Überlegungen zur textorientierten Spannungsanalyse

Anlässlich einer Lektüre von Adalbert Stifters „Der Nachsommer“

Von Lars KortenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lars Korten

Für den seit 1897 in der Zeitschrift „Über Land und Meer“ erscheinenden Roman „Der Stechlin“ hat sein Autor Theodor Fontane in einem Brief an Adolf Hoffmann eine berühmte Selbsteinschätzung getätigt: „Zum Schluß stirbt ein Alter, und zwei Junge heiraten sich; – das ist so ziemlich alles, was auf 500 Seiten geschieht. Von Verwicklungen und Lösungen, von Herzenskonflikten oder Konflikten überhaupt, von Spannungen und Überraschungen findet sich nichts.“

Vierzig Jahre zuvor hatte Adalbert Stifters Erzählung „Der Nachsommer“ nicht bloß ähnliche Maßstäbe gesetzt, sondern in seinen handlungsstrategischen Vorgaben eine Qualität erreicht, hinter die Fontanes „Stechlin“ weit zurückfällt. Mit Blick auf doppelten Umfang und einen Todesfall weniger lässt sich zum „Nachsommer“ feststellen: Zwei Junge heiraten sich; – das ist so ziemlich alles, was auf 1.300 Seiten geschieht.

Von einer als entsprechend langwierig empfundenen Lektüre hat Friedrich Hebbel in der wohl meistzitierten „Nachsommer“-Kritik vehement abgeraten: „Drei starke Bände! Wir glauben Nichts zu riskiren, wenn wir Demjenigen, der beweisen kann, daß er sie ausgelesen hat, ohne als Kunstrichter dazu verpflichtet zu sein, die Krone von Polen versprechen. Wir machen jedoch den Verfasser nur in geringem Grade für das mißrathene Buch verantwortlich; er war sogleich bei seinem ersten Auftreten Manierist und mußte, verhätschelt, wie er wurde, zuletzt natürlich alles Maaß verlieren. […] Zuerst begnügte er sich, uns die Familien der Blumen aufzuzählen, die auf seinen Lieblingsplätzen gedeihen; dann wurden uns die Exemplare vorgerechnet, und jetzt erhalten wir das Register der Staubfäden. […] Was wird hier nicht Alles weitläufig betrachtet und geschildert; es fehlt nur noch die Betrachtung der Wörter, womit man schildert, und die Schilderung der Hand, womit man diese Betrachtung niederschreibt, so ist der Kreis vollendet.“

Mit den Zitaten beider Realisten ist ein Wortfeld umspannt, das mit Ansätzen aktueller Spannungsforschung konform geht: Fontane setzt für den Inhalt Konflikte und Konfliktlösungen, nicht zuletzt Liebeskonflikte als verbindlich, Hebbel hingegen bezieht sich auf die formale Gestaltung, wenn er sich gegen den Detail-Manierismus wendet, gegen ausgedehnte Beschreibungen, die sich in ihrer Akribie gleichsam ins Unendliche verlieren. Eine handlungsorientierte Kritik steht also einer formalen Kritik gegenüber. Auf Kategorien der Spannung übertragen, bedeutet dies: Fontane argumentiert im Sinne einer Plot-Suspense (auch: suspense) und Hebbel im Sinne einer ästhetisch-formalen Spannung, der Sublimal-Suspense (auch: tension).

Diese fundamentale Leitdifferenz des ‚was‘ (Abschnitt I) gegenüber dem ‚wie‘ (Abschnitt II) sei mit Blick auf die Spannungskonzeption des „Nachsommer“ im folgenden umrissen. Die Rehabilitation eines kanonisierten ‚Langweilers‘ als spannend mag dabei durchaus ironisch verstanden werden, leitet aber allemal zu der Frage über, ob nicht eine rein textorientierte Spannungsanalyse generell scheitern muss (Abschnitt III). Abschließende Überlegungen werden entsprechend das Verhältnis von narratologischen und literaturpsychologischenSpannungskonzepten auszuloten versuchen.

I.

