Der Unfall als integraler Bestandteil moderner Gesellschaften

Der von Christian Kassung herausgegebene Sammelband „Die Unordnung der Dinge“ weist dem Unfall seinen systematischen Ort zu

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Unfall hat in der modernen Gesellschaft seinen spezifischen Ort. In einer kulturellen Denkform, in der das störungsfreie Funktionieren von technischen Hilfsmitteln und das Fortbestehen gesellschaftlicher Verhältnisse zwar verdeckt, aber doch dominant ist, kennzeichnet der Unfall als Störmoment das Gegenmoment gesellschaftlicher Ordnung, er ist das Moment des Chaos, des Unvorhergesehenen. Der Extremfall, der Einbruch einer Macht, die sich der Verfügungsgewalt des Menschen, der Gesellschaft und ihrer Institutionen entzieht. Der Unfall steht für das Andere der gesellschaftlichen Ordnung, ist also mit einer spezifischen Form von Kontingenz versehen, die vor allem anzeigt, dass hier etwas Unbegriffenes geschieht.

In der medialen, und mithin auch der literarischen Gestaltung ist dieses Verständnis vom Unfall beinahe omnipräsent. Die Bemühungen gehen in den medialen Narrationen stets dahin, die Handlungsmacht des Subjektes in der Extremsituation zu beweisen, die Ordnungsstörung so bald wie möglich wieder aufzuheben und den Normalzustand, der störungsfrei ist, wiederherzustellen.

Jedoch schleicht sich in diese offensichtliche kulturelle Repräsentation des Unfalls eine weitere Ebene ein, in der das Extraordinäre des Unfalls zugunsten seiner ordinären Qualität aufgegeben wird. Der Unfall ist in diesem Verständnis nicht mehr das Gegenteil der Ordnung, sondern Bestandteil des gesellschaftlichen Systems. Und zwar nicht, weil er erwünscht wäre, sondern weil er vom System selbst erzeugt wird.

Ulrich Beck hat dies in seiner wirkungsreichen Studie zur „Risikogesellschaft“, die bereits 1986 erschienen ist, zum Thema gemacht: Die Entwicklung der gesellschaftlichen Systeme erzeugt spezifische Risiken als integrale Bestandteile. Allerdings haben, so Beck, diese neuen Risiken der Zweiten Moderne keine individuellen, sondern kollektive, ja sogar globale Auswirkungen. Ein Unfall in der „Weltrisikogesellschaft“ (so ein Band Becks aus dem Jahr 2007) betrifft so gesehen nicht nur Einzelne, sondern die Gesellschaft insgesamt – zumindest potentiell. Der Unfall wird dabei zum Risiko, dessen Eintreten statistisch ist. Ob es Einzelne oder Kollektive trifft, ist demnach eine Frage der Wahrscheinlichkeit, und eben nicht mehr des Zufalls als unregulierbarer und unregelbarer Instanz.

Die Industriegesellschaften entwickeln dieses Muster im Laufe des Modernisierungsprozesses. Mit der Implementierung technischer Aggregate in den gesellschaftlichen Apparat, mit der Entwicklung der Massen- und Industriegesellschaften werden technische Apparate und Einrichtungen zu Risikofaktoren. Schiff, Eisenbahn, Automobil, Flugzeug und schließlich das Raumfahrzeug werden zwar mit dem Anspruch entworfen, das Alltagsleben zu erleichtern und die menschliche Wirkungsmacht zu vergrößern – zugleich tragen sie ihr Misslingen und den Störfall bereits in sich und erzeugen bis dahin nicht gekannte Risiken.

Dies führt zu einem Denkmuster, das im von Christian Kassung herausgegebenen Band zur Epistemologie des Unfalls im Vordergrund steht. Dafür bemüht Kassung keinen geringeren als Paul Virilio, der in einem kleinen Text aus dem Jahr 2008 den „systemischen“ Charakter des Unfalls betont. Der Unfall wird damit zum „integralen“ und „seriellen“ Moment, das vielleicht nicht notwendig eintritt, aber dennoch notwendigen Charakter hat.

Dass nicht alle Autoren der Grundthese folgen, die Kassung in seiner Einleitung in den Vordergrund stellt (auch wenn er sie im Titel unter der Hand suspendiert), ist angesichts ihrer Tragweite kaum überraschend. Immerhin ist die These, dass Unfälle die Ordnung stabilisieren, Katastrophen die Gesellschaft und Kultur fundieren, weitreichend. Sie stößt sich an dem oben skizzierten Denkmuster, das im Unfall die Störung und in der Störung das Jenseits der Ordnung, also Chaos erkennt.

