Sexuelle Klammern

Ortrud Gutjahr hat einen Band über Michael Thalheimers Inszenierung von Arthur Schnitzler „Reigen“ herausgegeben

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Unlängst feierte die von Ortrud Gutjahr herausgegebene Reihe „Theater und Universität im Gespräch“ ein erstes kleines Jubiläum: Ihr zehnter Band erschien. Ebenso wie die meisten der früheren Publikationen gilt auch dieser der Inszenierung eines Bühnenstücks am Hamburger Thalia Theater. Nachdem bisher unter anderem „Nora“ und „Hedda Gabler“ von Henrik Ibsen, Heinrich von Kleists „Penthesilea“, Elfriede Jelineks „Ulrike Maria Stuart“ sowie die Fassungen des „Iphigenie“-Stoffes von Euripides und Goethe betrachtet und analysiert wurden, gilt der neue Band mit Arthur Schnitzlers „Reigen“ nach Wedekinds „Lulu“ wiederum einem Skandalstück der Moderne. Damit wurde einmal mehr eine Inszenierung von Michael Thalheimer ausgewählt, der von den Beitragenden mit Lob für seine Aufführung geradezu überschüttet wird. Wolfgang Lukas etwa findet Thalheimers „brillante Regieidee kongenial“.

Wie die meisten Bände der Reihe wird auch der vorliegende mit einem „Überblick zur Werk- und Aufführungsgeschichte“ des Stückes eröffnet. Ihm folgt ein Beitrag der Herausgeberin, die unter dem Titel „Zirkulationen der Triebangst“ analysiert, wie „radikal“ Thalheimers Inszenierung mit den bisherigen Aufführungen bricht, in denen sich die im Text durch Striche markierten Kopulationen der einander im Reigen vereinten Figuren „allenfalls in der Vorstellung der Zuschauer ereignet[en]“, und fragt, was es für das Stück bedeutet, „[w]enn die Dialoge nicht mehr zur Grenze des Unsprachlichen, Undargestellten hinführen“, sondern die Figuren auf der Bühne noch während der Dialoge „in eine sexuelle Verklammerung der Körper getrieben“ werden.

Ursula Keller entdeckt in Schnitzlers „gnadenlos genaue[m] Meisterwerk“, das nicht nur einer seiner „gelungensten und gesellschaftlich aufschlussreichsten Theatertexte“ sondern auch sein „modernste[r]“ sei, einen „Danse Macabre und sieht in Thalheimers Aufführung „konsequent die latente Gewalt und Grausamkeit der Spiele bloß[gelegt]“.

Nicht alle Beitragenden stellen Thalheimers Inszenierung in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen. Gunilla Bude beleuchtet die „[b]ürgerliche[n] Vor-Stellungen von Liebe und Leidenschaft um 1900“, ohne auf die Inszenierung einzugehen, und Benigna Gerisch beschränkt sich in ihren „[p]sychoanalytischen Anmerkungen zur weiblichen und männlichen Triebhaftigkeit“ auf einige beiläufige Bemerkungen.

Wolfgang Lukas wiederum liest den „Reigen“ als „‚Kulturgeschichte‘ der Geschlechter“ und nimmt „das Verhältnis von ‚Natur‘ und ‚Kultur‘ im Hinblick auf die Geschlechter und deren Inszenierung“ in den Blick. Ihm zufolge zeigt Schnitzler, dass Sexualität „alles andere denn lediglich ein ‚natürlich-triebhafter’ Akt ist“. Dem ist zweifellos zuzustimmen. Warum dies aber „auch und gerade“ für „illegitime Sexualität“ gelte, will nicht so recht einleuchten. Ebenso, dass die „Anklage des Stubenmädchens“, die Männer seien schlecht, von dem Stück „kaum bestätigt“ werde, sondern in ihm „[b]eide Geschlechter“ vielmehr „stets Täter und Opfer des jeweils anderen Geschlechts“ seien. Weit überzeugender ist da Ruth Klügers (von Lukas nicht berücksichtigte) Lesart, die vor einiger Zeit im „Reigen“ ein „geradezu feministisch[es]“ Stück erkannte.

Zwei Diskussionsrunden ergänzen die Beiträge. Beschlossen wird der Band von einem Gespräch zwischen Sonja Anders und Michael Thalheimer.

Titelbild

Ortrud Gutjahr (Hg.): Reigen von Arthur Schnitzler. Sexuelle Szene und Verfehlung in Michael Thalheimers Inszenierung am Thalia-Theater Hamburg.
Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2009.
184 Seiten, 10,00 EUR.
ISBN-13: 9783826042171

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