Der „Nachsommer“ gliedert sich in drei Bände mit insgesamt 17 Kapiteln. Ein herannahendes Gewitter veranlasst den Ich-Erzähler, in einem Landhaus Unterkunft zu erbitten. Der Gastfreund nimmt ihn auf, erweist sich als Lehrmeister in vielerlei Gebieten und beherbergt den Erzähler auch in den folgenden Jahren. Wintermonate in der Stadt wechseln im Folgenden ab mit geologisch-naturwissenschaftlichen Studienreisen ins Gebirge und längeren Besuchen auf dem Asperhof, ausgerichtet an der dort besonders prächtigen Rosenblüte. Im siebten und damit letzten Kapitel des ersten Bandes, ‚Die Begegnung‘, lernt der Erzähler eine Freundin seines Gastgebers, Mathilde, und deren Tochter Natalie kennen. Der zweite Band schildert die Fortsetzung der künstlerisch-wissenschaftlichen und damit nicht zuletzt lebenspraktischen Ausbildung des Erzählers. Die weiteren Besuche am Asperhof und nun auch am Sternenhof, auf dem die beiden Frauen zu Hause sind, bringen es mit sich, dass sich der Erzähler und Natalie annähern, sich ihre Liebe eingestehen und einander schließlich ewige Treue versprechen können. Der dritte Band berichtet vom wohlwollenden Einverständnis der Eltern und erzählt die Biografie des Gastfreundes. Dieser, Gustav Freiherr von Risach, verband sich einst mit Mathilde, doch deren Eltern untersagten die Beziehung. Risach zeigte sich einsichtig und versuchte Mathilde von einer späteren Beziehung zu überzeugen, was diese jedoch als Treuebruch auffasste. Risach ging in den Staatsdienst, heiratete anderweitig, verwitwete alsbald und zog sich in das Landhaus zurück. Auch Mathilde heiratete anderweitig, bekam zwei Kinder und verwitwete ebenfalls. Als Mathilde eines Tages das rosenübersäte Haus ihres einstigen Geliebten Risach sieht, weiß sie um die Symbolik der Blumen für ihre Beziehung und bittet Risach um Vergebung. Sie vertraut ihm ihren Sohn Gustav an, siedelt mit ihrer Tochter Natalie in den nahe gelegenen Sternenhof und lebt fortan in Freundschaft zu Risach. Nach Erzählung seiner Lebensgeschichte gilt dem Freiherrn der Ich-Erzähler als vollständig in die Familie integriert; Natalie und der Ich-Erzähler heiraten im Kreise aller Angehörigen.

Eine solche thematische Entfaltung mag sich durch Kapitelüberschriften wie ‚Die Begegnung‘, ‚Die Annäherung‘, ‚Der Bund‘, ‚Der Rückblick‘ und ‚Der Abschluß‘ legitimieren, gleichwohl eine Inhaltsangabe auch andere Aspekte des Romans mit aufnehmen könnte: Sie könnte Auskunft geben etwa über die Beschaffenheit des Marmors im Allgemeinen und Besonderen, über die Pflege von Kakteen und Obstbäumen, über Kupferstiche, über die Wiederherstellung von Altären in alten Kirchen, über die rechte Beschaffenheit von Fassungen für Edelsteine, über die angemessene Kleidung im Haus, über die Gemälde alter Meister, über das Zitherspiel, über die Ausübung der Zeichenkunst und so weiter. Die Einbettung einer solchen, vornehmlich statischen Wissensvermittlung in einen handlungsdynamischen Erzählstrang vollzieht sich beispielsweise wie folgt: Der Erzähler hat wegen eines drohenden Gewitters am Landhaus um Unterkunft gebeten, der Gastfreund gewährt sie, klärt aber zugleich darüber auf, dass mit Gewissheit kein Gewitter über dieser Region ausbrechen werde. Der naturwissenschaftlich bereits geschulte Erzähler hält dagegen und muss in den Folgestunden erfahren, dass er irrt. Nachdem einige Zeit verstrichen ist, spricht der Ich-Erzähler das Thema an und bittet den Gastfreund um Aufklärung, „wie ihr zu einer so entschiedenen Gewissheit in Hinsicht des Wetters gekommen seid“: „,Der Wunsch ist ein sehr gerechter,’ entgegneter er, ‚und um so gerechter, als eure Meinung über das Gewitter der Grund gewesen ist, weßhalb ihr zu unserem Hause herauf gegangen seid, und als unser Streit über das Gewitter der Grund gewesen ist, daß ihr länger da geblieben seid. Gehen wir aber gegen das Bienenhaus, und sezen wir uns auf eine Bank unter eine Linde. Ich werde euch auf dem Wege und auf der Bank meine Sache erzählen.‘“

Im Folgenden spricht der Gastfreund über den Nutzen von Barometer und Thermometer, über Wolkenbildung, regionale Wettereinflüsse und schließlich das Verhalten der Tiere bei Wetteränderung. Insbesondere die kleinen Tiere, Bienen, Käfer, Ameisen gäben durch ihr Verhalten verlässliche meteorologische Auskunft, aber auch Beobachtungen an Pflanzen seien aufschlussreich.

Der Roman beschränkt sich also nicht bloß auf die Entwicklung einer Liebesgeschichte (im Mindesten tut er das), sondern verbreitet sich weitläufig über Erziehung und ‚Bildung’ des Einzelnen, über das Sozialleben (genauer: Freundschaft und Familie), über ästhetische Theorie und Praxis (eigene künstlerische Tätigkeit sowie Wert und Wirkung von Kunst) und nicht zuletzt über das Wissen von der Natur.

