Erstmals in deutscher Sprache erschienen

Ein Buch, das den Krieg in seiner ganzen unfassbaren Schrecklichkeit zeigt: Gabriel Chevalliers Roman „La peur“

Von Manfred OrlickRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manfred Orlick

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der französische Schriftsteller Gabriel Chevallier (1895-1969) ist vor allem durch seinen Roman „Clochemerle“ (1934) weltbekannt geworden. Diese humorvolle Satire über eine öffentliche Bedürfnisanstalt in dem fiktiven Städtchen Clochemerle wurde in mehr als dreißig Sprachen übersetzt und erreichte weltweit eine Auflage von mehreren Millionen Exemplaren. Diesem Erfolg ließ der Autor noch zwei Fortsetzungsbände folgen.

Weniger bekannt ist, dass Gabriel Chevallier, der als knapp Zwanzigjähriger bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges einberufen wurde, seine schrecklichen Kriegserfahrungen in einem Antikriegsroman verarbeitete, der in seiner Wirkung mit den Werken von Erich Maria Remarque, Arnold Zweig, Romain Rolland oder Norman Mailer vergleichbar ist. Er erschien 1930 unter dem Titel „La peur“ (Die Furcht). Zunächst ebenfalls ein Erfolg, einigten sich jedoch bei Ausbruch des Zweiten Weltkrieges Verleger und Autor darauf, den Verkauf einzustellen. Und so verschwand der Roman von der öffentlichen Bildfläche.

Erst 2008, also fast siebzig Jahre später, erschien in Frankreich eine Neuausgabe, die wie eine sensationelle Neuentdeckung begeistert aufgenommen wurde. Nun präsentiert das Schweizer Verlagshaus Nagel & Kimche dieses beeindruckende Buch erstmals in deutscher Übersetzung.

Gabriel Chevallier, der den Ersten Weltkrieg vier Jahre lang als Infanterist an der Front miterlebt hat, beschreibt in „Heldenangst“ seine Kriegserlebnisse in Romanform. Der junge Student Jean Dartemont meldet sich wie viele seiner Altersgenossen voller Begeisterung im Herbst 1914 freiwillig an die Front. Nach einer Grundausbildung lockt das große „Abenteuer Krieg“.

Nach der Ausbildung geht es direkt an die Front. Zunächst dient Dartemont in einer Reserveeinheit, die erst zum Einsatz kommen soll, wenn die kämpfende Truppe 50 Prozent Verlust erlitten hat. Hier erahnt der grüblerische Soldat zum ersten Mal die menschenverachtenden Züge des Krieges. Viel Zeit zum Nachdenken bleibt allerdings nicht, denn seine Kompanie wird an die vorderste Linie versetzt.

Dartemont erlebt jetzt die Schrecken des Krieges, er wird mit Leichenteilen, abgerissenen Gliedmaßen, schrecklichen Verletzungen und unüberwindlichem Ekel konfrontiert. Die Seele trennt sich vom Körper und begleitet ihn wie ein machtloser, weinender Schutzengel. Vor ihm und seinen Kameraden liegt das Schlachtfeld, dem sie sich mit Brust und Bauch preisgeben müssen. Monatelang leben sie dichtgedrängt in den Schützengräben, über denen die Geschütze donnern und die Granaten einschlagen. Aus „Ruhm und Ehre“ sind längst „Blut und Tränen“ geworden.

Eine Verwundung kommt Dartemont schließlich wie ein Glückstreffer vor, aber auch an den unbeschwerten Tagen im Lazarett bekommt er die Grauen der Front nicht aus seinem Kopf. Schließlich darf der Junge Soldat noch einmal kurz auf Heimaturlaub. Hier wird er jedoch nicht mit Jubel empfangen, vielmehr schämt sich sein Vater, dass der Sohn noch nicht befördert worden ist. Schließlich muss Dartemont zurück an die Front, wo das Trommelfeuer der Maschinengewehre und der tägliche Überlebenskampf wieder auf ihn warten.

Dann plötzlich kommt der Waffenstillstand wie ein Feuerstoß. Doch was für Dartemont und seine Kameraden das Ende des trostlosen Massakers bedeutet – endlich Frieden, ein Bett, Mahlzeiten, ruhige Nächte, Pläne und Zukunft – ist für manchen Offizier die entgangene Chance auf Beförderung.

„Heldenangst“ ist ein beeindruckendes Buch. Gabriel Chevallier schildert darin die Kriegsereignisse aus der Sicht des einfachen Soldaten, dabei beschreibt er dessen Fronterlebnisse ohne jede Verharmlosung und Beschönigung. Er erzählt nicht nur von den Ängsten und der Zermürbung der Soldaten, sondern auch von der Feigheit der Offiziere und der Dummheit der Politiker. Die nüchterne und sachliche Sprache machen den Roman nicht nur zu einem realistischen Bericht, sondern gleichermaßen zu einer Anklage gegen den Krieg und den sinnlosen Völkermord.

Titelbild

Gabriel Chevallier: Heldenangst. Roman.
Übersetzt aus dem Französischen von Stefan Glock.
Nagel & Kimche Verlag, Zürich 2010.
427 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783312004416

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