Moralischer Elendsbericht

Bielefelder Soziologen legen die achte Folge „Deutsche Zustände“ vor

Von Daniel KrauseRSS-Newsfeed neuer Artikel von Daniel Krause

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wilhelm Heitmeyer steht einem „Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung“ an der einstigen Reform-Universität zu Bielefeld vor. Dort wird seit 2002 eine „Langzeituntersuchung“ zu „Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit“ in Deutschland angestellt, kofinanziert durch die Volkswagen-Stiftung. Besagtes „Syndrom“ umfasst „Rassismus, Antisemitismus, Fremdenfeindlichkeit, die Abwertung von Obdachlosen, Homosexuellen, Behinderten und Langzeitarbeitslosen, die Einforderung von Etabliertenvorrechten sowie Islamophobie und Sexismus“.

Statistische Grundlage sind Interviews mit jährlich 2.000 „repräsentativ ausgewählten“ Personen. Die Ergebnisse der Untersuchung werden in Bänden der edition suhrkamp und in Artikeln der „Zeit“ niedergelegt. Besonders wenn die Kluft zwischen Ost- und Westdeutschen oder Mordtaten Rechtsradikaler thematisiert werden, ist Heitmeyers Forschungen breite Aufmerksamkeit sicher. Nun ist die achte Folge „Deutscher Zustände“ erschienen, ein Konvolut aus zwei Dutzend Beiträgen von insgesamt 300 Seiten, lose gegliedert in fünf Sektionen.

Die erste Sektion ist „Das Problem“ überschrieben. Sie gilt der Weltwirtschaftkrise samt deren gesellschaftlichen Folgen, zumal wo sie „Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“ betreffen. Heitmeyer schlägt einen weiten Bogen von der ‚neoliberalen‘ Deregulierungspolitik à la Margaret Thatcher und Ronald Reagan – und deren Folgen für Lohnentwicklung und Finanzmärkte – zur aktuellen Krise, deren materielle und mentale Wirkungen auf die deutsche Bevölkerung anhand statistischen Materials gründlich dargestellt werden. Heitmeyers Fazit besagt, die einst durch Jürgen Habermas konstatierte „neue Unübersichtlichkeit“ habe sich deutlich verstärkt, weil durch die Krise „zahlreiche bisher geltende ‚Spielregeln‘ ökonomischer, politischer und sozialer Art“ ihre Geltung verloren hätten. Verstärkte „Menschenfeindlichkeit“ sei vorerst nicht festzustellen, Entwarnung könne aber nicht gegeben werden, da die Wirkungen der Krise auf Arbeitsmarkt und Staatshaushalt fürs Erste nicht überschaut werden könnten.

Die zweite Sektion ist „empirischen Analysen“ unter anderen zu „Ursachenzuschreibungen in Krisenzeiten“, „Antiamerikanismus“ und „Krisenbedingter Kündigung der Gleichwertigkeit“ gewidmet. Grundstürzend neue Erkenntnisse werden nicht generiert. Die Leistung des Autorenkollektivs ist vielmehr darin zu sehen, dass intuitive Gewissheiten des Laien mit wissenschaftlichen Mitteln ‚verifiziert‘ werden: Auch dies ist kein geringer Verdienst.

Waren die Beiträge zur „empirischen“ Sektion von jeweils zwei Autoren mit sozialwissenschaftlicher Prägung verfasst worden, tragen die „Fallgeschichten“ – etwa über „Hartz-IV-Kinder“ (Eva Müller) oder die „Abschaffung von Würde“ (Günter Wallraff) – die je individuelle Handschrift professioneller Journalisten. Ein Gleiches gilt für die vierte und fünfte Sektion – „Gefährliche menschenfeindliche Vorgänge“ in der schwach ausgebildeten, von rechts her bedrohten Zivilgesellschaft ostdeutscher Länder und „Politische Analysen zu Krisen und Demokratie“ –, die manches Urgestein der liberalen publizistischen Szene aufbieten, darunter Werner A. Perger („Die Zeit“) und den unermüdlichen Heribert Prantl („Süddeutsche Zeitung“). Der Gegensatz zu den ersten beiden Sektionen könnte drastischer nicht sein, als dramaturgisches Prinzip des Bandes erweist sich die Zweigleisigkeit: Zunächst wird sprödes Zahlenmaterial von Soziologen terminologisch kompromisslos interpretiert und durch zahlreiche Diagramme verbildlicht. Um eine breite Leserschaft zu binden, werden ergänzend journalistische Textsorten bemüht: Reportagen, Polemiken, Interviews. Solche Janusköpfigkeit ist ein selten erprobtes Verfahren der Wissenschaftsvermittlung. Gerade deshalb kann sie ihre Wirkung nicht verfehlen.

Eine zusammenfassende Charakterisierung des Bandes ist schlechterdings unmöglich – abgesehen von der trivialen Erkenntnis, dass „Deutsche Zustände“ einen wertvollen Beitrag zur Selbstverständigung dieser Gesellschaft und (nebenbei) zur Legitimation der Geisteswissenschaften bildet. Zu disparat sind die Beiträge: nach Sprachgestalt – zwischen Soziologenmandarin und journalistischer Schreibe –, thematischem Profil und gedanklicher Dichte. Solcher Vielfalt lässt sich zweifellos manches Gute abgewinnen: Für jeden Leser ist etwas dabei, das Freude (der Erkenntnis) bereitet. Vor allem aber solches, das verstört.

Titelbild

Wilhelm Heitmeyer (Hg.): Deutsche Zustände. Folge 8.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2010.
320 Seiten, 15,00 EUR.
ISBN-13: 9783518126028

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