Die Welt ist kein sicherer Ort

Der lange Schatten des letzten Krieges: Sabine Bodes Studie über „Kriegsenkel“ als „Erbe der vergessenen Generation“

Von Klaus-Jürgen BremmRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus-Jürgen Bremm

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Für die Generation der zwischen 1965 und 1975 geborenen Deutschen hatte der Autor Florian Illies vor rund zehn Jahren publikumswirksam den Begriff „Generation Golf“ geprägt. Nun aber erfährt der erstaunte Leser aus dem neuesten Buch der Kölner Autorin Sabine Bode, dass selbst noch diese so lange nach 1945 ins Leben getretene Generation, scheinbar unpolitisch, hedonistisch und oftmals kinderlos, unter dem langen Schatten aus Krieg und Niederlage aufgewachsen ist. Die Autorin bezeichnet die Generation der heute 35 bis 50-Jährigen unter Anknüpfung an eine ihrer früheren Publikationen über die vergessene Generation der Kriegskinder als „Kriegsenkel“. Sechs Jahre ist Bode immer wieder den oft an sie heran getragenen Schilderungen nachgegangen, wobei ihr rasch klar wurde, weshalb dieser Krieg, vor allem aber die vernichtende Niederlage nach fast sieben Dekaden längst zum inoffiziellen Gründungsmythos der Bundesrepublik geworden sind. Auch den Jahrzehnte später Geborenen scheint diese fraglos entsetzlichste Phase der deutschen Geschichte gleich einer bislang nicht entschlüsselten Codierung durch Elternhaus und Erziehung immer noch in den Knochen zu stecken.

Aus einer Fülle von Lebenswegen stellt die Autorin 18 Fälle vor, in denen sich auf verschiedene Weise deutlich greifen lässt, wie sich die oft traumatisierenden Kriegserlebnisse der Eltern jahrzehntelang prägend auf ihr Verhältnis zu den eigenen Kindern ausgewirkt haben. Es ließe sich sogar, so Bode, von einem Sekundärtrauma der Kriegsenkelgeneration sprechen, das zwar nicht gleiche oder ähnliche Verhaltensmuster generierte, wohl aber eine Fülle gravierender und oft lebenslanger Beziehungsstörungen, die keinesfalls als Einzelfälle abgetan werden können. Da ist die Geschichte des kinderlosen 50-jährigen Rechtsanwalts, der trotz seines beruflichen Erfolgs immer ein gestörtes Verhältnis zu Frauen hatte und den regelmäßig Schuldgefühle befielen, wenn er sich größere Anschaffungen leistete. Oder die inzwischen erfolgreiche Endvierzigerin aus Düsseldorf, die trotz vehementer Opposition ihrer freudlosen Mutter und ihres erheblich älteren Ehemannes, beides Kriegskinder, schließlich aus der Enge ihres Hausfrauendaseins ausbrach, ein BWL-Studium abschloss und eine leitende Position erreichte.

Nur mit quälender Mühe gelang es vielen der im Buch präsentierten Kriegsenkel, sich emotional von ihren Eltern, insbesondere aber von ihren Müttern zu lösen. Oft war es dabei eine Hilfe, die lange vergrabenen aber gleichwohl unvergessenen Kindheitserlebnisse der Eltern offen zum Thema zu machen. Gerade die Frauen der Kriegskindergeneration schienen vielfach ihre mütterliche Rolle nur noch in der Erfüllung der materiellen Bedürfnisse ihrer Kinder zu sehen. Es kann nicht wirklich überraschen, dass Emotionen und Sexualität dort tabubehaftet sind, wo tote Säuglinge am Straßenrand und Vergewaltigungsszenen zu den frühesten Eindrücken der Betroffenen gehörten. Wer solches oder ähnlich Schreckliches erleben musste, dem dürfte es schwer fallen, seinen Kindern zu vermitteln, dass die Welt ein sicherer Ort sein kann. Oft legten sich Resignation und Frustration der Eltern über ihr eigenes emotional verkümmertes Leben, das ganz auf Sicherheit und Anpassung setzte, wie Mehltau auf das Gefühlsleben ihrer Kinder.