Viele Erzähltheorien unterscheiden grundsätzlich zwischen Elementen der Handlung und Elementen der Beschreibung. ‚Spannung‘ im Sinne von suspense gilt als „eine dynamische, auf den Verlauf einer Handlung bezogene Spannung“ (Peter Wenzel), womit sich die entsprechende „Nachsommer“-Analyse auf die ereignishaften Erzählelemente zu konzentrieren hätte. Der an Erzählsträngen arme „Nachsommer“ thematisiert im Wesentlichen den Bildungsweg des Ich-Erzählers, dem man je nach Interpretationsschwerpunkt die Liebesgeschichte des Erzählers und die Lebensgeschichte Risachs zuordnet oder gleich- beziehungsweise gegenüberstellt. Nimmt man Fontanes Wort von „Herzenskonflikten oder Konflikten überhaupt“ ernst, dann rückt die Liebesbeziehung des Erzählers zu Natalie in den Mittelpunkt einer Spannungsanalyse. Die langsame Entfaltung der Beziehung, von der ersten, bei aller räumlichen Distanz dezidiert leidenschaftlichen Begegnung im Theater über das Eingeständnis der gegenseitigen Liebe bis hin zur Eheschließung, mag genau jenes „konstitutive Merkmal“ aufweisen, das für ‚Spannung‘ generell gesetzt wird: eine Ungewissheit, die sich aus einem „Mangel an Information, verbunden mit dem Wunsch, ihn aufzuheben“ speist (Thomas Anz). Entsprechend „zukunftsorientiert“ ist diejenige Spannung, die sich an den möglichen Entwicklungen der Beziehung zwischen dem Ich-Erzähler und Natalie entzündet. Auf welch subtile Art das Liebesverhältnis dargestellt wird, mag folgendes Textbeispiel verdeutlichen: Eine zufällige Spaziergangs-Begegnung des Erzählers mit Natalie mündet in den gemeinsamen Rückweg, auf dem der Erzähler höflich seinen Arm anbietet, den Natalie ihrerseits annimmt, „jedoch so leicht, daß ich ihn kaum empfand.“ Dieses bemerkenswerte Ereignis, die erste, wenn auch gelinde Berührung der Liebenden, lässt der Erzähler wie folgt ausklingen: „Als wir uns im Speisesaale getrennt hatten, und als jedes in sein Zimmer gegangen war, löschte ich die Lichter in dem meinigen sogleich aus, sezte mich in einen der gepolsterten Lehnstühle, und sah auf die Lichttafeln, welche der inzwischen heraufgekommene Mond auf die Fußböden meiner Zimmer legte. Ich ging sehr spät schlafen, las aber nicht mehr, wie ich es sonst in jeder Nacht gewohnt war, sondern blieb auf meinem Lager liegen, und konnte sehr lange den Schlummer nicht finden.“

Eine etwa zu konstatierende innere Bewegtheit ist nur in einer Interpretation der Abweichung von der Regel möglich. Die Tatsache, dass der Erzähler „sehr lange den Schlummer nicht finden“ kann, lädt zu Vermutungen ein, die dadurch gestärkt werden, dass sie andere Beweggründe ausschließen: Nicht die übermäßige Nachtlektüre kann die Schlaflosigkeit verursacht haben, denn der Erzähler „las aber nicht mehr, wie ich es sonst in jeder Nacht gewohnt war“. Anzunehmen ist vielmehr, dass der gemeinsame Spaziergang mit der begehrenswerten Natalie den Erzähler wachen lässt. Ein derart diskret vermitteltes Liebesverhältnis ist nicht bloß durch Informationsleerstellen geprägt (Liebt der Ich-Erzähler Natalie tatsächlich? Wird diese Liebe erwidert?), sondern selbstverständlich auch der Gefahr des Scheiterns ausgesetzt (Werden sie sich die Liebe eingestehen? Ist eine Verbindung möglich?). Diese Gefahr besteht auch nach dem gemeinsamen Treueversprechen fort – und damit die potentielle Ungewissheit des Lesers hinsichtlich des Handlungsverlaufs. Als Natalie einer scheinbaren Formalität nachgeht, nämlich die Einwilligung ihrer Mutter in den ‚Bund‘ erbittet, erläutert der Erzähler wie folgt: „An demselben [Pförtchen] blieb Natalie stehen, und sagte die Worte: ‚Ich habe gestern sehr lange mit der Mutter gesprochen, sie hat von ihrer Seite eine Einwendung gegen unseren Bund nicht zu machen.‘“ Die Vermeidung eines Wortes wie ‚keine Einwendung‘ beschwört zunächst die Katastrophe herauf („sie hat von ihrer Seite eine Einwendung gegen unseren Bund“), um dann doch mit der konfliktlösenden Zusage aufzuwarten („nicht zu machen“).

