Das Leben ist besser als sein Ruf

Arno Geiger plädiert in seinem neuen Roman „Alles über Sally“ für die Liebe als lebenslange Anstrengung

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Drei Ehejahrzehnte liegen hinter den Finks. Man hat sich gestritten und wieder versöhnt, drei Kinder großgezogen und ein Haus gebaut. Sie, Sally, ist Lehrerin, er, Alfred, Kurator. Das Paar lebt am Wiener Stadtrand und besitzt durchaus die Mittel, sich sein Dasein so einzurichten, dass kaum Wünsche übrigbleiben. Wenn da nicht Alfreds fleischfarbener Stützstrumpf wäre, den Sally als Signal dafür nimmt, dass die ganz große Abenteuerlust ihren Mann inzwischen verlassen hat, wenn sie denn überhaupt je zu seinen hervorstechenden Eigenschaften zählte. Aber muss das unbedingt bedeuten, dass auch sie mit all ihrer überschäumenden Freude am Dasein und und noch etlichen bis dato ungestillten Begierden nun kürzer zu treten hat? Mit lächerlichen 52 Jahren? Fit wie ein Turnschuh sozusagen und noch lang nicht alt? Nein, beschließt Sally, und weil es gerade passt, lässt sie sich auf ein Abenteuer mit einem Freund der Familie ein. Der löst ihr Problem allerdings nur so lange, bis er selber zu einem wird.

Arno Geiger (Jahrgang 1968) hat sich nach seinem mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichneten Generationsroman „Es geht uns gut“ (2005) auf das Terrain begeben, auf dem man über Jahrzehnte hinweg John Updike (1932-2009) als Platzhirsch bewundern durfte. „Alles über Sally“ ist – ganz in der Manier des großen amerikanischen Autors – ein Eheroman, der über die Beschreibung der Irrungen und Wirrungen zwischen zwei Menschen an den Puls des großen Ganzen kommen will. Verallgemeinern soll der Leser unterm Strich das können, was ihm die Figuren des Buches exemplarisch vorleben, um so Antworten zu bekommen auf die Fragen: Wie tickt unsere Zeit? Welchen Werten leben die Menschen nach? Was hat heute noch Gültigkeit, was ist veraltet?

Geiger genügt zu diesem Vorhaben der zeitliche Rahmen eines knappen halben Jahrs. Der Roman setzt im Sommer 2008 ein und schließt in den Tagen zwischen Weihnachten und Neujahr. Genug Zeit, um alle Höhen und Tiefen einer in die Jahre gekommenen Beziehung zu durchmessen. Wobei die Tiefen eindeutig die Gegenwart dominieren, die Höhen dagegen im längsten Romankapitel in Form einer Rückschau auf den Beginn der Beziehung ins Auge gefasst werden. Und weil man sich in Kairo über den Weg lief, wo Alfred sich für europäische Museen auf der Jagd nach historischen Schätzen aufhielt, während Sallys am österreichischen Kulturinstitut tätig und ihre Schönheit sprichwörtlich war, ergreift der Österreicher Geiger natürlich gern die Gelegenheit zu einer kakanischen Nummernrevue der Extraklasse. Allein was man als Fan der langen Tradition des Grantelns mit großer Freude liest, steht trotzdem seltsam isoliert in diesem Roman herum und hätte als Stoff für einen selbständigen Text mehr hergemacht.

In der Gegenwart jedenfalls, um auf die zurückzukommen, müssen Alfred und Sally nach einem leicht verunglückten Wanderurlaub in Yorkshire – der Ehemann und seine schmerzenden Krampfadern sind es natürlich, die der unternehmungslustigen Gattin die Pilgertour ans Grab von Sylvia Plath in Heptenstall vergällen – sich der Situation stellen, dass in der Zwischenzeit Einbrecher ihr Haus ausgeraubt haben. Für Alfred ist das die blanke Katastrophe, eine Beschädigung seines Innersten, Intimsten. Denn die Diebe haben sich keineswegs damit zufrieden gegeben, mitzunehmen, was ihnen gefiel, sie haben auch das, was notgedrungen zurückbleiben musste oder nur geringes Interesse zu erwecken vermochte, auf immer unbrauchbar zu machen versucht. Und so sieht man Sally bald mit Farbe und Pinsel im Haus unterwegs, während der emsige Diarist an ihrer Seite all die Stellen in seinen vielen Tagebuchbänden melancholisch kopiert, auf denen die Vandalen ihre Spuren hinterlassen haben. Restaurieren versus Neubeginnen, Rückzug contra Aufbruch – es sind zwei exemplarische Haltungen in Krisenzeiten – und hier erscheinen sie, indem sie in zwei Wesen hineinverlegt werden, die durch den Rahmen einer Ehe miteinander verbunden sind, umso widersprüchlicher.

