Im Strudel der Zeit

Der von Benigna Gerisch und Vera King herausgegebene Sammelband „Zeitgewinn und Selbstverlust“ untersucht Folgen und Grenzen der Beschleunigung

Von Sönke AbeldtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sönke Abeldt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Tempo, Tempo, Tempo! Im Alltag, in Beruf und Freizeit muss alles immer schneller gehen. Die verfügbare Zeit erscheint knapper denn je – und das obwohl vom Auto bis zur E-Mail alle technischen Möglichkeiten vorhanden wären, Zeit zu gewinnen und Stress zu vermeiden. Aber nein: „Wir versuchen, mehr Dinge in kürzerer Zeit zu erledigen“, zitiert die „Zeit“ den Beschleunigungstheoretiker Hartmut Rosa in einem Interview. In seinem Aufsatz zum wissenschaftlichen Sammelband „Zeitgewinn und Selbstverlust“ spricht der Soziologe aus Jena vom Druck der „rasenden Verhältnisse“ und sieht die Auflösung von festen Zeitstrukturen kommen. Die Konsequenzen seien noch nicht zu überblicken.

„Zeitgewinn und Selbstverlust“ – das von Vera King und Benigna Gerisch herausgegebene Buch startet somit nicht nur mit einem wichtigen Referenzautor der Beschleunigungsdebatte. Sondern mit einer eindringlichen Warnung: Der vor allem wirtschaftlich und technisch hervorgerufene Zeit- und Innovationsdruck gefährdet stabile Sinnhorizonte. Was das mit den Menschen macht, ist das Thema des interdisziplinär angelegten Buches, das zwölf Beiträge von Soziologen, Psychologen und Erziehungswissenschaftlern versammelt. King und Gerisch lassen schon in ihrer Einleitung keinen Zweifel an der Ambivalenz von Beschleunigung aufkommen: Der Zuwachs an Möglichkeiten durch „mehr Zeit“ könne positiv erfahren werden, die Auswirkungen auf Psyche, Identität und soziale Beziehungen aber auch destruktiv sein.

Beispiel Wirtschaft: Nicole Aubert (Paris) stellt in ihrem Beitrag fest, dass sich in Unternehmen das Zeitkonzept der „Dringlichkeit“ durchsetze. Man müsse sehr schnell handeln, um im ökonomischen Wettbewerb zu bestehen. Der extreme Zeitdruck wirke auf die von ihr befragten Manager zum einen wie ein „Kick“, ein Rausch, die Abläufe jederzeit zu beherrschen. Andererseits belaste diese Anforderung: Nicht nur müsse unmittelbar entschieden werden. Auch der Sinn der Tätigkeit gehe verloren. „Die Dinge gehen zu schnell, eine halbe Stunde später bleibt nichts mehr davon übrig“, zitiert Aubert einen Industriemanager. Was für eine Desillusionierung: Das Dringlichkeitsregime drohe, die persönliche und psychische Integrität anzugreifen – mit der Folge von Erschöpfungsdepressionen und dem Verlust bindender Sozialbeziehungen, argumentiert Aubert. Persönliche Selbstexzesse, wie aus Drogensucht und Extremsportarten bekannt, seien zwanghafte Reaktionen auf eine stressbehaftete „Verpflichtung zur Hyperleistung“. „Ich sterbe, wenn ich mich langweile“, lässt Aubert eine Führungskraft zu Wort kommen.

Wenn die Beschleunigung ins Alltagsleben einkehrt, verändern Menschen den Umgang mit ihren Kindern und sich selbst: Helga Zeiher gibt in ihrem Beitrag zu bedenken, dass politische Maßnahmen wie die Verkürzung der gymnasialen Schulzeit („G8“) Leistungsanforderungen in ein früheres Alter verlagern; viele Kinder litten darunter, dass der Qualifizierungs- und Zeitdruck ins Familienleben einzieht (Stichwort: „Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom“). Benigna Gerisch geht überdies auf Konflikte mit dem Körper ein, die aus entgrenzter Aktivität und dem Druck zum „Funktionieren“ resultieren können (Essstörungen, Selbstverletzungen oder Schönheitsoperationen). Und Christine Morgenroth (Hannover) beschreibt Suchterkrankungen von Jugendlichen als Phänomene, die durch die Kultur der Beschleunigung und soziale „Anomie“ (ein Begriff von Emile Durkheim), sprich der Desintegration, flankiert werden.

Besorgniserregend sind diese Diagnosen allemal. Es stellt sich die Frage, mit welchem Konzept von Identität die klinische Praxis arbeiten soll: dem so genannten „modularen“ und flexiblem Ich, das frei in den flüchtigen Verhältnissen hin- und herdriftet – oder mit einem Ich-Modell, von dem konflikthafte Integrations- und Stabilisierungsleistungen gefordert sind und das insofern angreifbar und verletzbar ist? Der Psychoanalytiker Werner Bohleber (Frankfurt) nennt Gründe dafür, den Gedanken des „Einheitlichkeitsstreben des Ichs“ (Sigmund Freud) selbst in einer sich im Fluss befindlichen Gesellschaft nicht komplett zu verabschieden.

Die spannenden Fragen, die das Buch aufwirft, lauten: Wie werden gesellschaftliche Entwicklungen auf Einzelne abgewälzt? Kann die subjektive Anpassung gelingen – oder eben nicht? In der Gesamtschau wird deutlich: An die Stelle der alten treten neue Zeitregime – ein Vorgang, der Unsicherheiten hervorruft. Die Dauer von Prozessen, Handlungen und biografischen Abschnitten wird Gegenstand von gesellschaftlichen Auseinandersetzungen. Den Beiträgen ist insofern das Ringen um Konzepte deutlich anzumerken: Das abwägende „Einerseits-Andererseits“, das Aufdecken von Widersprüchen und vermeintlichen „Paradoxien“ ziehen sich wie ein roter Faden durch das Buch. Einfache Antworten darf der Leser nicht erwarten. Die wesentliche Leistung zwar nicht aller, aber der meisten Aufsätze besteht darin, abstrakte soziologische Perspektiven zum Thema „Beschleunigung“ konkreten lebensweltlichen Erfahrungen zugänglich zu machen. Und die sind offenbar sehr schmerzhaft.

Titelbild

Vera King / Benigna Gerisch (Hg.): Zeitgewinn und Selbstverlust. Folgen und Grenzen der Beschleunigung.
Campus Verlag, Frankfurt a. M. 2009.
262 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-13: 9783593390291

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