‚Spannung‘ kann nicht nur aus der Offenheit hinsichtlich zukünftiger Ereignisse resultieren, sondern mag sich auch auf zurückliegende Ereignisse beziehen, wenn nämlich unklar ist, „wie sich ein vergangenes Geschehen wirklich abgespielt hat“ (Thomas Anz). Sieht man in der Entwicklung der Liebesbeziehung zwischen dem Erzähler und Natalie die Voraussetzung für suspense erfüllt, so erfüllt das Geheimnis um Risachs Lebensgeschichte die Voraussetzung für Rätselspannung. Das Rätsel kreist dabei um ein Ereignis, das der eigentlichen Handlung vorausgeht, zunächst jedoch nur angedeutet wird: Nachdem der Erzähler bei seinem Gastfreund erstmals eingekehrt ist, er die Nacht im Rosenhaus verbracht hat und nun zum Abschied aufbricht, fragt er sich, „bei wem ich denn diesen Tag und die zwei Nächte zugebracht habe. Er hat um meinen Namen nicht gefragt, und hat mir den seinigen nicht genannt. Ich konnte mir auf meine Frage keine Antwort geben.“ Auch die Familie des Erzählers weiß keinen Rat, ist aber zuversichtlich, dass die Zeit „die Sache wohl aufklären“ werde. Als der Erzähler seinen Gastfreund zufällig in der Stadt erblickt und bei dieser Gelegenheit den Namen des früheren Diplomaten Freiherrn von Risach erfährt und sogar eine familiäre Verbundenheit ausgemacht werden kann („Der Vater kannte den Freiherrn von Risach sehr gut“), wird der Informationsfluss schon im Keim erstickt. Totum pro parte entscheidet die Familie: „Man beschloß, in dieser Sache nicht weiter zu forschen, da mein Beherberger mir seinen Namen nicht freiwillig genannt habe, und die Dinge so zu belassen, wie sie seien.“ Damit lässt es der Erzähler jedoch nicht bewenden, vielmehr tut er es Risach gleich („Ich erzählte ihm von allen unsern häuslichen Verhältnissen, […]. Meinen Namen nannte ich hiebei nicht, und er fragte auch nicht darnach“) und erweitert das Schweigegelübde auf Risachs Angehörige: „Als ich schon zum Entschlummern war, kam mir der Gedanke, ich wolle nach Mathilden und ihren Verhältnissen eben so wenig eine Frage thun, als ich sie nach meinem Gastfreunde gethan habe.“

Man mag diese Andeutungen geheimnisvoller Identitäten unter gleichzeitig erzwungener Zurückstellung aller Neugier (die ‚Eingebung‘ des Erzählers ist gewiss keine, die zur schnellen Entschlüsselung beiträgt) als ein extremes Moment der Retardation verstehen, denn „Unterbrechungen oder Dehnungen des Handlungsverlaufs und der Informationsvergabe sind charakteristische Kennzeichen der Erzeugung, Aufrechterhaltung und Intensivierung von Spannung“ (Thomas Anz). Erst im vorletzten Kapitel des „Nachsommer“ beantwortet Risach mit der Erzählung seiner Lebensgeschichte alle offenen Fragen. Die abschließend ‚gelöste‘ suspense-Spannung (Natalie und der Erzähler lieben sich, sie dürfen heiraten) hat ihre Entsprechung also in der nicht minder handlungsbestimmenden Rätselspannung (Risach gibt seine Identität preis). Geht man von der formalen Definition der Spannungsforschung aus, können beide Lebensgeschichten und folglich Adalbert Stifters „Nachsommer“ selbst nachgerade als Musterbeispiele für spannendes Erzählen gelten.

II.

In puncto Langeweile dürfte Friedrich Hebbels ‚formaler‘ Vorwurf, Stifter gehe einem extremen Detail-Manierismus nach, schwerer wiegen als die ‚inhaltlich‘ orientierte Frage nach etwaiger Konfliktarmut. Linguistische Untersuchungen zum „Nachsommer“, wie etwa diejenige vo Anastasios Athanassopoulos haben die Eigenarten von Stifters Sprachstil (und damit mögliche Faktoren für Leserlangeweile) detailliert herausgearbeitet. Exotisch mögen Stifters exzessiver Gebrauch des Flexions-‚e‘ im Dativ anmuten, die dezidierte Vermeidung von Fremdwörtern, kanzleisprachliche Wendungen und nicht zuletzt die eigentümliche Interpunktion, insbesondere der Verzicht auf Kommata bei Aufzählungen. Makrostilistisch lässt sich überdies eine Vorliebe für früher-jetzt-Vergleiche fest stellen, die mit einer Zweiteilung der Sätze einhergehen kann, die im Präteritum beginnen und dann ins Präsens wechseln: Mit Hilfe dieses Stilmittels wird weniger eine Verlebendigung heraufbeschworen, sondern manifestiert sich vielmehr der Bildungsprozess auch auf stilistischer Ebene. Der einstige Bildungsstand wird durch einen neuen, höherwertigen ersetzt (früher versus später), beziehungsweise die Vergangenheit des Erzählten wird von einer Gegenwart des für alle Zeiten Gültigen abgegrenzt (Präteritum versus Präsens). Darüber hinaus sorgt ein vorwiegend nominaler Stil für einen ausgeprägten Gestus der Wissenschaftlichkeit.

