggeriert einen ‚natürlichen Urzustand‘, welcher am Anfang des Prozesses steht. (Die Abgrenzung zwischen Volks- und Kunstmärchen ist tatsächlich keinesfalls so einfach und gerade die Grimm’sche Sammlung stellt mindestens Märchenbearbeitungen, wenn nicht schon Kunstmärchen zusammen. Dennoch wurden die Grimm’schen Hausmärchen lange als Prototypen einer ursprünglichen, volkstümlichen Narration gesehen.) Da innerfiktional kaum von einer bewussten Orientierung des Kindes an den literarischen Vorbildern oder gar an der Gattungsentwicklung gesprochen werden kann, wird eine quasi organische, natürliche Genese suggeriert. Erst dem Leser von „Buddenbrooks“ offenbart sich in der Gleichsetzung von Literaturentwicklung und dichterischem Reifen, dass der kleine Graf selbst Literatur wird. Er vermittelt dabei ein Bild von der Literatur, das auf Intertextualität und fantastischer (Um-)Formung der Wirklichkeit basiert. Dass gerade das Märchen hier die Grundlage bildet, ist, wie der Inhalt der Geschichten Kai Graf Möllns, eine romantische Idee. Denn bei Novalis wird das Märchen zum Urbild der Poesie. Er entwirft es so im „Allgemeinen Brouillon“, Nr. 940: „Das Mährchen ist gleichsam der Canon der Poësie – alles poëtische muß mährchenhaft seyn.“ Die selbstreflexive Wendung im Erzählen zum Ende von „Buddenbrooks“, die im romantischen Kunstmärchen mit der Poetisierung der Welt einhergeht, soll nun jedoch noch etwas zurückgestellt werden. Zunächst wird der romantischen Dimension in Kais Erzählen sowie der Frage nach der Kälte oder Wärme der Kunst und des Künstlers nachgegangen.

3. Kai als ‚kalter Künstler‘?

Gerade sein Gefühl charakterisiert Kai als Literaten. Dass Kai der Vertreter des Kunstmärchens wird, ist bereits an seinem Namen abzulesen: Michael Maar verfolgt in seiner Studie „Geister und Kunst. Neuigkeiten aus dem Zauberberg“ auch die Spuren der Märchen in den „Buddenbrooks“ und findet in Kai eine Entsprechung zum gleichnamigen Protagonisten aus Hans Christian Andersens „Die Schneekönigin“. Der Fokus auf den „Zauberberg“ mag eine genaue Analyse dieser Figur verboten haben, denn bei näherem Hinsehen hat Kai Graf Mölln mit seinem Namensvetter wenig gemein. Andersens Kay trifft ein Splitter des bösen Zauberspiegels in Herz und Augen. Er wird dadurch kalt und kritisch gegenüber der Umwelt, verspottet seine Freunde und wird schließlich von der Schneekönigin ins ewige Eis entführt – wohin er mit seinem Herzen aus Eis recht gut zu passen scheint. Maar sieht in Thomas Manns Kai eine Figur, die ebenso ironisch, spöttisch und distanziert auf die Welt sehe. Er zitiert dazu die Schulszene. Doch die Adjektive, die Maar Kai als Person zuschreibt, beziehen sich eigentlich auf dessen Sprache. Nicht Kai kennzeichnet „ablehnende und ironische Kälte“, sondern seine Wortwahl, sein distanziertes Sprechen von den Lehrern. Im Gegensatz zu ihren Kameraden erfreuen sich Kai und Hanno, so macht es der Erzähler explizit, gerade nicht an „Opposition und Rache“, wie sie die Mitschüler gebrauchen. Kai ist skeptisch, aber nicht herzlos; er ist ironisch und bissig, aber er ist ganz sicher nicht kalt. Er verweist zwar mit seinem Namen auf das Kunstmärchen „Die Schneekönigin“, aber entspricht in seinem Handeln nicht dessen gefühllosen Protagonisten.

