Von deutscher Republik

Alexander Gallus und die „Die vergessene Revolution von 1918/19“

Von Daniel KrauseRSS-Newsfeed neuer Artikel von Daniel Krause

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Im Ganzen dürfte […] der Befund einer festgefahrenen Revolutionsforschung nicht von der Hand zu weisen sein. Die der Revolution selbst zugewiesenen Attribute treffen, so mag es zumindest scheinen, […] in gleichem Maße auf die dazugehörige Historiographie zu: steckengeblieben und halbherzig betrieben. Die deutsche Revolution von 1918/19 konnte sich weder im nationalen kulturellen Gedächtnis noch in der Zeitgeschichtsschreibung einen festen Platz sichern.“ So Alexander Gallus, der Herausgeber des Buches, im Vorwort. Teils trifft es zu: Im „nationalen kulturellen Gedächtnis“ der Deutschen spielt die Novemberrevolution, mithin die Gründung einer ersten Republik und vollgültigen Demokratie, keine herausgehobene Rolle. Dies ist umso mehr zu bedauern, als solche kollektive Vergesslichkeit der weit verbreiteten, doch irrigen Auffassung Vorschub leistet, eine (erfolgreiche) Revolution habe auf deutschem Boden nie stattgefunden. So gesehen ist jede Buchveröffentlichung, wenn sie die Sache der „vergessenen Revolution“ ins Bewusstsein hebt, zu begrüßen. (Dass die Novemberrevolution, wie Alexander Gallus schreibt, auch in der Zeitgeschichtsforschung vernachlässigt wird, ist gleichwohl eine – rhetorisch nützliche – Übertreibung.)

Wie weit die „vergessene Revolution“ in die Gegenwart reicht, wird mit Gallus’ eigenem Beitrag zum Sammelband deutlich. Noch heute bestehen seitens der deutschen Sozialdemokratie Unsicherheiten, wie mit dem Erbe von 1918/1919 umzugehen sei. Da gibt es einerseits die ‚Friedrich-Ebert-Stiftung‘ als deutliches Bekenntnis zur Politik der Mehrheitssozialdemokratie in den Revolutionsjahren. Andererseits besteht ein ausgeprägtes Unbehagen am Bündnis Friedrich Eberts und Gustav Noskes mit Militär und Freikorps, die den Aufstand der extremen Linken, so im Januar 1919, blutig niederschlugen und Gräuel wie die Ermordung Rosa Luxemburgs und Karl Liebknechts zu verantworten hatten. Es scheint, Verdienst und Verbrechen der Sozialdemokratie sind unentwirrbar ineinander verstrickt: ein tragisches, mindestens aber ambivalentes Erbe. Zur erinnerungspolitischen Affirmation scheint es wenig geeignet – anders als Rosa Luxemburgs ‚Märtyrertum‘, das immer seltener mit dem Hinweis auf Luxemburgs kommunistische Sache ergänzt wird, die gewiss keine im heutigen Verstande ‚demokratische‘ war. Angesichts solcher Verwirrung konnten bizarre Gedenk-Konjunkturen florieren: „Während die Berliner SPD Ende der achtziger Jahre […] die eigene historische Rolle insgesamt eher verschämt bis kritisch würdigte, gedachte stattdessen […] Eberhard Diepgen von der CDU […] offensiv des 70. Jahrestages der Republik-Ausrufung. Friedrich Ebert […] sei es zu danken, wenn die junge Republik sich nach Westen orientierte, wenn sie die Gewaltenteilung der Diktatur des Proletariats vorzog.“ Dass es Diepgen – gewiss kein Feuerkopf und Querdenker der CDU – überlassen bleibt, einer der größten Leistungen der Sozialdemokratie zu gedenken, muss als Treppenwitz der Geschichte angesehen werden.