Besonders charakteristisch für den „Nachsommer“ und Stifters Schreiben generell ist die Häufung von Analogie- beziehungsweise Wiederholungsfiguren, seien es Wortwiederholungen, Reihungen, Aufzählungen oder Parallelismen: „Natalie ging wirklich, wie ich jezt selber wahrnahm, in diesem Sommer mehr als in vergangenen im Garten und in der Gegend herum, sie ging viel weiter, und ging auch öfter allein. Sie ging nicht blos bei dem großen Kirschbaume öfter in das Freie, und ging dort zwischen den Saaten herum, sondern sie ging auch geradewegs über den Hügel hinab zu der Straße, oder sie ging in den Meierhof oder längs der Hügel dahin, oder sie ging ein Stück auf dem Wege nach dem Inghofe. Wenn sie zurückgekehrt war, saß sie in ihrem Lehnstuhle, und blickte auf das, was vor ihr oder in ihrer Umgebung geschah.“

Aus der Grundformel „Natalie ging“ entwickeln sich in einer so genannten „Syntax der Langsamkeit“ (Ludwig M. Eichinger) allgemeine Erweiterungen und konkrete Spezifizierungen. Natalies Spaziergänge werden zunächst unterteilt in ‚frühere‘, die sich auf den Garten und die nahe Umgebung erstrecken, und solche aus „diesem Sommer“, die erheblich weitere Strecken umfassen. Die früheren Spaziergänge sind noch eng an die häusliche Sphäre gebunden: Natalie geht am „großen Kirschbaume“ vorbei und „zwischen den Saaten herum“. Die aktuellen Spaziergänge haben Natalie hingegen „zu der Straße“ geführt, zum Meierhof oder zum Inghof. Der immergleiche Akt des „Gehens“ erfährt sprachlich keine Variation, sondern wird fixiert in der sechs Mal wiederholten Formel „sie ging“. Anders verhält es sich mit der Reihung der Örtlichkeiten, an die sich Natalie begibt beziehungsweise begeben hat. Zur Erläuterung des Sachverhalts, Natalie geht in diesem Sommer viel weiter spazieren, als sie das früher getan hat‘, werden sowohl die früheren Spaziergänge als auch die aktuellen Wege angeführt. Erstere scheinen beschränkt zu sein, nämlich durch ein bloßes „und“ verknüpft, letztere hingegen zeichnen sich zum einen durch größere Entfernung, zum anderen durch Vielseitigkeit aus: die drei neuen Möglichkeiten werden mit „oder“ verbunden. Dieses alte und nunmehr aktualisierte Wissen des Erzählers beruht, wiederum typisch für den „Nachsommer“, auf Empirie. Das neue Wissen ist also durch Beobachtung gewonnen, wie ein Einschub scheinbar beiläufig erwähnt: „wie ich jezt selber wahrnahm“. So mag sich auch erklären, dass nicht eindeutig mitgeteilt wird, ob die Spaziergänge Natalies am Hügel enden oder sich darüber hinaus erstrecken – am Hügel endet das Blickfeld des Betrachters.

Das Leitprinzip ‚Sehen und Erkennen‘ scheint übrigens auch Natalie zu befolgen, von der man immerhin erfährt, dass sie nach ihren Spaziergängen im Lehnstuhl sitzend auf das blickte, „was vor ihr oder in ihrer Umgebung geschah“. Wiederholungsfiguren im „Nachsommer“ haben in ihrer Varianz also durchaus handlungsfunktionalen Wert – mögen mitunter aber auch in statischer Unveränderlichkeit ihre Wirkung entfalten: etwa als „Pathosformel“ (Cornelia Blasberg), als Garant der Sicherheit „in einer als unwandelbar entworfenen Welt“ (Sabina Becker), mithin als ethisch grundierte „beruhigende und bestärkende“ Ritualität (Alice Bolterauer).

