Erzählte Geschichte – Geschichte in der Erzählung

Eine Festschrift für Wolfgang Hardtwig über Historiografie und Ästhetik

Von Daniele VecchiatoRSS-Newsfeed neuer Artikel von Daniele Vecchiato

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Seit den Debatten über Geschichte und ihre Erzählungen, die hauptsächlich in den 1990er-Jahren an der Tagesordnung waren, sind die Grenzen zwischen literarischen Texten und historischen Quellen fließender geworden. Aber inwiefern können Kunstwerke – Romane, Filme, Denkmäler und Musikstücke – von Historikern als Beobachtungen, Interpretationen und Entwürfe der Vergangenheit gelesen werden? Wie können fiktive Darstellungen als Milieu- und Zeitgeiststudien gelten und zur Abrundung der historiografischen Arbeit dienen? Bieten literarische Werke die Möglichkeit an, eine tiefere Einsicht in die (Kultur-)Geschichte ihrer jeweiligen Periode zu gewähren?

Um solche Leitfragen kreisen die 19 Beiträge des von Martin Baumeister, Moritz Föllmer und Philipp Müller herausgegebenen Bandes „Die Kunst der Geschichte“, einer Festschrift zum 65. Geburtstag des Historikers Wolfgang Hardtwig. In Einklag mit den Interessen und den Forschungsschwerpunkten des Jubilars legen seine Kollegen ein auch Laien zugängliches Buch vor mit dem Ziel, „die Unterschiede zwischen Geschichtswissenschaft, Kunst und Literatur auf produktive Weise zu verflüssigen“. Und in manchen Aufsätzen des Bandes gelingt das nicht einfache Unternehmen sogar sehr gut.

Den Sammelband eröffnet eine geschichtstheoretische und historiografiegeschichtliche Sektion; es folgen verschiedene Beispiele von ästhetischen Vergangenheitszugängen sowie artikulierte Reflexionen zur Literarität der Geschichte und zum Verhältnis von Historiografie und Erzählung; zum Schluss werden vergangene Gegenwartsdeutungen in Literatur und Film des (frühen) 20. Jahrhunderts untersucht.

Besonders interessant werden Geschichtswissenschaftler den Beitrag von Peter Jelavich finden, in dem über die Spannung zwischen konzentrierten makrohistorischen Überblicken und weitschweifigen mikrohistorischen Narrationen räsoniert wird, oder den Essay von Tim B. Müller, in dem das Selbstbild des modernen Historikers als „Arbeiter und Dichter“ sowie dessen professionelle, ästhetische und ethische Motive anhand der Geschichtstheorie von Hayden White, Theodor Mommsen, Dominick LaCapra und Reinhart Koselleck analysiert werden.

Literaturwissenschaftlern werden mehrere Aufsätze des Bandes wertvolle Anregungen bieten. Dieter Langewiesche reflektiert beispielsweise vor dem Hintergrund des Romans „Ein springender Brunnen“ (1998) über das Geschichtsdenken Martin Walsers; Andrea Meissner untersucht die Geschlechterkonstruktionen in der katholischen Belletristik der Jahrhundertwende; Martin H. Geyer bespricht in seinem lehrreichen Essay die Rezeptionsgeschichte von Walter Mehrings Inflationsdrama „Der Kaufmann von Berlin“ (1929) und knüpft das Werk an drei gesellschaftspolitische Skandale der Zeit an; Moritz Föllmer analysiert verschiedene Romane der Weimarer Republik und illustriert dabei die kulturellen und gesellschaftlichen Auswirkungen des Kapitalismus in einer krisenhaften Welt.

Auch Medienwissenschaftler werden im Sammelband Ansatzpunkte für eine interdisziplinäre Beschäftigung mit historischen Themen finden, etwa in Baumeisters Analyse von Luchino Viscontis „Senso“ (1954), in Rüdiger Grafs zeitgeschichtliche Kontextualisierung von Rainer Werner Fassbinders „Angst essen Seele auf“ (1973) oder in Alexa Geisthövels Beitrag zur gesellschaftlichen und historischen Relevanz von Musik und Klangereignissen im Allgemeinen.

Trotz der bunten Vielfalt an Ansätzen und Perspektiven weist der Band eine insgesamt zufrieden stellende inhaltliche Kohärenz auf, die ziemlich selten zu finden ist bei Festschriften. Selbst wenn nicht alle Beiträge mit gleicher wissenschaftlicher Sorgfalt verfasst worden sind, liefert das Buch gute Beispiele für eine fruchtbare Erweiterung der Geschichtswissenschaft auf die Territorien der Philologie und der Kunstwissenschaften.

Titelbild

Martin Baumeister / Moritz Föllmer / Philipp Müller (Hg.): Die Kunst der Geschichte. Historiographie, Ästhetik, Erzählung.
Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2009.
398 Seiten, 49,90 EUR.
ISBN-13: 9783525363843

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