Der Psychoprophet steigt aus

Javier Marías beendet mit „Gift, Schatten und Abschied“ seine Roman-Trilogie „Dein Gesicht morgen“

Von Peter MohrRSS-Newsfeed neuer Artikel von Peter Mohr

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Sollte sich jedoch jemand durch die insgesamt 1600 Seiten lesen und erwarten, eine Spionagegeschichte zu finden, er wird enttäuscht werden“, erklärte der spanische Erfolgsschriftsteller Javier Marías über seine Romantrilogie „Dein Gesicht morgen“, die er nun nach acht Jahren Gesamtarbeitszeit mit dem Band „Gift und Schatten und Abschied“ abgeschlossen hat.

Als „Psychoprophet“ und „Dolmetscher des Lebens“ wurde der Sprachwissenschaftler und Journalist Jaime Deza von seinen Zeitgenossen im 2004 in deutscher Übersetzung erschienenen ersten Band der Trilogie bezeichnet. Der Protagonist Deza, eine Art alter ego des Autors, arbeitet immer noch bei einer Sondereinheit des britischen Geheimdienstes und ist darauf spezialisiert, Gestik, Mimik und Gesichter zu analysieren und daraus Rückschlüsse auf zu erwartendes zukünftiges Handeln zu ziehen. „Ich hatte viel Zeit damit verbracht, jeden Tag mit immer größerer Ungezwungenheit und Sorglosigkeit zu urteilen, mir Stimmen anzuhören und Gesichter zu betrachten, zu sagen, wem man trauen könne und wem nicht, wer töten und wer sich töten lassen würde und warum, wer Verrat üben und wer sich loyal zeigen würde“, erklärt Marías’ Hauptfigur über ihre Arbeit.

Beim 58-jährigen Marias, den das Literarische Quartett Mitte der 90er-Jahre mit Titeln wie „Mein Herz so weiß“ und „Morgen in der Schlacht“ für den deutschen Sprachraum entdeckt hatte, sucht man das lineare, ungebrochene Erzählen vergebens. Marías präsentiert sich wieder einmal als Meister der Ausschweifung und der großen Exkurse, als Vorreiter des Pensamiento literario und darin seinem 2005 verstorbenen Vater Julián geistig verwandt, der einer der bedeutendsten spanischen Philosophen des 20. Jahrhunderts war.

Der vorliegende Abschlussband des opulenten Erzählprojekts kreist vor dem realen Hintergrund der Terroranschläge von New York, London und Madrid um die Frage nach der Legitimation von Gewalt und Gegengewalt und katapultiert die Hauptfigur Jaime Deza in eine tiefe Lebenskrise. Mehr und mehr fühlt sich der Protagonist vom Zynismus seines Chefs Tupra angewidert. Deza befindet, dass die Erzählungen des Geheimdienstobersts im „Gestrüpp oder Sand oder Morast enden.“ „Warum kann man nicht einfach herumprügeln und töten?“, fragt der skrupellose Geheimdienstler Tupra. „Weil so niemand leben könnte“, entgegnet Deza seinem Vorgesetzten und leitet damit die Phase der Abkehr ein.

Eine gehörige Portion Selbstironie steckt in Javier Marías’ Charakterisierung Tupras: „Er war imstande, jeden endlos zu unterhalten, das Interesse anderer an dem zu wecken, was an sich uninteressant und nebensächlich war.“ Tatsächlich passiert auf den ersten zweihundert Seiten des Romans so gut wie nichts, sieht man einmal davon ab, dass zwei Männer ausschweifend über Gott und die Welt, über Gewalt, Vertrauen, Misstrauen, Verrat und einstige Hollywood-Schönheiten philosophieren.

Sollte Marías seine Ankündigung wahr machen, dass dies sein letzter Roman ist („Ich habe das gewisse Gefühl, dass ich möglicherweise nach diesem Buch nie wieder Romane schreibe. Ich kann mir nicht vorstellen, eine neue, umfangreiche fiktive Welt zu erschaffen.“), dann hat er seinen Landsleuten zum „literarischen Abschied“ zwischen den Zeilen noch einige schwer verdauliche Brocken aufgetischt. Mittels der Figur Jaime Dezas kritisiert er den Werteverfall, das schlechte Bildungsniveau und die sprachlichen Schlampereien. Er geißelt Handys als „Überwachungsinstrumente“ und attestiert der Prado-Leitung, dass sie das Museum „wie einen Supermarkt“ führe.

Am Ende des Romans kehrt der eigenbrötlerisch und leicht versponnen gezeichnete, introvertierte Deza trotzdem nach Madrid zurück, wo seine geschiedene Frau, seine Kinder und sein alternder Vater leben. Den Absprung vom Geheimdienst hat er geschafft, aber in der spanischen Hauptstadt (so Marías latente Botschaft) wartet alles andere als das Paradies auf ihn. Die Sehnsucht nach familiärer Geborgenheit und Ruhe verleiht dem ansonsten unnahbar wirkenden, vergeistigten Jaime Deza am Ende sogar sympathische Züge.

Titelbild

Javier Marías: Dein Gesicht morgen. 3 Gift und Schatten und Abschied.
Übersetzt aus dem Spanischen von Elke Wehr und Luis Ruby.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2010.
723 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-13: 9783608937169

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