Von der Entprovinzialisierung des Wissens

Ottmar Ette berichtet über Alexander von Humboldts Versuch einer globalisierten Weltsicht

Von Klaus-Jürgen BremmRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus-Jürgen Bremm

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

War der im Kometenjahr 1769 geborene Alexander von Humboldt einer der letzten Universalgelehrten der europäischen Aufklärung oder schon der frühe Protagonist einer neuen und angeblich revolutionären Methode der Wissenschaft?

Folgt man dem Potsdamer Literaturwissenschaftler Ottmar Ette, so muss die von allen deutschen Forschern im atlantischen Raum fraglos bekannteste Persönlichkeit tatsächlich zu den Visionären eines neuen Wissenschaftsansatzes gezählt werden, der die begrenzte Perspektive eines eurozentrischen Denkens nachhaltig überwand und erstmals das Tor zu einer globalisierenden Betrachtung der Welt aufstieß.

Der preußische Universalgelehrte und Weltreisende grenzte sich daher auch scharf von den Vertretern einer noch in starren Systematiken denkenden Aufklärung wie etwa dem Niederländer Cornelius de Pauwe ab, dessen viel gelesene „Recherches philosophiques sur les Américains“ ausschließlich in der Studierstube entstanden war und die vor allem darauf abzielte, anhand von zahlreichen und oft unhaltbaren Vergleichen der alten und neuen Welt die angebliche Inferorität der Bewohner Amerikas zu belegen.

Dagegen näherte sich Humboldt auf seiner großen Amerikareise von 1799 bis 1804 dem schon bald in revolutionärem Aufruhr versinkenden Doppelkontinent aus einer multipolaren Perspektive, die ihm nicht nur das hohe Alter und die monumentale Eigenständigkeit der amerikanischen Kulturen zu erfassen ermöglichte, sondern die vor allem auch die vergangenen und zukünftigen Wechselwirkungen mit anderen Kulturen und Kontinenten in Betracht zog. Nicht aus sich selbst heraus versuchte Humboldt seine Forschungsgegenstände zu begreifen, sondern vor allem aus ihren Beziehungen und Vernetzungen zu anderen Gegenständen. Forschung wurde auf diese Weise erstmals multipolar. Ette spricht dann auch in diesem Zusammenhang neudeutsch von „Transarea-Studien“: „Die Zusammenführung und mehr noch das Zusammendenken von Informationen über die voneinander entferntesten Gebiete der Welt machte im Kontext einer nicht mehr einfach zu bündelnden, sondern in Vernetzungen umzusetzenden Datenflut die Entwicklung von Konzeptionen notwendig, die sich nicht allein auf eine einzelne Area wie etwa die iberischen Kolonien Amerikas beschränken konnten.“

Trotz eines langen Forscherlebens und seines wissenschaftlichen Ruhmes blieben jedoch Leben und Werk des 1859 verstorbenen preußischen Kosmopoliten nach Ansicht des Verfassers bis in die jüngste Vergangenheit weitgehend unverstanden. Ette zeigt in seiner ausführlichen Rezeptions- und Werkgeschichte auf, wie jede Epoche das umfangreiche Œuvre des Forschers für ihre eigenen Zwecke kontextualisiert hat. In einer amerikanischen Textausgabe von 1856 missfielen Humboldts kritische Aussagen über die Sklaverei in Kuba, gleichwohl wurde aber dessen statistisches Material als Argument für eine rasche Inbesitznahme der Insel benutzt. Andere Übersetzer oder Kompilatoren seines Werkes wiederum schienen eher an seinen Reiseerlebnissen interessiert zu sein und ein jüngst herausgebrachter und geradezu euphorisch gefeierter historischer Roman schildert den jüngeren Bruder des preußischen Bildungsreformers gar als ungelenken Reimeschmied.

