Ein literarischer Baedeker?

Wolfgang Koeppens Reisebücher liegen im Rahmen seiner Werkausgabe vor

Von Jochen StrobelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jochen Strobel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Bekanntlich hat Wolfgang Koeppen den viel begehrten Roman, den ihm Siegfried Unseld drei Jahrzehnte lang nach der Trilogie „Tauben im Gras“, „Das Treibhaus“ und „Der Tod in Rom“ entlocken wollte, nie geschrieben. Noch kurz vor seinem Tod blieben ihm zwei Ziele: Er werde „dieses Buch und auch andere Bücher fertig schreiben“ und er wolle reisen, denn, so an seinen Verleger: „Immer wenn ich höre, daß Du über den Ozean fährst, denke ich, daß ich mit Dir fliegen möchte.“

Dass es die von Hans-Ulrich Treichel herausgegebene Werkausgabe auf immerhin 16 Bände bringt, liegt nicht zuletzt an Koeppens Nebenwerken – drei der Bände enthalten Reiseberichte –, von denen einige unter der Hand zu Hauptwerken gerieten. In kurzen Abständen folgten dem 1958 erschienenen, noch recht heterogenen Erstling „Nach Rußland und anderswohin“ die Bände „Amerikafahrt“ und „Reisen nach Frankreich“. Beide liegen nun, angereichert durch jeweils thematisch ähnliche, teils Jahrzehnte später entstandene Reisetexte, im Rahmen der Koeppen-Werkausgabe vor.

Die Entstehungsgeschichte der Bände ist symptomatisch für den westdeutschen Kulturbetrieb der 50er-Jahre: der Rundfunk bot eine gute Einnahmequelle. Der Süddeutsche Rundfunk finanzierte nicht nur Koeppens USA-Reise (übrigens mit Unterstützung durch das amerikanische State Department), sondern nahm auch seine Reiseberichte ab und sendete sie, betreut durch den Redakteur Alfred Andersch, zur damaligen Prime Time. Vor und um 1960 war das Fernsehen noch nicht das Massenmedium Nummer eins– davon profitierten Autoren wie Günter Eich oder Arno Schmidt – und eben auch Wolfgang Koeppen.

Wenn dieser seine Reisetexte selbst als literarische Kunstwerke und nicht bloß unterhaltende oder informative Berichte verstanden wissen wollte, dann klafften wohl der Anspruch des Autors und die Hörgewohnheiten eines großen Publikums einigermaßen auseinander. Koeppen nimmt in seinen Reiseberichten jedenfalls erkennbare Anleihen bei der literarischen Moderne. Dass er diese schätzt, ist wiederum den zahlreichen literarischen Einsprengseln, Anspielungen, Zitaten zu entnehmen, die die Bücher durchziehen.

Heute noch ausgesprochen lesenswert ist das Amerikabuch, das uns das Land vor John F. Kennedy, vor der schwarzen Bürgerrechtsbewegung und natürlich auch vor Woodstock zeigt. Der „American way of life“ scheint in der jungen Bundesrepublik noch nicht recht angekommen zu sein: „Supermarket“, „Television“ und „Tomatocatchup“ sind vorläufig Fremdwörter. Der staunende umerzogene Deutsche, in dem die Erinnerung an den Krieg noch sehr lebendig ist, unternimmt nur vordergründig eine Werbereise ins kapitalistische Schlaraffenland. Zwischen den Zeilen entsteht ein sehr differenziertes USA-Porträt, das sich Koeppens intensiven Fiktionalisierungen der BRD der 1950er-Jahre an die Seite stellen lässt und das mit seinem Stakkato aus Beobachtungsfetzen auch ästhetischen Rang einnimmt. Durchaus mit Skepsis nimmt der Beobachter den allerorten schwelenden „Rassenkonflikt“ zur Kenntnis, bemerkt er eine Kommerzialisierung der Leistungseliten, wird ihm dieses weite Land immer wieder zu etwas Unwirklichem. Nicht zufällig erinnert er sich an Karl Roßmanns Amerika schon bei der Ankunft in New York; Reminiszenzen an Franz Kafka durchziehen das Buch ebenso wie Verweise auf Ernest Hemingway, William Faulkner und Tennessee Williams, die zeitgenössischen Klassiker zu Lebzeiten also, die im Nachkriegsdeutschland so intensiv rezipiert wurden. Die Zukunft kündigt sich mit der Beat Generation aber schon an; Koeppen kennt Jack Kerouac, Charlie Parker und natürlich James Dean. Und er weiß spannend von Medienphänomenen wie dem Fernsehprediger Billy Graham zu berichten, der das „Evangelium wie einen nicht ganz erstklassigen Kühlschrank“ zu verkaufen versucht.

Mit der Empfindung der Entgrenzung stellen sich Einsamkeit und Traurigkeit, dann auch wieder Furcht vor der ‚Masse‘ in den großen Städten ein, vielleicht eine für den einer Diktatur entronnenen deutschen Beobachter charakteristische Gefühlsmischung. Das allenthalben herrschende protestantisch-puritanische Leistungsprinzip scheint den westdeutschen Besucher zu schmerzen, hat er doch für die Abgründe der amerikanischen Zivilisation – Striptease-Lokale und heimliche Bordelle – ein unverhohlenes Faible. Gleichwohl ist er auch immer wieder von den Wundern der Natur wie der Zivilisation überwältigt.

Dieser erste USA-Besuch hat Koeppen zumindest so sehr beeindruckt, dass er noch bis an sein Lebensende die Hoffnung auf eine längere Arbeitsphase in New York hegte. Doch kam es nicht mehr dazu; von zwei weiteren Reisen in den 1970er- und 1980er-Jahren zeugen kurze Reiseberichte. Noch 1986 holt den Deutschen in New York seine Vergangenheit ein: „Ich gab dem Taxifahrer die Adresse, aber der alte Mann verstand mich nicht. Er fragte: Jewish Museum? Er fragte weiter, welche Sprache sprechen Sie, Jiddisch? Ich sagte: German. Dann schwieg er und fuhr mich hin.“

Mit dem Frankreich-Buch war Koeppen selbst unzufrieden. Seinem künftigen Verleger Siegfried Unseld – in den 1950er-Jahren erschienen seine Bücher bei Henry Goverts – klagte er sein Leid: „Das unglückliche Frankreichbuch hat mich erschöpft. Ich habe an keiner Schrift mehr, länger und lustloser als an dieser gearbeitet.“ Anders als das stilistisch anspruchsvolle und zugleich offenbar aus intensivem Erleben heraus entstandene Amerika-Buch beschränkt sich der neue Band vielfach auf austauschbare Beobachtungen. Es erinnert den heutigen Leser allerdings an eine Zeit, in der die deutsch-französische Freundschaft eben erst im Aufbau begriffen war. Lange umkreist der Besucher ehemaliges Grenzgebiet, ehemalige Schlachtfelder, ehe er sich ins Landesinnere wagt und brav sein Bildungsprogramm abspult.

Eine geglückte Miniatur ohne jede Verklärung ist Koeppens München-Report. Es ist weniger ein Reisebericht, da Koeppen in München lebte. Er war es desto mehr, als ihm die katholische, bierselige Stadt auch fremd bleiben mochte: „Fährt man durch das Siegestor ein, von dem niemand weiß, wen es triumphieren ließ, hat man mit der Ludwigstraße einen in der Kulisse italienischen, aber gänzlich des Volkes entbehrenden, amtsstubennüchternen Festsaal erreicht, der nur einmal im Jahr, zur Fronleichnamsprozession, dem Himmel einen Ball gibt und sonst in der Feldherrnhalle, einer Nachbildung der Loggia dei Lanzi, ein eigentlich griesgrämiges Ende findet. Die Feldherren können, wenn man es recht bedenkt, nur verlorene Schlachten beweinen.“

Koeppen sucht nach den Überbleibseln der Kunststadt und kann doch nicht vergessen, dass er selbst München bereits als „Hauptstadt der Bewegung“ kennengelernt hatte, die sich auch nach 1945 „blind für die Möglichkeit der Erneuerung“ zeigt.

Den Bänden fehlt leider ein Stellenkommentar, für den allerdings großer Aufwand zu treiben wäre. Die Nachworte, die Walter Erhart zusammen mit Anja Ebner und Arne Grafe verfasst hat, sind jedoch materialreich und bieten zugleich Entstehungskontexte wie auch Lektüreperspektiven. Wenngleich der große Roman auch im Nachlass nicht mehr auftauchen wird, gilt es doch den zu Lebzeiten erfolgreichen Reiseschriftsteller Koeppen erneut zu entdecken.

Titelbild

Wolfgang Koeppen: Werke. Band 9: Amerikafahrt.
Herausgegeben von Walter Erhart.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2008.
330 Seiten, 34,80 EUR.
ISBN-13: 9783518418093

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Titelbild

Wolfgang Koeppen: Werke. Band 10: Reisen nach Frankreich und andere Reisen.
Herausgegeben von Walter Erhart.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2008.
650 Seiten, 39,80 EUR.
ISBN-13: 9783518418109

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