Glaubt man den Schätzungen von Psychologen, so weisen etwa acht Prozent der über 65-Jährigen, also der so genannten „Kriegskinder“, eine deutlich ausgebildete posttraumatische Belastungsstörung auf. Eine derart hohe Zahl lässt natürlich auch auf eine hohe Dunkelziffer von Kriegsenkelsymptomen schließen und verleitet die Autorin zu der Spekulation, dass viele Probleme unserer heutigen Gesellschaft wie Kinderlosigkeit, Verschuldung und Reformangst in den 1960er- und 1970er-Jahren ihren Ausgangspunkt genommen haben. Für die Generation der Kriegskinder, so Bode, sei es von Vorteil, wenn sich möglichst wenig ändert. Für die Generation der Kriegsenkel gelte dies jedoch nicht, erklärt sie und schließt mit einem eindringlichen politischen Appell: Die Generation der heute 40 bis 50-Jährigen müsse endlich die Zügel, die sie ja längst auf allen Ebenen von Politik, Wirtschaft und Verwaltung in der Hand hält, zu einer energischen Kurskorrektur nutzen. Sie müsse ihre eigene Zukunft und die ihrer Kinder sichern, anstatt im Geiste ihrer Eltern die Dinge einfach laufen zu lassen. Derartige Schlussfolgerungen sind jedoch sehr problematisch, insbesondere wenn sie von einer kaum verifizierbaren Generationenschelte begleitet sind, wie sie die Autorin einleitend betreibt: „Noch ahnte niemand, dass man der ersten Nachkriegsgeneration angehörte, der im Unterschied zu Eltern und Großeltern kein behaglicher Ruhestand vergönnt sein würde, weil eben diese sich der öffentlichen Kassen gedankenlos bedient und einen gigantischen Schuldenberg hinterlassen hatten. Noch ahnte man nicht, dass man zu gehemmt sein würde, um die Älteren mit ihrer Maßlosigkeit und ihrem Desinteresse an gesellschaftlicher Zukunftsgestaltung zu konfrontieren.“

Bode kommt fraglos der Verdienst zu, eine neue und fruchtbare Perspektive auf die seelische Befindlichkeit der heute in gesellschaftlicher Verantwortung stehenden Generation eröffnet zu haben und zugleich wichtige therapeutische Empfehlungen für den Einzelfall zu liefern. Als umfassende Studie, die zu den hart klingenden Schuldzuweisungen vielleicht berechtigen würde, hat ihre Untersuchung jedoch keinen Bestand. Dazu ist ihre Datenbasis eindeutig zu eng und ihr methodischer Ansatz nicht erkennbar. Schon ein kurzer historischer Exkurs über Erziehungsvorstellungen und Kindheiten im Zeitverlauf – das Bahn brechende Werk von Phillip Ariès über die „Geschichte der Kindheit“ würde hier gute Dienste leisten – hätte ohne weiteres ergeben, dass die von modernen Psychologen zu Recht geforderte emotionale Zuwendung der Eltern auch in anderen Epochen durchaus Seltenheitswert besessen hat. In einem weiter gefassten historischen Kontext aber kann man der elterlichen Leistung der Kriegskindergeneration, selbst in den meisten der geschilderten Fälle, Respekt und Achtung nicht versagen.

Zu einer Exkulpierung der Kriegsenkelgeneration besteht daher kaum Anlass. So wirft es ein durchaus bezeichnendes Licht auf sie, dass es nur wenigen überhaupt in den Sinn gekommen ist, die beklagten Prägungen ihrer Eltern könnten vielleicht durch deren Kriegserlebnisse zustande gekommen sein. Darüber habe man noch nie in seinem Leben nachgedacht, lautete mehrheitlich die Antwort nach kurzem bestürztem Schweigen. Womit man dann allerdings wieder bei Florian Illies’ hedonistischer, auf sich selbst fixierter Generation Golf angekommen wäre.

Titelbild

Sabine Bode: Kriegsenkel. Die Erben der vergessenen Generation.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2009.
303 Seiten, 21,90 EUR.
ISBN-13: 9783608945508

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