Dass sich der gestandene Literaturprofessor nun seitenweise an dem aus seiner Sicht kaum zu rechtfertigenden Erfolg des jungen Daniel Kehlmann abarbeitet, ist indes nicht der einzige Anlass zur Irritation. Entgegen der Ankündigung des Verlages handelt es sich bei dem vorliegenden Band keineswegs um eine Biografie. Ette liefert vielmehr nur eine ausführliche und nicht immer leicht zu lesende Genese des Humboldt’schen Wissenschafts-Polyzentrismus. Hierbei verstimmen den geduldigen Leser jedoch nicht nur die zahlreichen Wiederholungen und Redundanzen, sondern auch eine aus Bandwurmsätzen bestehende Wissenschaftssprache, womit der Verfasser stilistisch keinesfalls seinem hoch gepriesenen Protagonisten folgt. Von den zahllosen Beispielen bietet sich folgender Passus als wohl eindrucksvolles Exempel an: So schreibt Ette über das humboldtsche Wissenschaftsmodell: „Auseinander-Setzen und Zusammen-Denken implizieren stets ein Auseinander-Denken und Zusammen-Setzen, das auf der epistemologischen Ebene transdisziplinar und transregional ausgerichtet ist, auf der Ebene des Schreibens aber einen fragmentarischen, hybriden Charakter besitzt, der in Humboldts Denk- und Schreibbewegungen bisweilen aus heutiger Sicht einen gewissen dekonstruktiven, in jedem Fall aber selbstreflexiven und selbstkritischen Charme besitzt.“ Über den Charme des hier vorgestellten Satzes mögen andere entscheiden.

Oft gelangt man als Leser auch zu dem Eindruck, dass Ette die zitierten Passagen aus Humboldts Werk für seine Zwecke überinterpretiert. So wertet er Humboldts gewiss ansprechende, aber keineswegs außergewöhnliche Schilderung seiner ersten Ankunft im Hafen von Havanna als „eindrucksvolle Passage“, in der sich, so der Potsdamer Literaturprofessor, auf der Basis eines „erzähltechnischen travelling“ aus der eigenen Bewegung das Porträt des kubanischen Haupthafens als Bewegungsort entfalte.

„Immer neue Mischungsverhältnisse, immer neue globale Wechselwirkungen machen sich bemerkbar: zwischen Europa und Amerika, zwischen heißen und gemäßigten Klimaten, zwischen Nordhalbkugel und Südhalbkugel, zwischen Land und Meer, zwischen Europäern und Antillanern, zwischen Natur und Kultur, zwischen Stadt und Land, zwischen Bäumen und Schiffsmasten […].“ Es bleibt Ettes Geheimnis, wie er aus diesem harmlosen Text, der sich mit ähnlichen Bezügen in Dutzenden von anderen Reisebeschreibungen leicht wiederfinden ließe, eine spezifische Form des „Humboldtian Writing“ herauslesen will. Hier wie so oft in diesem eigenartig abschweifenden Text hat man als Leser das Gefühl, mit einem Schwall heißer Luft abgespeist zu werden.

Ette wäre seinem fraglos bedeutenden Anlagen, Humboldt als frühen Protagonisten einer global argumentierenden Wissenschaft zu schildern, erheblich gerechter geworden, wenn er sich auf das Wagnis eingelassen hätte, eine echte Biografie seines Helden zu schreiben. Das wirklich Neue an Humboldts Denken und Forschen hätte er so glaubwürdiger und prägnanter aus der Vita des preußischen Gelehrten entwickeln können und damit zugleich auch ein bedeutendes Stück Wissenschaftsgeschichte abgeliefert. Es wären dabei gewiss noch andere Vernetzungen intellektueller Art ins Spiel gekommen, um in Ettes Diktion zu sprechen. War es denn tatsächlich Humboldt allein, der die geschilderten Wege beschritt, hatte er Vorläufer, gab es gar Kritiker? Lassen sich vielleicht gar Vergleiche zu Francois Champollion ziehen, der genau zeitgleich zu Humboldt eine andere fremde Welt entdeckte und dem dieser gewiss später in Paris begegnet ist? Ette sagt indes nichts darüber. War schließlich allein die schwierige Werkgeschichte daran schuld, dass der Universalwissenschaftler so schnell in Vergessenheit geriet und sein angeblich so viel versprechendes Globalisierungsmodell noch so lange auf seine Wiederentdeckung warten musste. Oder hatte es auch mit einer im 19. Jahrhundert rasch fortschreitenden Spezialisierung der Wissenschaften zu tun, die Humboldts Betrachtungen eher als oberflächliche Generalisierungen abtat. Ette deutet dies zumindest an. Insgesamt aber lassen seine wiederholten hymnischen Beschreibungen der Humboldt’schen Methoden die notwendige kritische Distanz des Verfassers zu seinem Gegenstand schmerzlich vermissen.

Titelbild

Ottmar Ette: Alexander von Humboldt und die Globalisierung.
Insel Verlag, Frankfurt a. M. 2009.
476 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783458174349

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