Im Gegenteil wird Kai Graf Mölln als ein besonders gefühlvolles und leidenschaftliches Kind geschildert, auch weil er – gemäß einem Ideal der Empfindsamkeit – als ‚Naturkind‘ aufwächst. (Das ‚Natürliche‘ sei hier wie schon das ‚Ursprüngliche‘ des Volksmärchens mit großer Vorsicht und lediglich als Konzept zu verstehen. Indem sich diese Konzepte aber in der Figur treffen, bestätigen sie wechselseitig den Mythos einer organischen Entwicklung des Dichters.) Er wächst scheinbar ohne Erziehung auf dem verwilderten Gut der Familie auf: „Mutterlos, – denn die Gräfin war an seiner Geburt gestorben, und irgend ein ältliches Frauenzimmer führte das Hauswesen, – war der kleine Kai hier wild wie ein Tier unter den Hühnern und Hunden herangewachsen, und hier hatte – von fern und mit großer Scheu – Hanno Buddenbrook ihn gesehen, wie er gleich einem Kaninchen im Kohle umhersprang, sich mit jungen Hunden balgte und mit seinen Purzelbäumen die Hühner erschreckte“. Der kleine Graf lernt also mit den Tieren, wird Teil des Rudels, entwickelt so eine quasi ‚natürliche‘ Stärke und erfährt seine Freiheit, wie man es sich als Illustration der Rousseau’schen Erziehungsideale vorstellen könnte – wenngleich hier niemand darauf achtet, Kai zum gesellschaftsfähigen zoon politicon auszubilden.

Diese ‚Naturnähe’ macht ihn zum empfindsam-authentischen Wesen. Kai erkennt Hannos Probleme und versteht seinen Freund ohne viele Worte, auch und gerade in dessen Kunst. Er bestätigt: „Ich weiß, wovon du spielst“. Denn Kai ist empathisch. Ein geradezu paradigmatisches Bild der empfindsamen Freundschaft bietet sich zum Ende des Romans. Die übriggebliebenen Buddenbrook’schen Damen haben sich nach dem Tod Hannos versammelt: „Und dann rief man sich jene letzte Episode ins Gedächtnis zurück… den Besuch dieses kleinen, abgerissenen Grafen, der sich beinahe mit Gewalt den Weg zum Krankenzimmer gebahnt hatte… Hanno hatte gelächelt, als er seine Stimme vernahm, obgleich er sonst niemanden mehr erkannte, und Kai hatte ihm unaufhörlich beide Hände geküßt“. „Er hat ihm die Hände geküßt?“, fragen die Damen Buddenbrook darauf so umgehend, als reagierten sie im direkten Anschluss auf die Erzählinstanz ihrer eigenen Geschichte. Über soviel seelische wie körperliche Nähe müssen sie eine Weile nachdenken; und tatsächlich lassen sich aus dieser nur referierten Sequenz um Kai Graf Mölln mehrere Gedankengänge weiterführen. Ob man aber das Verhältnis der beiden Jungen vorrangig als homoerotisches deutet, als Seelenverwandtschaft und empfindsame Freundschaft oder als Gegenmodell zum erkalteten Umgang der Familienmitglieder der Buddenbrooks untereinander: Alle Deutungen basieren auf einer Gefühlstiefe des kleinen Kai, der sicher keine Scherbe von Andersens Zauberspiegel im Auge oder gar im Herzen trägt. Selbst wo die Sprache des Künstlers als ‚kalt‘ bezeichnet werden kann, wird seine Person als emotional und warm dargestellt.