Die durch Wiederholungen und Reihungen erzeugte, nicht selten enzyklopädische Ausführlichkeit des Erzählten ist nicht bloß auf die Erzählerrede beschränkt, sondern charakterisiert insbesondere auch die Ausführungen des Freiherrn von Risach. Somit entstehen Lehrgespräche, vielmehr Lehrmonologe, die ihrerseits den Bildungsweg des Erzählers prägen. Wenn der Erzähler etwa in einem Gespräch mit Risach anmerkt, dass die Rosenpracht des Landhauses umso bemerkenswerter sei, als die Hauswand die ungünstigsten Bedingungen für florale Entfaltung böte, so erstreckt sich die erläuternde Antwort des Gastfreundes auf 24 Buchseiten. Als Auszug seien die Darlegungen des Gastfreundes zur Ungeziefervernichtung durch Singvögel zitiert:

„Wie sehr diese Thiere für das Ungeziefer geschaffen sind,“ sagte er nach einer Weile, „zeigt sich aus der Beobachtung, daß sie die Arbeit unter sich theilen. Die Blaumeise und die Tannenmeise entdeckt die Brut der Ringelraupe und andere Raupengattungen an den äußersten Spizen der Zweige, wo sie unter der Rinde verborgen ist, indem sie sich an die Zweige hängend dieselben absucht, die Kohlmeise durchsucht fleißig das Innere der Baumkrone, die Spechtmeise klettert Stamm auf Stamm ab, und holt die versteckten Eier hervor, der Finke, der gerne in den Nadelbäumen nistet, weßhalb auch solche Bäume in dem Garten sind, geht gleichwohl gerne von ihnen herab, und läuft den Gängen der Käfer und dergleichen nach, und ihn unterstüzen oder übertreffen vielmehr die Ammerlinge die Grasmücken die Rothkehlchen, die auf der Erde unter Kohlpflanzen und in Hecken ihre Nahrung suchen und finden. Sie beirren sich wechselseitig nicht, und lassen in ihrer unglaublichen Thätigkeit nicht nach, ja sie scheinen sich eher darin einandern anzueifern. Ich habe nicht eigens Beobachtungen angestellt; aber wenn man mehrere Jahre unter den Thieren lebt, so gibt sich die Betrachtung von selber.“

Derartige Erzählpassagen (sei es Erzählerrede, sei es die Figurenrede Risachs) zeichnen sich nicht nur durch ihre Ausführlichkeit, sondern auch durch eine ungemein objektive, entpsychologisierte Perspektivierung aus. Diese Diskretion geht so weit, dass man den Namen des Ich-Erzählers, Signum der Identität, erst im letzten Kapitel des Buches, bezeichnenderweise beim Eintritt in den Ehestand erfährt – die Mutter Natalies fixiert den Augenblick: „Der Herr und die Frau Drendorf haben für ihren Sohn Heinrich um deine Hand geworben, Natalie.“ Der „Nachsommer“ dürfte einer der wenigen Romane sein, in denen eine dominant externe Fokalisierung vorliegt, der Erzähler also weniger sagt, als die Hauptfigur weiß, diese Hauptfigur jedoch mit dem Ich-Erzähler identisch ist (homodiegetischer beziehungsweise autodiegetischer Erzähler).

Diese Eigenarten des Stifter’schen „Nachsommer“ wie überhaupt der späten Erzählungen lassen sich interpretatorisch vielseitig auflösen. Insbesondere kann man den „Nachsommer“ als (eigenwilligen) Bildungsroman begreifen, der dem bereits im ersten Kapitel formulierten Programm nachgeht: Der Ich-Erzähler wünscht nämlich „Wissenschafter im Allgemeinen“ zu werden, was ihm sein Vater gewährt, denn „wenn jeder seiner selbst willen auf die beste Art da sei, so sei er es auch für die menschliche Gesellschaft.“ Vielfältige Studien zur Kunst und Wissenschaft, nicht zuletzt aber auch die Einübung in gesellschaftlichen Umgang garantieren dann nicht bloß die Tauglichkeit für die neue Verbindung mit Natalie, sondern auch die sittliche Wirkungsmacht des gereiften Charakters. Eine der sprachlichen Leistungen des Romans liegt dabei in der Nachahmung der Darstellung durch ihren Darstellungsmodus: Erst das wiederholte Betrachten beziehungsweise die stilistische Variation erlaubt neue, detaillierte Erkenntnis. Schon früh ist dem Erzähler ein solches Vorgehen gleichsam anempfohlen worden: „Der Vater pflegte zu sagen, ich müßte einmal ein Beschreiber der Dinge werden, oder ein Künstler, welcher aus Stoffen Gegenstände fertigt, an denen er so Antheil nimmt, oder wenigstens ein Gelehrter, der die Merkmale und Beschaffenheit der Sachen erforscht.“