Allerdings zeigen die Beiträge, die ein weites thematisches Spektrum behandeln, wie sehr das Verständnis des Unfalls mit dem der modernen Gesellschaft verbunden ist. So lässt der Beitrag zur Geschichte des Schiffsbruchs (Burkhard Wolf) und der damit verbundenen Versicherungs- und Vorsorgebemühungen erkennen, dass die Moderne sich nicht nur mit der Veränderung von Gesellschaft beschäftigt, sondern auch mit der Entwicklung eines angemessenen Risikoverständnisses und hinreichender Bewältigungsinstrumentarien. Das sieht für den Eisenbahnverkehr (Esther Fischer-Homberger) und das Flugwesen (Christoph Asendorf, Harry Collins/Trevor J. Pinch) in der Ausführung anders aus. Fischer-Homberger zeigt am Beispiel des Eisenbahnunglücks auf der Paris-Versailles-Linie im Jahr 1842, wie schwer sich die Gesellschaft mit dem Unvorhergesehenen des Unfalls tat. Collins und Pinchs Darstellung des Challenger-Unglücks lässt hingegen durchblicken, wie komplex technische Diskussionen verlaufen, die sich mit der Bewertung von Unfallrisiken a priori beschäftigen. Einfache Lösungen, die etwa einer Partei nachsagen, sie hätte aufgrund ökonomischer oder politischer Interessen unverhältnismäßig hohe Risiken akzeptiert, greifen hier nicht. Aus einem Irrtum mehr als nur das Lernpotential ableiten zu wollen entspricht nicht der Komplexität realer Verhältnisse. Gerade aus dem Challenger-Unglück ist vielmehr erkennbar, dass Unfallrisiken bewertet werden müssen, und dass diese Bewertung in großem Maße von Erfahrungen abhängig ist, die wiederum bewertet und kodifiziert werden müssen. Ein schwieriges, fehleranfälliges Geschäft.

Das zeigt sich nicht minder an den prominenten Unfällen, die Mediengeschichte geschrieben haben. Wolfgang Hagen zeigt die Problematik in der medialen Verarbeitung des Untergangs der Titanic, zugleich aber auch die Rolle, die das Medium Funk bei dem Unglück und seiner Bewältigung gespielt hat. Die Rolle der gesellschaftlichen Apparate bleibt eines der basalen Themen des Bandes, wie nicht zuletzt Wolfgang Coys Beitrag deutlich macht, der die Grenzen der Zuverlässigkeit bei der rechnerischen Verarbeitung großer Datenmengen zeigt. Eine Addition in einer Tabellenkalkulation wie Excel nachrechnen zu wollen, wird vom dummen Scherz, mit dem Buchhalter aufgezogen werden, zur notwendigen Vorsorgemaßnahme, um nicht fatale Irrtümer ungewollt hinnehmen zu müssen. Dass dies Auswirkungen auf eine zunehmend rechnergestützte Realitätsbewältigung hat, zeigen Unfälle, die ebenso auf fehlerhafte Programmierungen zurückgehen wie auf unzulässig behandelte Datenmengen.

Dabei wird der Unfall selbst zu einem schnellen, kaum einholbaren und nie fixierbaren Moment – wie jeder Augenblick. Das Vorher und Nachher des Unfalls sind einfacher zu behandeln und zu fassen, wie sich etwa am berühmten Einstieg in Robert Musils Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“ zeigt, der in drei der Beiträge angesprochen wird. Dort wird das flanierende Paar auf den Unfall im Moment danach aufmerksam, was den Herren und die Damen zu einem aufschlussreichen Dialog über Bremswege und die Häufigkeit von Unfällen motiviert.

Freilich weitet etwa Benno Wagner das terminologische Feld um den Unfall etwas weit aus, indem er die Störmomente in der Erzählprosa Franz Kafkas (der als Versicherungsmitarbeiter zu Beginn des 20. Jahrhunderts an zentraler Stelle die Konstituierung des Unfalls als gesellschaftliches Risiko mitdiskutiert) generell als Unfallmomente begreift. Aber weder das Verschlafen Gregor Samsas in der Erzählung „Die Verwandlung“ noch die Verhaftung des Herrn K in „Der Process“ sind als Unfälle zu kennzeichnen. Auch lässt sich keine plausible Gemeinsamkeit herstellen, indem das Kafkasche Erzählkontinuum wie der Unfall in der modernen Gesellschaft in ein „permanentes Oszillieren zwischen dem realen Raum des faktischen und dem virtuellen Raum des wahrscheinlichen Ereignisses“ aufgelöst wird. Gerade „Der Process“ verweist auf ein anderes Problemfeld der Moderne, nämlich das der Verunsicherung der individuellen Existenz in einer Gesellschaft, die sich der direkten sinnlichen Anschauung und Einwirkung mehr und mehr entzieht. Dies mag ein verbindendes Element sein, was die Differenz der Problemfelder aber nicht tilgt.

Solche Kritik zeigt letztlich, dass es Kassung und den Autoren des Bandes gelungen ist, ein Debattenfeld zu eröffnen, das von höchstem Interesse ist und das als Zugang zu den Phänomenen und Themenbereichen der industriellen Moderne seit dem frühen 19. Jahrhundert aufschlussreiche Ergebnisse sichtbar werden lässt. Entstanden ist ein anregender, nützlicher und diskutabler Band mit zahlreichen lesenswerten Beiträgen. Wie die Ankündigung einer Berliner Tagung unter der Leitung Kassungs zeigt, wird noch Weiteres folgen, das auch mit Spannung erwartet werden kann.

Titelbild

Christian Kassung (Hg.): Die Unordnung der Dinge. Eine Wissens- und Mediengeschichte des Unfalls.
Transcript Verlag, Bielefeld 2007.
473 Seiten, 29,80 EUR.
ISBN-13: 9783899427219

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch