Wird Mehmet von nebenan eine Bombe zünden?

Peter Waldmann wirft einen optimistischen Blick auf den Homegrown-Terrorismus

Von Benno KirschRSS-Newsfeed neuer Artikel von Benno Kirsch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nicht allein die Attentate an sich, die Mohammed Atta und seine Freunde in den USA oder die jungen Männer aus London verübt haben, waren so schockierend. Was zu dem „normalen“ Schrecken dazukommt, den terroristische Anschläge ohnehin hervorrufen, ist bei diesen Fällen der Umstand, dass die Genannten keineswegs Fremde waren, die etwas zerstören wollten, das sie nicht kannten. Im Gegenteil: Die jungen Männer hatten die Vorzüge der Gesellschaft, der sie den Kampf angesagt hatten, selbst genießen können und hätten demzufolge, möchte man meinen, doch erkennen müssen, dass die westliche Lebensweise für alle erstrebenswerte ist. Dass sie die Hand, die sie fütterte, auch noch bissen, wirkte verstörend.

Wie kommt es dazu, dass „Islamisten im Westen zu Terroristen werden“, fragt deshalb mit einiger Berechtigung der Augsburger Soziologe Peter Waldmann, der sich durch zahlreiche und wichtige Veröffentlichungen zum Thema (wie etwa seinem Buch Terrorismus. Provokation der Macht, 2. Auflage Hamburg 2005) einen Namen gemacht hat. Ausgangspunkt seiner Untersuchung ist die Beobachtung, dass es viele Einwanderergruppen gibt, die die Schwierigkeiten, die der Migrantenstatus mit sich bringt, nicht durch Gewalt gegen die Aufnahmegesellschaft lösen. Anders jedoch die aus islamischen Herkunftsländern: „Es blieb der jüngsten Migrationswelle aus dem islamischen Kulturkreis vorbehalten, diesen stillschweigenden Konsens, demgemäß das Angebot der Teilhabe am Wohlstand der Industrieländer die Akzeptanz der bestehenden gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse einschließt, militant in Frage zu stellen. Woran liegt das?“

Waldmann hat seine Untersuchung in drei Abschnitte aufgeteilt. Im ersten stellt er das Diasporakonzept vor, das heißt er referiert den Forschungsstand zu den Identitätsproblemen von Migranten und den verschiedenen Lösungsstrategien – von denen eine der Terrorismus ist. Im zweiten geht Waldmann auf die Täter, ihre Biografien, ihre Motive und ihr Umfeld ein. Im dritten schließlich betritt er, wie er sagt, Neuland, indem er die Frage nach dem Zusammenhang zwischen der Migrationspolitik der Aufnahmeländer und dem Potential von Radikalisierungsprozessen der Migranten stellt. Im Raum steht die sehr praktische, politische „Frage zur Diskussion, inwieweit eine bestimmte Migrationspolitik Radikalisierungsprozesse tendenziell fördert oder hemmt.“

Was der Autor dann ausführt, ist sehr informativ und hebt sich vor allem durch seine Unaufgeregtheit wohltuend von so manchem Feldgeschrei ab, das zu diesem Komplex zu vernehmen ist. Dass Waldmann bei seinen Ausführungen eigentlich durchweg zu vorsichtig ist und sich hinter den von ihm referierten Forschungsergebnissen regelrecht zu verschanzen scheint, darf nicht unerwähnt bleiben. Gerne hätte man deutlichere Urteile, Einordnungen und Wertungen vernommen, die dem Buch auch mehr „Farbe“ verliehen und dem Leser etwas mehr Orientierung in diesem schwierigen Problemkomplex verschafft hätten. Dass Waldmann das unterlässt, ist schade, allerdings beeinträchtigt dieser Mangel nicht das Gesamturteil des Rezensenten, dass es sich bei dem vorliegenden Buch um einen wichtigen Beitrag handelt, den man zur Kenntnis genommen haben sollte, wenn man sich mit Migration oder Terrorismus beschäftigt.