4. Gefühlstiefe und Ironie: Ein romantisches Erkenntnismodell

Steht nun aber die Ironie in seinem Sprechen in der Schulszene dazu im Widerspruch? Ein Blick auf die dritte Erzählung Kais, von der der Leser der „Buddenbrooks“ erfährt, lässt erkennen, wie sich Einfühlsamkeit und Ironie vereinbaren lassen und wie sich dies wiederum auf Bestimmungen der Literatur und des Dichters in der Romantik verweist. Denn Gefühlstiefe lässt sich schließlich auch in Kais Schreibstil erkennen. Sein literarisches Debüt ist „geschrieben in einer innerlichen, deutsamen, ein wenig überschwänglichen und sehnsüchtigen Sprache von zarter Leidenschaftlichkeit…“. Beschrieben wird wiederum ein Märchen – der werdende Dichter ist seinem Lieblingsgenre treu geblieben. Die Erzählinstanz verrät wenig über den Inhalt dieses ersten niedergeschriebenen Märchens, in dem „Alles in einem dunklen Schein erglühte, das unter Metallen und geheimnisvollen Gluten in den tiefsten und heiligsten Werkstätten der Erde und zugleich in denen der menschlichen Seele spielte, und in dem die Urgewalten der Natur und der Seele auf eine sonderbare Art vermischt, gewandt, gewandelt und geläutert wurden“.

Er abstrahiert und interpretiert den Text. Trotz der indirekten Wiedergabe und der Abstraktion werden aber auch hier Vorbilder erkennbar: Das in der Romantik beliebte Motiv des Bergbaus, wie es sich bei Ludwig Tieck oder E.T.A. Hoffmann findet, wird aufgenommen. Besonderes Vorbild – weil mit der Entwicklung eines Dichters verknüpft – ist Novalis’ „Heinrich von Ofterdingen“. Heinrich erfährt seine dichterische Berufung in den ‚tiefsten und heiligsten Werkstätten der Erde‘. Und sein Dichtervater Klingsohr erzählt ein Märchen von den Metallen, das bei Kai ebenfalls deutlich anklingt. Wie in Kais literarischem Debüt mischen sich bei Novalis unter der Erde Natur und Seele. Hier findet sich auch die Schwelle zur Erkenntnis und damit der Zugang zur utopischen anderen Welt. Das Seelische wird in die Motivebene aufgenommen, wird zum Handlungsort und zum Ort der Genese des Schriftstellers. Hier verbinden sich Reflexion und Gefühl, denn philosophischen Erkenntnissen liegt nach frühromantischer Konzeption das Gefühl immer zugrunde: Gefühl und Reflexion sind in den philosophischen wie poetologischen Schriften der Frühromantik keine Gegensätze, sondern nur in Verbindung denkbar, wie Novalis in den „Fichte-Studien“ betont: „Wir müssen überall auf die Synthese des Gefühls und der Reflexion stoßen, der nichts mehr entgegengesezt wird und werden kann.“ Das gilt insbesondere für den Schriftsteller. Noch einmal sei hier an Novalis’ „Ofterdingen“ erinnert. Dort vereint Poet Klingsohr beide Seiten, indem er nicht nur Heinrichs Dichtervater wird, sondern gleichzeitig auch leiblicher Vater von Heinrichs ‚blauer Blume‘ Mathilde und damit der „Vater der Liebe“ ist.

Die Bedeutung des Fühlens für die Erkenntnis und für das Schreiben wird gerade bei Novalis und Fichte ausführlich und komplex abgehandelt, so dass die Darstellung hier verkürzend bleiben muss. Der Fokus soll sich nun zurück auf Thomas Mann richten. Denn im Konzept eines Zusammenspiels von Gefühl und Reflexion und der besonderen Bedeutung der Literatur für eine Erkenntnis in diesem Sinne treffen sich durchaus frühromantische Poetik und Thomas Manns Ideen von Dichtung. Das lässt sich in seiner Gleichsetzung von Interesse des Schriftstellers und Liebe erkennen, wie er sie in den „Betrachtungen eines Unpolitischen“ formuliert: „Erkennende Hingabe, hellsichtige Liebe, – das ist Passion“.

