Erstmal am Ende

Der Leipziger Autor Clemens Meyer erzählt in seinem dritten Buch „Gewalten. Ein Tagebuch“ in elf Geschichten von seinem Alltag

Von Jule D. KörberRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jule D. Körber

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein Tagebuch schildert die Ereignisse eines bestimmten Zeitraumes aus der eingeschränkten Sicht eines Erzählers – meistens betreffen die Ereignisse den Erzähler selbst, sonst würden sie wohl kaum Eingang in das Tagebuch finden. Der Untertitel des neuesten Werkes des hochgelobten Leipziger Autoren Clemens Meyer, „ein Tagebuch“, ist deshalb in mancherlei Hinsicht richtig und doch falsch. Der beschriebene Zeitraum ist das Jahr 2009, und Meyer selbst ist der Erzähler, der sich mit Alltagsereignissen beschäftigt: Es geht um den Guantánamo-Fall des Murat Kurnaz, um die Amokläufe von Winnenden und Erfurt, um den Mordfall Michelle, der sich in der Nachbarschaft von Meyers Wohnort in Leipzig ereignete, aber auch um sehr persönliche Erlebnisse wie das Sterben eines Freundes im Hospiz, ein Lokalderby verfeindeter Leipziger Fußballmannschaften oder die Reisen in andere Städte.

Leitmotiv ist hierbei die Gewalt in ihren verschiedensten Formen, betrachtet von einem Ich-Erzähler, der immer wieder mit „Herr Meyer“ angesprochen wird, aber verloren gegangen zu sein scheint in einer halbfiktiven Welt, in der er ziellos herumirrt und in die immer wieder die Gegenwart einbricht.

So werden die Amokläufe aus Sicht eines Ego-Shooter-Computerspielers erzählt. Für die literarische Bearbeitung des Mordfalls Michelle trifft sich der Erzähler mit dem jugendlichen Mörder und versucht, dessen Handlungen zu verstehen. Und um sich mit dem Ex-Guantánamo-Häftling Kurnaz zu beschäftigen, erfindet der Autor einen Informanten, der ihm exklusiv Material für ein Drehbuch zuspielt.

Die Geschichten nehmen ein rasendes Tempo an, die Erzählungen des Protagonisten schweifen immer wieder ab, der Erzähler wirkt überfordert und fanatisch; manche der Geschichten scheinen nur so erzählbar zu sein. Bei anderen wiederum bewirkt Meyers Stil eine unnötige künstlerische Verzerrung. Da sich aber alle Geschichten in dem Buch unter dem Titel „ein Tagebuch“ sammeln lassen müssen, erscheint das wiederum konsequent.

Der Stil ist atemlos und filmisch, und es gibt viele Schnitte. Der ganze Band liest sich wie ein Stakkato-Kurzfilmabend, in dem nur ab und an auch ruhigere Szenen vorkommen, wie zum Beispiel die, in der der Erzähler Boot fährt und vom Wasser aus sich paarende Schnecken beobachtet.

„Es ist ein literarisches Tagebuch, mit dem ich einen Kosmos erzeugen wollte, einen Abriss des Jahres 2009, der die Gewalten zeigen soll, denen die Menschen in diesem Jahr unterworfen waren. In dieses Buch habe ich alles, was ich an physischer und psychischer Kraft hatte, hineingesteckt. Danach war ich erst einmal am Ende“, sagt der Autor selbst über sein Werk. Diese Kraftanstrengung ist in jeder Zeile erlesbar.

Titelbild

Clemens Meyer: Gewalten. Ein Tagebuch.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2010.
224 Seiten, 16,95 EUR.
ISBN-13: 9783100486035

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