Zeig mir deinen Charakter, nicht deinen Slip

„Wie viel Vögel“ Franziska Gerstenberg braucht, um die Stimmung ihrer Figuren anzudeuten, ist bemerkenswert

Von Andrea DienerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Andrea Diener

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wenn man zeichnen lernt, lernt man zuallererst, kräftig auszuholen und sich das zaghafte Gestrichel abzugewöhnen, das die künstlerisch ambitionierten Mädchen aus besserem Hause für zart und sorgfältig halten. Gestrichel führt nirgendwo hin. Für die literarische Bildung gilt offenbar das Gegenteil, und so sieht das am Ende dann auch aus.

Aus Leipzig kommen die Mädchen, die poetische Erzählungen schreiben. Man erkennt sie schon von Weitem: am somnambulen Titelbild, an etwas, das man als Leipzig-Sound bezeichnen kann, am Aufmacher im Literaturteil voll des Lobes bezauberter älterer Herren, die hier eine neue Stimme einer neuen Generation vernehmen. Unter diesen Stimmen befindet sich auch diejenige Franziska Gerstenbergs.

Das Thema dieser Bücher sind oft Personenkonstellationen im Urlaub, Essstörungen und sonstige Familiendramen. Die meisten Figuren haben einen Hang zum Neurotischen, sonst aber keinerlei Interessen oder Leidenschaften. Sie haben entweder Bindungsangst oder einen Klammerreflex, sie sind schnell beleidigt und reagieren unvernünftig oder gar nicht, wenn es zu Konflikten kommt. Eigentlich sind sie keine Personen, sie sind Pappaufsteller, die eine Position markieren.

Die Pappaufsteller sind von ziemlich viel Getier umgeben: Von Hunden, Kaninchen, Vögel. Außerdem bieten sich Hecken, Wolken und sonstige Wetterverhältnissen oder auch Wein und Öl als Metaphern an. Dieses Gerümpel muss dann dauernd für die Personen einspringen, die vor lauter Poesie und Zaghaftigkeit kaum einen zusammenhängenden Satz herausbringen. Das liest sich dann so: „Die Hunde im Dorf haben nicht gebellt, oder ich habe ihr Bellen nicht gehört. Bert zieht seinen Slip hoch und schließt den Reißverschluß der Hose, dann den messingfarbenen Knopf. Der Slip ist ihm zu eng. Etwas zittert, es sind die Haare über seinen Augen. Das liegt alles an der Hecke, sagt er. Zeig mir nicht deinen Charakter, sagt Annie, dreht sich um und geht zurück nach draußen.“

Charakter zeigen weder Bert noch sonst irgendjemand. Wer keinen hat, kann keinen zeigen, nur einen zu engen Slip. Das Zittern ist übrigens die „Unsicherheit des ungelebten Lebens“, klärt der Klappentext auf.

Zugegeben, es gibt auch Geschichten, in denen es um Personen geht, die ein echtes Problem haben oder, selten genug, von etwas besessen sind. Das sind dann die besten Geschichten. Es sind Inseln im Meer des Sich-nicht-festlegen-wollens.

In „Schlanke Fesseln“ nimmt ein Mädchen heimlich Ballettunterricht. Ihre große Schwester war immer die vielbewunderte Ballerina in der Familie, und sie tritt nun in ihre Fußstapfen. Über der Heimlichkeit der Ballettstunden zerbricht ihre Beziehung, die allerdings sowieso schon im Argen lag. Natürlich ist die Protagonistin viel zu alt, um noch ernsthaft mit dem Tanzen anzufangen und zu ungeschickt obendrein. Aber zumindest gibt es etwas, das ihr am Herzen liegt und das sie verteidigt, auch wenn es eigentlich nichts Eigenes ist, sondern nur eine Reaktion auf die Tanzkarriere ihrer Schwester. Durch die Heimlichkeit, mit der sie vorgeht, markiert sie es als ihr Terrain.

In der Geschichte „Doch Schnee“ räumt die kleine Schwester ihr Zimmer nicht mehr auf. Ob das mit der Mutter zu tun hat, die die Familie verlassen hat, bleibt ungeklärt. Trotzdem ist das Familienporträt anlässlich des ersten mutterlosen Weihnachtsfestes subtil und gelungen. Hier wird die innere Spannung spürbar und das Klappentextversprechen der Eindringlichkeit endlich eingelöst.

Insgesamt handelt es sich also um zwei, drei gelungene Erzählungen und eine Menge dazwischen, das man anderswo schon dutzendfach gelesen hat (junge Menschen gehen sich im Ferienhaus auf die Nerven – ist das schon motivgeschichtlich erforscht?) oder das vage und verschwommen bleibt. Es sind Geschichten, denen es leider ebenso an Bestimmtheit mangelt wie ihren Figuren. Ein paar kräftige Striche und weniger „Geschummer“ hätten dem Buch gut getan, aber erklär das mal einer den Dozenten in Leipzig.

Titelbild

Franziska Gerstenberg: Wie viel Vögel. Roman.
Schöffling Verlag, Frankfurt a. M. 2004.
230 Seiten, 18,90 EUR.
ISBN-10: 3895613401
ISBN-13: 9783895613401

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