Gefühl und Erkenntnis gehören auch für Thomas Mann zusammen. Und darauf basiert wiederum das schriftstellerische Interesse, wie es Thomas Mann weiter ausführt: „Der intellektuelle Name für ‚Liebe‘ lautet ‚Interesse‘, und der ist kein Psycholog, der nicht weiß, daß Interesse einen nichts weniger als matten Affekt bedeutet,– vielmehr einen, der zum Beispiel den der ‚Bewunderung‘ an Heftigkeit weit übertrifft. Es ist der eigentliche Schriftsteller-Affekt […].“

Das Erkennen des Poeten findet seine Basis also per se im Gefühl. Thomas Mann erklärt die Erkenntnis zur dichterischen Form der Liebe. Damit bleibt das Modell von Dichtung bei diesem angeblich so ‚kalten Künstler‘ das einer affektbesetzten, sogar ‚warmen Kunst‘ – und es ist gleichzeitig zutiefst romantisch. Mit eben diesem „[angespannten] Interesse“ befragt Kai seinen Freund Hanno. Denn wie Thomas Mann weiß auch Kai, dass die Leidenschaft des Künstlers hellsichtig sein muss. Das Interesse geht also einher mit Zuneigung zu seinem Freund und mit einem großen Aufmerksamkeit auf die Psychologie, wie Kais erstes schriftliches Werk zeigt, das in den ‚heiligsten Werkstätten der menschlichen Seele‘ spielt. Auch in dieser Hinsicht entspricht Kais Poetologie durchaus der seines Schöpfers: In seinem zweiten Notizbuch verrät Thomas Mann, der Schriftsteller sei „von Geburt und Bildung ein ausschließlicher und fanatischer Psychologe“. Das Erforschen des menschlichen Gefühls, die Psychologisierung der Kunst findet sich so auch bei Novalis, nämlich im „Fragment 553“, das hier noch einmal zitiert sei: „Poësie ist Darstellung des Gemüths – der innern Welt in ihrer Gesamtheit.“

So viel Romantik in einer so positiv präsentierten Figur mag verwundern, bedenkt man, dass Thomas Mann selbst den Begriff ‚romantisch‘ negativ konnotiert. Hans Wißkirchen zeichnet in seinem Aufsatz „Thomas Manns Zauberberg. Die Selbstüberwindung der Romantik im Roman“ nach, wie die Romantik hier noch einmal heraufbeschworen wird, um sie als Vergangenheit ins Neue zu integrieren. Letztlich aber fordere Thomas Mann in seinem Roman die Überwindung der romantischen Haltung. Tatsächlich ist Thomas Manns Romantik-Begriff mit den Dimensionen der Todessehnsucht, der Melancholie und des Verfalls besetzt. Dies widerspricht nur scheinbar der durchweg positiven Darstellung des kleinen Grafen Mölln, der als Romantiker so affirmativ gezeichnet wird. Die zu überwindende Art der Romantik kommt auch in den „Buddenbrooks“ vor, entspricht jedoch der Haltung Hannos. Hanno und Kai repräsentieren zwei sehr unterschiedliche Begriffe von Romantik. Hanno, der tatsächlich Todessehnsucht formuliert: „Ich möchte schlafen und nichts mehr wissen. Ich möchte sterben, Kai!“, verkörpert eine Art von Romantik, wie sie Hans Castorp im „Zauberberg“ überwinden muss. Doch damit steht er eher in der Tradition spätromantischer Lieder, vor allem aber der Rezeption und Deutung romantischer Werke als todessehnsüchtig. Die Todessehnsucht Hannos scheint romantisch, ist aber faktisch eher ein Derivat einer romantischen Idee. Sie ist allerdings das, was Thomas Mann unter ‚Romantik‘ versteht – und er folgt damit einem in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts durchaus populären Verständnis des Begriffs.