Die zeitlichen Grenzen der Revolution sind umstritten. Während Gallus die marktgängige Rede von einer deutschen Revolution der Jahre 1918/1919 aufnimmt, behauptet Axel Schildt einen Forschungskonsens, wonach „die Linkswendung einer zeitweise immerhin beträchtlichen Minderheit der Arbeiterschaft […], die bewaffneten Kämpfe um die Räterepubliken von München und Bremen des Jahres 1919, in Mitteldeutschland und im Ruhrgebiet bis zum Frühjahr 1920, als ‚zweite Phase‘ der Revolution zu gelten hat […].“ Es „wäre zu überlegen, ob […] der revolutionäre November zeitlich noch weiter auszudehnen wäre. Zum ersten gab es revolutionäre Aktionen […] noch bis zum Herbst 1923; zum zweiten wird dieser Endpunkt ansonsten auch für den Abschluss der ersten Phase der Weimarer Republik […] genannt […]; zum dritten und wichtigsten aber lässt nur eine Betrachtung dieses längeren Zeitraums jenen Lernprozess erkennen, in dessen Verlauf eine Konterrevolution sans phrase schließlich von einer neuartigen ‚nationalsozialistischen‘ Massenbewegung abgelöst wurde. Das Ausblenden dieser Seite würde eine Revolution ohne Kontext, ohne Verbindung zum weiteren 20. Jahrhundert konstruieren.“

Einige Aufsätze sind sattsam bekannten Problemen gewidmet, die gleichwohl unter originellen Gesichtspunkten dargestellt werden. Dies trifft auf Boris Barths Einlassungen zu, die eine Vorgeschichte zur „Dolchstoßlegende“ erzählen, und gedanklich wie sprachlich mit ihren zielsicher platzierten Pointen zum Elegantesten des Bandes zählen: „Vor allem im protestantischen preußischen Milieu war der Krieg zu einem Glaubenskrieg hochstilisiert worden […]. In einer spezifisch ausgeformten Kriegstheologie war eine deutsche Niederlage häufig als unmöglich erklärt worden, weil dann die Weltgeschichte ihren Sinn verlieren würde. […] Eine Niederlage war nur als globale spirituelle Katastrophe denkbar.“ Barth trägt nicht wenige treffende Aperçus zusammen, die allein die Lektüre rechtfertigen würden. So heißt es über Erich Ludendorffs Gebaren in den letzten Wochen des Kriegs: „So viel ich weiß, hat es in der Weltgeschichte keinen einzigen Fall gegeben, in dem ein geschlagener Feldherr oder General nach einem verlorenen Krieg sich selbst öffentlich die Schuld für die Niederlage gegeben hat. Zwar wurden gelegentlich einzelne Fehler zugegeben, aber die primäre Verantwortung trugen stets andere.“

Manche Beiträge wollen vernachlässigtes Terrain erkunden. Dies gilt zumal für Kathleen Cannings Aufsatz über die Einführung des Frauenwahlrechts, der sich sprachlich von den im Original deutschen Artikeln nachteilig abhebt. Dass Frauen zum ersten Mal in der deutschen Geschichte mit vollem Bürgerrecht versehen werden, ist ein moralischer Triumph sondergleichen, der dennoch ein Schattendasein in der öffentlichen und wissenschaftlichen Erinnerung fristet. Cannings Betrachtungen richten sich auf die vielerlei Schwierigkeiten bei der Implementierung von ‚Gleichheit‘.

Die Beiträge, neun an der Zahl, sind wenig kongruent, vielmehr bemerkenswert verschiedenartig in der Form wie im Beweisziel. (Dies ist der schönste Vorzug eines Formats, das sich schnöde ‚Sammelband‘ nennt.) Im Vorübergehen fällt manches fahle Licht auf die Konservativen Revolutionäre, die jüngst viel Aufmerksamkeit finden: „Bismarck wurde zwar hochgehalten, aber die wilhelminische Gesellschaft galt den Konservativen Revolutionären bereits als liberalistisch infiziert und den Anforderungen des Weltkriegs demgemäß nicht gewachsen“ (Axel Schildt). Auch werden Forschungsdesiderate benannt. Michael Geyer weist darauf hin, dass der polnische Aufstand um Posen (1919) in mehrerlei Hinsicht für deutsche Geschichte bedeutungsvoll ist, aber bis heute keine „quellengesättigte[n] Darstellung“ gefunden hat.