Die interessanteste Frage für den durch die Fernsehbilder von Terroranschlägen traumatisierten Leser dürfte sein, welchem Risiko eines derartigen Gewaltakts er ausgesetzt ist: New York, London, Madrid – wird bald Hamburg, Köln oder München an der Reihe sein? Oder hat die „Sauerland-Gruppe“ schon bewiesen, wie real die Gefahr auch hierzulande ist? Und wenn ja, was hat man dann falsch gemacht? Wie sollte man zukünftig reagieren? Um sich einer Antwort auf diese drängenden Fragen zu nähern, untersucht Waldmann zunächst in einer Fallstudie die US-amerikanische Migrationspolitik und vergleicht sie dann mit der mehrerer europäischer Staaten.

Der Blick in die USA ist aufschlussreich, weil sich dort so gut wie keine Radikalisierung der Muslime feststellen lässt – anders als man angesichts des Bildes von den USA erwarten könnte, das in der muslimischen Welt verbreitet wird. Waldmann bringt jedoch einen überraschenden Befund zu Protokoll: „In den USA ist die Loyalität der zugewanderten Muslime gegenüber ihrem Aufnahmestaat größer als in Europa.“ Nach Waldmann besteht der Unterschied zu Europa darin, dass die USA ein klassisches Einwanderungsland sind, das die Einwanderer vor andere Herausforderungen stellt als die Länder, die sich wie Deutschland vor kurzem noch durch das Selbstverständnis ausgezeichnet haben, kein Einwanderungsland zu sein. In der Alten Welt ist Einwanderung zwar materiell attraktiv, aber Gleichberechtigung als vollwertige Bürger wird den Einwanderern verwehrt. Dass sich Radikalisierung natürlich nicht auf ein, zwei Faktoren reduzieren lässt, weiß Waldmann selbst und macht auch darauf aufmerksam; sie hängt „in beträchtlichem Maße von historischen und gesellschaftlichen Weichenstellungen (ab), auf die Politiker nur einen begrenzten Einfluss haben.“

Unerlässlich ist es dennoch, sich diese Faktoren genauer anzusehen, zum Beispiel den Umstand, dass in Europa die meisten Migranten nicht eingewandert sind, weil ihnen der Lebensstil im Aufnahmeland so gut gefallen hätte. Sondern sie sind gekommen, weil die wirtschaftlichen Chancen in den Herkunftsländern so schlecht waren, in jedem Fall schlechter als in Europa. Dieser Umstand ist das Gegenstück zum geistigen Klima in den meisten europäischen Aufnahmeländern, die keine sein wollten. Weshalb sich folgern ließe, dass beide hervorragend zusammenpassen: Beide wollten einander eigentlich nicht, kamen aber dennoch zusammen. Vermutlich deshalb, weil die Realitäten plötzlich so anders sind als „eigentlich“ gedacht, ergibt sich daraus eine Grundschwierigkeit, die auf die Migrationspolitik der europäischen Staaten abfärbt. Waldmann formuliert es so: „Insgesamt, so das Resümee, nimmt der alte Kontinent gegenüber dem zunehmenden Wanderungsdruck eine zwiespältige Haltung ein.“

Sind vor diesem Hintergrund alle Bemühungen gescheitert, die Radikalisierungsprozesse muslimischer Immigranten zu verhindern oder wenigstens abzumildern? Keinesfalls. Waldmann macht im Gegenteil sogar Hoffnung, die er aus dem Vergleich einzelner europäischer Länder untereinander zieht. Denn innerhalb Europas gibt es deutliche Unterschiede in der Einwanderungspolitik. In den einen Staaten hat es Anschläge gegeben und in den anderen nicht, und bei aller Vorsicht kann man daraus Schlussfolgerungen ableiten. So äußert sich Waldmann sehr skeptisch über das britische Modell, das es zugelassen hat, dass sich abgeschlossene Migrantenkolonien entwickeln konnten, die sich selbst überlassen wurden. In Frankreich hingegen ist die Integration durch das „republikanische Versprechen“ besser gelungen. Die französische Verfassung bietet hier ein Modell, das auch von Muslimen angenommen wird. Die immer wieder aufflackernden Unruhen in den Banlieus deutet Waldmann nicht als religiöse Auseinandersetzungen. Ihr Charakter lässt sie, anders als ähnliche verlaufende Auseinandersetzungen in Großbritannien, nicht als Vorstufe zu terroristischer Gewalt deuten.