Der Grund für Hannos Schlaf- und Todessehnsucht ist, dass er ‚nichts mehr wissen‘ möchte. Die Frühromantiker hingegen entwerfen Schlaf und Tod als Gegenwelten mit Erkenntnispotential. Todessehnsucht ist ein Denkmodell, das eine neue Dimension von Hellsichtigkeit in der Transzendenz anstrebt. Novalis’ 6. „Hymne an die Nacht“ mit dem Titel „Sehnsucht nach dem Tode“, die in diesem Kontext gern zitiert wird, bezeugt vorrangig Sehnsucht nach dem Erschauen der Geliebten und Sehnsucht nach Offenbarung. Die Nacht, der Tod, der Schlaf, der Traum sind Mittel der Erschließung der Welt durch ein ‚Hinabtauchen‘ in die eigene Seele, das Gemüt. (Sie sind bei Novalis zudem verknüpft mit dem Bild der Mutter, also der Neuschöpfung des Lebens.) Hanno jedoch nimmt die Allegorie der Todessehnsucht wörtlich und entfernt sich damit vom zwar gesellschaftskritischen aber lebensbejahenden Kai. In dieser Hinsicht stehen sich die beiden Jungen polar gegenüber.

Denn Kais romantische Haltung erweist sich als erkenntnisorientiert. Dass romantisches Erzählen und Ironie sich in eben diesem Aspekt treffen, soll hier nur kurz anhand von Friedrich Schlegels ‚romantischer Ironie‘ erläutert werden. Die Parallelen sind offensichtlich: Dirk von Petersdorff macht in seiner Studie „Nietzsche und die romantische Ironie“ eine Traditionsreihe ironischen Erzählens auf, die von den Romantikern über Nietzsche zu Thomas Mann (und weiter zu Hans Magnus Enzensberger) läuft. Allen ist gemein, dass sie die Ironie als Mittel wählen, um eine komplexer werdende Wirklichkeit darzustellen und Zweifel an einer einzigen Wahrheit sowie Zweifel an der menschlichen Wahrnehmung literarisch umsetzen. Gerade die romantische Ironie steht so der vielzitierten ‚doppelten Optik‘ Thomas Manns sehr nahe.

Doch die Ironie der Romantiker kennt auch die Aufgabe der ironischen Haltung, der Distanz. Mit dem Begriff „Ironie der Ironie“ bezeichnet Schlegel in „Über die Unverständlichkeit“ diese Wendung. Sie ist in der Konsequenz des Ironiebegriffs zu verstehen: Wo verschiedene Sichtweisen Recht erhalten, da kann die Ironie nicht allein den künstlerischen Umgang mit der Welt bestimmen. Das distanzierende Lachen, die Skepsis in der Erkenntnis muss wiederum gebrochen werden oder ironisiert sich durch zeitweilige Ernsthaftigkeit selbst. Durch diese Wendung wird wiederum eine Art der doppelten Optik erzeugt. Ähnlich scheint es sich mit dem Blick auf Kai zu verhalten, wenn die Erzählinstanz in der Darstellung des jungen Romantikers die ironische Haltung aufgibt. Die doppelte Optik wird hier auf einer anderen Ebene, der extradiegetischen, ausgetragen. Und so schafft Kai in seiner Verzauberung der Welt einen Ausweg aus der Abwärtsbewegung des Verfalls auf gleich zwei Ebenen, nämlich innerfiktional durch seine Kunst und auf der Metaebene von „Buddenbrooks“ auch über den Roman hinaus. Diesen Ver- und Entzauberungen wird der letzte Abschnitt dieser Studie nachgehen.