Lothar Machtans Wortmeldung zum „erstaunlich lautlosen Untergang von Monarchie und Bundesfürstentümern“ zeigt sich besonders pointiert und meinungsfreudig. Machtan stellt fest, die deutschen Monarchien seien vom Gottesgnadentum durchdrungen und intransigent gegen parlamentarische Regierungsformen gewesen. Gerade deshalb mussten sie am Weltkrieg schuldig erscheinen: „Auch in den einzelstaatlichen Monarchien waren die Souveräne […] haltlos geworden, weil die Volksbewegung sie mitverantwortlich für die Misere machte, die 1918 überall in Deutschland zum Himmel schrie. Von Vertrauen in die Fähigkeit dieser Autoritäten, ihrem Volk noch Sicherheit und Halt geben zu können, konnte keine Rede mehr sein.“

Machtan spitzt seine Thesen aufs persönliche Versagen aller deutscher Monarchen zu, denen durchwegs „eigenes Verdienst“, „Charisma“ und „Prestige“ gebrach, sodass die Monarchie in Deutschland nicht fortbestehen konnte. Zudem wird Naivität und Kleinmut der gekrönten Häupter geltend gemacht: „Dass das eigene Volk sie […] beiseitegeschoben […] hatte, das konnten und wollten sie einfach nicht glauben. Und doch war das Unmögliche möglich geworden: Die spontane Idee der Republik hatte die für unsterblich erachtete monarchische Idee vernichtet.“

Hier tragen „spontane Ideen“ und Mängel des Intellekts wie Charakters eine schwere Beweislast. Machtans ungeniert aufs Persönliche zielende, gleichsam voluntaristische Sicht kann jedenfalls provozieren. Auch seine Schlussbemerkung hat es in sich. Sie steht dem Anschein nach quer zu vielem anderen in diesem Band: Dem „Systembruch“ von 1918/1919 habe kein „dezidiert politischer Willensakt zugrunde“ gelegen, die Weimarer Republik sei „nicht zuletzt die hastige Abwicklung eines Schadensfalles“ gewesen, „auf den die Reparateure […] weder intellektuell noch emotional und auch psychisch nicht vorbereitet waren. Sie ist ihnen einfach ‚passiert‘, selbst der programmatisch erzrepublikanischen Sozialdemokratie.“

Weimar als „Betriebsunfall“ der Geschichte: Eine exzentrische Sicht, in teils mokanten Worten vorgebracht – selbst nach dem Maß dieses Bandes, der nicht wenige polemisch und essayistisch angehauchte Passagen enthält. Bei genauerer Betrachtung nehmen sich Machtans Darlegungen jedoch weniger abseitig aus: Wenn Einigkeit zwischen den neun Beiträgern herrscht, so darin, dass die Novemberereignisse durchaus revolutionären Charakter aufweisen und folglich durch deutsche Vergangenheitspolitik zu würdigen wären, aber durch ein Gepräge der Plötzlichkeit und eilige Herrschaftskompromisse alt-neuer Eliten den Deutschen wie nachwachsenden Generationen von Forschern mancherlei Rätsel aufgeben, die – so beim verehrungswürdigen, doch Übertreibungen stets zugeneigten Sebastian Haffner („Die verratene Revolution“, 1969) – zumindest höchst einseitige Einschätzungen herausfordern. Eine Revolution wie diese hat es zuvor und danach – im weltgeschichtlichen Maßstab – höchst selten gegeben, niemals vielleicht. Auch aus diesem Grunde verdient „Die vergessene Revolution“ gesteigerte Aufmerksamkeit.

Titelbild

Alexander Gallus: Die vergessene Revolution von 1918/19.
V&R unipress, Göttingen 2009.
244 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783525363867

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