Denn was hält Sally bei Alfred und umgekehrt? Ihre Temperamente sind kaum in Übereinstimmung zu bringen. Während Alfred vor allem Unerwarteten kapituliert, heißt es über seine Frau an einer Stelle: „Sally hingegen jammerte, wenn alles vorhersehbar war und sich Veränderungen Wochen und Monate im Voraus ankündigen mussten, um willkommen zu sein. Diese Art Leben versetzte sie in Panik, jedenfalls von Zeit zu Zeit.“

Doch spätestens die Affäre mit dem etwas jüngeren Erik belehrt sie auch, dass Vorhersehbarkeit durchaus ein Wert zu sein vermag in einer Beziehung. Während die neue Liebe nämlich nur allzu bald in einer bösen Überraschung gipfelt, verharrt der Protagonist der alten weiterhin unverdrossen auf seinem Posten und freut sich über jede Art der Zuwendung. Dass es nicht nachlassender Anstrengungen bedarf, um eine Beziehung über die Strecke eines ganzen Lebens zu bringen, haben sowohl Alfred wie Sally am Ende begriffen. Dass es sich lohnen könnte, ganz gegen den offensichtlichen Trend unserer Zeit, der für den sofortigen Abbruch von Experimenten votiert, sobald diese schiefzugehen drohen, ist so etwas wie die heimliche Botschaft an den Leser. Denn auch wenn der eine zwei negative Eigenschaften besitzt und der andere zwei positive – zusammen haben sie dennoch vier.

„Alles über Sally“ ist ein wunderbar leichter Roman über ein schweres Thema. Wer will, der mag sich an dem literarischen Anspielungsreichtum erfreuen, der ihn auch kennzeichnet. Da darf man dann – mal mehr, mal weniger versteckt – auf Samuel Beckett, Bernhard und Henry Miller stoßen, Ideen von Michel Houellebecq begegnen oder dem berühmt-berüchtigten stream of consciousness, wie ihn James Joyce im Kopfe seiner Molly Bloom inszeniert hat, in einer etwas abgespeckten Version wiederbegegnen. Man kann sich aber auch einfach – die großen Eheromane und Dramen von Leo Tolstoi bis Henrik Ibsen, August Strindberg bis Gustave Flaubert, Theodor Fontane bis John Updike links liegen lassend – der Gegenwärtigkeit des Themas und dem Witz, mit dem es von Geiger behandelt wird, überlassen. Und wird dabei viel zu lachen und eine ganze Menge nachzudenken haben.

Einen kleinen, giftigen Wortwechsel aus dem ersten Kapitel versteht man jedenfalls am Schluss ein wenig anders. Da beharrt der behäbige Alfred mit dem Satz „Überall auf der Welt gibt es Leute wie uns.“ auf seinem Recht, sich altersgemäß ein wenig hängenzulassen. Und Sally erwidert: „Hoffentlich nicht!“ Sie ist voll Zorn in diesem Augenblick, weiß man, wünscht sich weg aus einer Beziehung, die sie ausbremst, und allen anderen das Glück, sich gar nicht erst in eine solche Katastrophe zu verstricken. Hat man das Paar dann allerdings über fast 400 Seiten begleitet, will die Passage – so man denn noch einmal zu ihr zurückfindet – sich plötzlich positiver anhören. „Hoffentlich nicht!“ bezieht sich nun für den durch die Höhen und Tiefen der Ehe der Finks Mitgegangenen auf die Einmaligkeit dieser, ja jeder Beziehung. Und darin begründet sich letztlich auch deren Existenzrecht über den Tag hinaus. Alfred und Sally haben das am Ende begriffen und bleiben zusammen. Was keinem von beiden in Zukunft wohl großen Schaden zufügen dürfte.

Titelbild

Arno Geiger: Alles über Sally. Roman.
Carl Hanser Verlag, München 2010.
363 Seiten, 21,50 EUR.
ISBN-13: 9783446234840

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