Wenn nun formale Auffälligkeiten interpretatorisch rückgebunden werden können, dann muss man eingestehen, dass diejenigen stilistischen Besonderheiten, die (auch) als Auslöser von Langweile gelten, zumindest keine funktionslosen Elemente sind. Anders gesagt: Das Primat von Beschreibung gegenüber der Handlung, des Ereignislosen gegenüber dem Ereignis besteht nur scheinbar. Beschreibung sorgt für den Fortgang der Handlung, indem sich nämlich der Erzähler durch Wahrnehmung und Erkenntnis oder auch Selbstdisziplinierung und Imitation stetig fortentwickelt. Wäre es dem Erzähler etwa nicht möglich, die Bedeutung der Rosenzucht zu durchdringen, dann hätte er weder die Natur zu verstehen gelernt, noch die beispielhafte Lebensgeschichte seines Gastfreundes nachzuvollziehen vermocht, geschweige denn sie überhaupt erzählt bekommen. Für beinahe jedes ‚Ding‘, das im Roman zur Geltung kommt, wird im Laufe der Erzählung eine Einbettung in einen größeren, die Erkenntnis leitenden Kontext gegeben. Dies geschieht insbesondere auf einer Meta-Ebene, die eine Reflexion des Erzählten erlaubt: Wenn man die streng chronologische Ordnung des Erzählten kritisieren möchte, dann wird einem die Kritik durch den Erzähler genommen, der erkennt, dass in der Kunst „eben so wenig ein Sprung möglich [ist] als in der Natur.“

Wenn man die große Wahrscheinlichkeit der glücklichen Paarbildung kritisieren möchte – zwei eingeführte Nebenbuhler werden niemals so konturiert, dass sie eine ernsthafte Gefährdung darstellen könnten –, dann kommt man nicht umhin, eine solche Einschätzung mit den Romanfiguren zu teilen: „Als ich dieses gethan [von der Liebesbeziehung zu Natalie erzählt] hatte, waren sie [die Eltern] bei Weitem weniger ergriffen, als ich erwartet hatte. Sie freuten sich, aber sie sagten, sie hätten gewußt, daß es so sein würde, ja sie hätten seit Jahren die jezige Entwicklung schon geahnt.“ Wenn man schließlich die mangelnde psychologische Einsicht in die Hauptfigur beklagen möchte, dann sieht man sich zu guter Letzt von dieser eines besseren belehrt: „Wir mußten in der Festigkeit der Überzeugung der Liebe des Andern ruhen, durften uns nicht durch Ungeduld vermindern, und mußten warten, wie sich alles entwickeln werde“ – überdies gilt nicht nur die Verdammung der ungezügelten Leidenschaft, sondern auch, „daß man nicht jeden, der uns ferne steht, in unsere innersten Angelegenheiten einweiht.“

Erklärt man in diesem Sinne die (nicht nur) von Friedrich Hebbel gescholtenen Manierismen als wesentlichen Bestandteil der auf Bildung, Liebesglück und Familienintegration ausgerichteten Handlung, muss auch die formale Umsetzung der Geschichte als zumindest potentiell ‚spannungsgeladen‘ gelten (tension-Spannung). Wird insbesondere das Erziehungsprogramm des Romans berücksichtigt, dann dürfte der „Nachsommer“ wiederum als Musterbeispiel für Spannungserzeugung gelten: Aus der genauen Wahrnehmung, dem Aufspüren nuancierter Veränderungen in der (scheinbaren) Wiederholung sollte ein Höchstmaß an ästhetischer Spannung resultieren.

III.

Der Nachweis einer spannenden „Nachsommer“-Lektüre ist unvereinbar mit einem Gemeinplatz gerade auch der Stifter-Forschung: Stifters Prosa sei zwar irgendwie ‚faszinierend‘, vornehmlich jedoch ‚langweilig‘.Diese ‚Langeweile‘ bezeichnet weniger den Zustand einer ‚langen Weile’, etwa hervorgerufen durch einen stark gedehnten Spannungsbogen, sondern ist in der Stifter-Rezeption (und wohl auch generell bei als ‚langweilig‘ empfundener Lektüre) charakterisiert durch ein stark subjektiv geprägtes fastidium, das die von Überdruss bis hin zum Widerwillen ausgreifende „Publikums- und Leserlangeweile“ (Ludwig Völker) bezeichnet.

Mit ‚Langeweile‘ kann folglich kaum die Beschaffenheit eines Textes bezeichnet werden, sondern nur ein auf die Lektüre bezogenes subjektives Leserempfinden. Wird vice versa ‚Spannung‘ beschrieben als „Wirkungsdisposition von Texten, die mit Techniken verzögerter Wunscherfüllung gemischte Lust- und Unlustgefühle der Ungewißheit hervorrufen“ (Thomas Anz), dann ist zwar die (auch als ‚Antizipation’ verstandene) „Ungewißheit“ ein objektivierbares Merkmal, muss aber gleichzeitig an den jeweiligen Leser rückgekoppelt werden, auf den ein Text so wirkt, anders wirkt oder nicht wirkt. Texte haben also keine objektivierbare „Wirkungsdisposition“, sondern sind bloß auf objektivierbar beschreibungsfähige Weise strukturiert, entfalten aber unterschiedliche Wirkungen auf unterschiedlich empfindende Leser.