5. Eine romantische Universalpoesie: Die metapoetische Ver- und Entzauberung

Kais Kunst entwickelt sich ganz im Sinne einer romantischen Universalpoesie prozesshaft und gattungsüberwindend, sogar in intermedialem Zusammenwirken mit Hannos Klavierspiel: „nun erzählst du mir ein bißchen von deinem Klavierspiel. Ich will nämlich jetzt etwas Wunderbares schreiben, etwas Wunderbares…“. Friedrich Schlegels Konzept einer Universalpoesie scheint hier gleich in mehrfacher Hinsicht zu tragen; er entwirft sie in seinem „Athäneums-Fragment 116“: „Die romantische Poesie ist eine progressive Universalpoesie. Ihre Bestimmung ist nicht bloß, alle getrennten Gattungen der Poesie wieder zu vereinigen, und die Poesie mit der Philosophie und Rhetorik in Berührung zu setzen. Sie will und soll auch Poesie und Prosa, Genialität und Kritik, Kunstpoesie und Naturpoesie bald mischen, bald verschmelzen, die Poesie lebendig und gesellig und das Leben und die Gesellschaft poetisch machen […]“. Das Prozesshafte, die Vereinigung der Gattungen, die Auflösung des Gegensatzes von Kunst und Natur, das Kritische der Kunst, besonders aber die Poetisierung der Welt scheinen in Kais Schaffen fast prototypisch abgebildet.

Kai betont nicht umsonst gerade das ‚Wunderbare‘ in der gemeinsamen Kunstproduktion: In Kais Kunst werden nicht nur innerhalb des Märchens „die dankenswertesten Entzauberungen und Erlösungen vorgenommen“. Novalis formuliert im Jahr 1800 in einem Brief an Friedrich Schlegel: „Der ächte Märchendichter ist ein Seher der Zukunft.“ In diesem Sinne überbaut Kai die mangelhafte Wirklichkeit mit seiner literarischen Märchenwelt, erdenkt in der Fiktion einen Ausweg. Der Ring verschafft Kai in seiner Erzählung einen Zugang zur Welt des Wunderbaren. In der Diegese der „Buddenbrooks“ schafft dasselbe die Poesie: Sie wird zum Zauberring Kais. Kai vollbringt es, durch sein Erzählen sich selbst und Hanno eine Überwindung des Alltags zu bieten. (Darin besteht neben der fehlenden Fundierung durch das Gefühl denn auch der zweite große Unterschied zu Verseschmied Hoffstede. Denn der passt seine literarischen Produkte klar der gesellschaftlichen Wirklichkeit an, bestätigt diese. Kais Märchen hingegen spiegeln die bessere Welt in ihrem guten Ende: in Befreiung von bösem Zauber und Unterdrückung.)

Eckhard Heftrich hebt in seinem zweiten Band „Über Thomas Mann. Vom Verfall zur Apokalypse“, hervor, dass Kai die einzige Figur ist, die den Verfall tatsächlich durchbricht, der „bereit und fähig ist zum Ausflug ins Reich der ästhetischen Freiheit, in die Welt der Kunst“. Er durchbricht sie aber eben nicht nur innerfiktional, sondern auch und gerade durch die ihm und seinem Schreiben inhärente metapoetische Funktion.

Die im Kunstmärchen so gern hergestellte selbstreflexive Wendung erfolgt in den „Buddenbrooks“ nicht in Kais eigenen literarischen Schriften, sondern erst auf der Metaebene. Als Vorbild benennt Kai Graf Mölln Edgar Allen Poes „Der Untergang des Hauses Usher“. Ihm entfährt der Stoßseufzer: „Wenn ich jemals eine so gute Geschichte schreiben könnte!“ Über die Thematik des Untergangs verknüpfen sich seine Lektüre und der Roman „Buddenbrooks. Verfall einer Familie“. Eberhard Lämmert spekuliert, dass Kai später einmal die Geschichte der Buddenbrooks schreiben werde. Eine besondere Art der metapoetischen Wende wird hier durch den Erzähler angedeutet. Mit dieser romantischen Erzählform der ‚mise en abyme‘ (und damit der romantischen Ironie) stellt sich zuletzt die Erzählinstanz auch in der narrativen Strukturierung des eigenen Romans auf die Seite des Frühromantikers Kai Graf Mölln und schafft, um es mit Friedrich Schlegels „Athäneums-Fragment“ Nr. 238 zu sagen, „zugleich Poesie und Poesie der Poesie“.