In Deutschland, das seit der Aufnahme der Vertriebenen aus den Ostgebieten nach dem Krieg mehrere Einwanderungswellen gesehen hat, bilden die Türken zur Zeit die wichtigste muslimische Migrantengruppe. Zwar schotten auch sie sich von der Aufnahmegesellschaft ab, indem die in Deutschland lebenden Türken in der Türkei heiraten und die Angetrauten dann nach Deutschland holen. Dennoch gibt Waldmann Entwarnung: „In Fachkreisen ist man sich indes einig, dass das religiöse Engagement der Türken nicht annähernd die politische Sprengkraft entfaltet wie der militante Islamismus vieler Araber in Europa oder eines großen Teils der Pakistani in Großbritannien.“ Zum Beweis kann er auf den Umstand hinweisen, dass unter den islamischen Terroristen weltweit keine Türken gewesen sind.

Überhaupt bescheinigt Waldmann dem deutschen Staat einerseits zwar einen Mangel an Identifizierungspotential, aber über das Sozialrecht verläuft Integration gut, und die Verfassung bietet darüber hinaus Moslems genügend Möglichkeiten zur Entfaltung ihres Glaubenslebens. Insbesondere die Türken haben darüber hinaus ihre Religiosität an den Staat Türkei geknüpft, so dass Radikale ihre Aggressionen eher nach dort orientieren, als dass sie versuchten, der Bundesrepublik Deutschland einen islamischen Überbau zu verschaffen. Dazu kommen traditionell gute Beziehungen beider Länder zueinander und die Identifikation der deutschen Türken mit ihren deutschen Heimatstädten. Und da auch die Konkurrenz verschiedener islamischer Verbände eher zur Mäßigung beiträgt, lautet Waldmanns Fazit: „Insgesamt ist es also weder nur ein glücklicher Zufall noch primär das Resultat der Wachsamkeit der Sicherheitskräfte, wenn Deutschland bisher von einem größeren Anschlag verschont geblieben ist. Es sind vor allem, wie dargestellt, wichtige strukturelle Gründe, die hier eine Rolle spielen, obwohl diese allein nie ausreichen, um einen Anschlag oder sein Ausbleiben zu erklären.“

Bei aller Unsicherheit und aller Vorsicht wagt Waldmann am Ende dennoch eine Prognose. Und erneut ist er nicht pessimistisch. Er sieht Faktoren, die darauf hindeuten, dass der Terrorismus, der sich auf radikalisierte Moslems in der Diaspora stützt, im Abklingen begriffen ist, „so dass in Zukunft eher mit weniger als mit mehr Anschlägen zu rechnen ist.“ Zum ersten habe der islamische Terrorismus – wenn man die „Wellentheorie“ zugrunde legt, nach der terroristische Phasen etwas mehr als eine Generation anhalten, bevor sie wieder abflauen – seinen Höhepunkt bereits überschritten, zweitens fehlen „seit der Zerstörung der logistischen Infrastruktur von Al Quaida durch Bombenangriffe im Herbst 2001 und der Flucht Bin Ladens“ den islamischen Terroristen ein steuerndes Zentrum. Drittens wandelt sich die Trägerschicht des islamischen Terrorismus: Nicht mehr gebildete junge Männer sind es, sondern vor allem Angehörige unterer Schichten, denen „im Allgemeinen der intellektuelle Horizont und die entsprechenden Ambitionen“ fehlen. Viertens schließlich besteht die realistische Hoffnung, dass sich die Diasporagemeinden auflösen und die Integration der Muslime sich vollzieht, wie es schon in Frankreich zu beobachten ist.

Titelbild

Peter Waldmann: Radikalisierung in der Diaspora. Wie Islamisten im Westen zu Terroristen werden.
Murmann Verlag, Hamburg 2009.
246 Seiten, 16,00 EUR.
ISBN-13: 9783867740524

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