Es ist also denkbar, dass sich manche oder gar viele Leser bei Lektüre des „Nachsommer“ langweilen – obwohl die strukturelle Anlage von suspense und Rätselspannung eindeutig nachgewiesen werden kann. Eine rein textorientierte Spannungsforschung ist aber unzureichend, wenn das Ergebnis nach der Interpretation lauten muss, dass sich der Leser über seine Gefühle irrt: Wer sich bei Lektüre des „Nachsommer“ langweilt, liest ,falsch‘. Die Wirkung eines Textes liegt zwar auch in seiner Struktur begründet, ist aber deswegen nicht automatisch aus dieser herauszulösen: Wann oder ob man bei der Lektüre (oder Aufführung) von Gotthold Ephraim Lessings „Emilia Galotti“ zu weinen beginnt, lässt sich schwerlich objektivieren, und schon die unmittelbare Lessing-Rezeption besticht durch die Vielfalt ihrer Wirkungszeugnisse.

Ist man trotz allem gewillt, nicht bloß (historisch wandelbare) Wirkungskonzepte – ,Mitleid‘, ,Katharsis‘ oder auch ,Spannung‘ –, sondern auch Wirkungsdispositionen von Texten zu analysieren, so scheint ein empirisch-literaturpyschologisches Fundament unabdingbar. In der Spannungsforschung wird bisweilen angenommen, dass Langeweile entsteht, weil es den Lesern nicht gelingt, sich mit einer Figur des Romans zu identifizieren beziehungsweise zu ,empathisieren’. Daraus konnte aber bislang noch nicht überzeugend geschlossen werden, dass Leseridentifikation mit einer maßgeblich handlungsbeteiligten beziehungsweise fokalisierten Figur generell ein konstitutives Merkmal von Spannung wäre und eine solche Leseridentifikation gar mit expliziter psychologischer Konturierung der Figur verknüpft sein müsste. Auch die Frage nach der ‚Länge‘ eines Spannungsbogens, der Anzahl der Spannungsbögen, der Häufigkeit von Exkursen, dem Verhältnis von statischer Deskription und Handlungsdynamik, nicht zuletzt nach der Handlungs- und Ereignisintensität, wird wohl erst dann zufriedenstellend auf ,Spannung‘ hin analysiert werden können, wenn man zuvor die entsprechenden Daten erhoben hat: Wie viele (geübte?) Leser reagieren in welchem Maße auf welche Textstellen? In Kauf zu nehmen ist dabei, dass die Ergebnisse nur darüber Aussagen treffen können, wie Leser des 21. Jahrhunderts auf etwa einen Roman des 19. Jahrhunderts reagieren, nicht aber, welche ‚Wirkungsdisposition‘ der Roman generell aufweist.

Selbstredend gelten die Vorbehalte nicht bloß für suspense-Spannung: Auch mit den im „Nachsommer“ überreich vorhandenen tension-Strukturen lässt sich schwerlich auf verallgemeinerbare Leserreaktionen schließen. Zwar werden Autoren schon von den antiken Poetiken zur varietas, zur brevitas oder zur pathetischen, auf starke Affekte abzielenden amplificatio gemahnt: Zweifelsfrei können aber auch konzentrierte, ausladende und ‚nüchterne‘ Darstellungen als spannend empfunden werden. Stifters „Nachsommer“ mag hier ein Beispiel abgeben – wenngleich das nicht bedeutet, dass auch bei Stifter allem immerzu die volle Konzentration gewidmet werden kann. Heinrich Drendorf, der sich seines strengen, nicht zuletzt zur Aufmerksamkeit ausbildenden Erziehungsprogramms sehr bewusst ist, hat es mit Humor genommen: „Er [der Gärtner des Asperhofes] zeigte mir wieder seine Pflanzen, erklärte mir, was neu erworben worden war, was sich besonders schön entwickelt habe, und was in gutem Stande geblieben sei; er erzählte mir auch, welche Verluste man erlitten habe, wie die Pflanzen im schönsten Gedeihen gewesen seien, die man verloren habe, und welchen besonderen Ursachen man ihren Verlust zuschreiben müsse. Er bedachte hiebei nicht, daß etwa meine Gedanken anderswo sein könnten, wie er bei einer früheren Gelegenheit auch nicht geahnt hatte, daß mein Gemüth abwesend sei, da er mir ebenfalls mit vieler Lust und großer Umsicht seine Gewächse erklärt hatte.“

Anmerkung der Redaktion: Eine erweiterte Fassung mit Fußnoten und Hinweisen finden Sie hier zum Download.