Brillant trotz verfehltem Publikum

Der von Pascal Nicklas herausgegebene Sammelband „Ian McEwan: Art and Politics“ ist weniger für den Englischunterricht als für fachwissenschaftliche Leser geeignet

Von Kirsten SandrockRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kirsten Sandrock

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Bis auf die Auswahl der Buchreihe ist der von Pascal Nicklas herausgegebene Sammelband „Ian McEwan: Art and Politics“ durchweg grandios. Normalerweise sind Buchreihen dazu da, ein bestimmtes Publikum anzusprechen und dessen fachliche oder thematische Interessen zu bedienen. Wenn also ein Buch in der vom Universitätsverlag Winter herausgegebenen Reihe „Anglistik und Englischunterricht“ veröffentlicht wird, so denkt der Leser zunächst an eine fachdidaktische Aufarbeitung von Ian McEwans Werk und verspricht sich neue Einsichten hinsichtlich der Verbindung von Wissenschaft und Schule beziehungsweise universitärem Unterricht. Nicklas’ Sammelband hingegen richtet sich primär an ein fachwissenschaftliches Publikum, das sich mit zentralen Themen der Narrativistik und Literaturgeschichte auskennt. Diesen Lesern wird der Band zur Schließung einer wichtigen Lücke in der Sekundärliteratur zu McEwan dienen, nämlich der Frage nach dem Verhältnis von Kunst und Politik, das sich im Fall von McEwan primär in dem Verhältnis von Literatur und Moral manifestiert.

Die Verbindung von politisch-historischen mit künstlerisch-literarischen Fragestellungen gehört zu den zentralen Themen in McEwans Œuvre. Der Sammelband fokussiert diese komplexe Synthese von ästhetischen und moralischen Funktionen in McEwans Werken und schließt dabei sowohl das hierzulande recht unbekannte Frühwerk („First Love, Last Rites“ (1975), „The Cement Garden“ (1978), „In Between the Sheets“ (1978)) als auch die Publikumserfolge „Amsterdam“ (1998) und „Atonement“ (2001), sowie die aktuellen Werke „Saturday“ (2005) und „On Chesil Beach“ (2007) ein. Dabei fehlt es zwar häufig an einer didaktischen Aufarbeitung des Verhältnisses von Kunst und Politik, die für den schulischen oder universitären Gebrauch hilfreich gewesen wäre. Aber wer mit Begriffen wie psychologischer Realismus, Metanarration oder Kathartischer Horror vertraut ist, dem werden die insgesamt elf Aufsätze des Sammelbandes große Freude bereiten.

In seiner Einführung fasst Nicklas die Hauptargumente der Artikel zusammen und weist auf die literaturwissenschaftliche Einordnung McEwans als einen quer zur Postmoderne stehenden Autor hin. Dabei dient der anfängliche Rückbezug auf Plato und dessen Warnung vor Literatur als potentielle Quelle der moralischen Verunreinigung zwar kaum als theoretische Vorbereitung auf die nachfolgenden Aufsätze, ist jedoch vor dem Hintergrund der noch heute bestehenden Binarität von Kunst und Politik in der westlichen Gesellschaft relevant. Wünschenswert wäre in Anbetracht der anvisierten Leserschaft darüberhinaus ein Glossar der in dem Buch verwendeten Termini und Theorien gewesen, sowie ein profunderer Überblick über die Frage nach Kunst und Moral in der Literaturwissenschaft beziehungsweise Literaturgeschichte.

Dennoch werden auch nicht-fachwissenschaftlich ausgebildete Leser einige Aufsätze in dem Band finden, die komplexe, theoretische und literaturwissenschaftliche Fragestellungen auf eine verständliche Ebene herunterzubrechen vermögen. Positiv sticht hier zum einen der Aufsatz „Dismembering a Romance of Englishness: Images of Childhood in Ian McEwan’s The Innocent“ von Katharina Dodou heraus. Der Autorin gelingt es durch ungekünstelte Sätze wie „childhood imagery […] calls into question a deep-seated myth of national greatness“ Einsichten in das zwiespältige Verhältnis von persönlicher Nostalgie und politischer Verantwortung in Großbritannien zu eröffnen und dabei die Komplexität des Themas einer breiten Leserschicht zu öffnen.

Ähnlich verständlich und klar präsentiert Helga Schwalm ihre Erkenntnisse zu „Figures of Authorship, Empathy & The Ethics of Narrative: (Mis-)Recognition in Ian McEwan’s Later Fiction“. Hierin geht Schwalm insbesondere auf die Ambivalenz von McEwans Anspruch auf eine universelle, auf gegenseitige Empathie begründete Moral ein, die angeblich interkulturell gültig sein soll, jedoch bei näherer Hinsicht eindeutig in dessen westlich geprägtem Moralverständnis begründet ist. Mit Bezug auf seine Werke „Amsterdam“, „Atonement“ und „Saturday“ schreibt Schwalm: „McEwan is treading on difficult ground here. He calls up empathy and imagination as fundamental, universal qualitites […], and by implication a community of value, but does not extend his imagination to the other side“.

Auf diesen Zwiespalt in McEwans ethisch-moralischer Positionierung geht auch der Aufsatz von Barbara Puschmann-Nalenz zum Thema „Ethics in Ian McEwan’s Twenty-First Century Novels“ ein. Darin argumentiert Puschmann-Nalenz überzeugend, dass die Figur des Autors in McEwans Werken nicht so sehr als eine moralische Instanz per se fungiert, sondern vielmehr als eine Art investigativer Journalist der menschlichen Seele auftritt, der die letztendlichen Implikationen der ergründetem moralischen und ethischen Konflikte dem Leser überlasst. Dies ist zwar eine uneindeutige Antwort auf die Frage nach McEwans Positionierung im Dialog zwischen Kunst und Moral, doch wenigstens eine, die Literatur als veritables Instrument in der Frage nach der Handlungsfähigkeit des Einzelnen auffasst.

Dies alles sind wertvolle Ansätze um die Debatte der „ethics of fiction“ in Schulen, Universitäten und die größere Gesellschaft hineinzutragen. Denn genau da gehören sie hin, die Fragen nach Politik und Kunst beziehungsweise Moral und Fiktion, wie der von Nicklas’ herausgegebene Sammelband trotz – oder gerade wegen – seiner Lücken in der fachdidaktischen Aufarbeitung des Themas brillant zeigt.

Titelbild

Pascal Nicklas (Hg.): Ian McEwan. Art and Politics.
Universitätsverlag Winter, Heidelberg 2009.
212 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783825356545

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch