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Eckart Voland führt in die Soziobiologie ein

Von Willem WarneckeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Willem Warnecke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Deutschland ist bekanntermaßen eine föderalistische Republik. In einem so verfassten Staat besitzen sowohl bestimmte Unterorganisationseinheiten (etwa Bundesländer) als auch das Volk per Definition weitergehende Rechte als etwa in zentralistischen Staaten (zum Beispiel Frankreich) respektive Monarchien (zum Beispiel Großbritannien). Zweifelsfrei könnten statistische Berechnungen angestellt und damit quantifizierende Argumente dafür konstruiert werden, dass in genau dieser Staatsform die Wahrung der Interessen der Gesamtheit der Staatsangehörigen im Vergleich mit anderen denkbaren Formen maximiert sei: Es müssten zwar auch Einbußen hingenommen werden, aber insgesamt sei eine föderalistische Republik für die meisten Staatsangehörigen die beste (oder zumindest die am wenigsten schlechte) praktikable Möglichkeit, ihr Zusammenleben zu organisieren. Auf just einem solchen statistischen Argument mag dann eine Erklärung begründet werden, warum Deutschland faktisch eine föderalistische Republik ist.

Wem eine solche Begründung zu abgehoben, zu abstrakt, zu vage, zu einseitig, zu theoretisch, kurz: ungenügend erscheint, der möge sich fragen, inwieweit die von Eckart Voland gegebenen Erklärungen zur Evolution der diversen Formen von Kooperation und Konkurrenz bei Tieren – inklusive Homo sapiens – besser sind. In seiner nun schon in dritter Auflage vorliegenden Einführung in die Soziobiologie möchte der promovierte Biologe, der eine Professur für Philosophie der Biowissenschaften an der Universität Gießen inne hat, das „Darwinsche Projekt“ weiterführen. Demzufolge sei der Mensch als Teil der Naturgeschichte aufzufassen, die Charles Darwin zu erzählen begonnen habe, sowie als „Teil des Kausalgeschehens, das zu entschlüsseln ihm bis heute unwiderlegt gelang“. Seinen Ansatz macht Voland gleich zu Anfang explizit: „Soziobiologie ist die Wissenschaft von der biologischen Angepasstheit des tierlichen und menschlichen Sozialverhaltens. […] Es geht dabei um die Frage, warum sich das Vermehrungsbestreben der Individuen (das als gegebene Systemeigenschaft des Lebens aufgefasst wird) gerade in den jeweils vorgefundenen und keinen anderen sozialen Verhaltensäußerungen niederschlägt. Mit einem zunehmenden Verständnis der Kausalfaktoren auch der menschlichen Verhaltensorganisation gewinnt die Soziobiologie letztlich auch eine historische und kulturwissenschaftliche Dimension. Indem sie ‚Selbsterhaltung‘ und ‚Vermehrung‘ als evolvierte Lebensinteressen auch von Menschen beschreibt, hilft sie, vielfältige Phänomene der menschlichen Daseinsgestaltung vor dem Hintergrund biologischer Funktionalität zu begreifen. Getragen vom Darwinschen Paradigma offeriert sie eine naturalistische Perspektive der conditio humana.“

Voland will im Buch mit etlichen verfehlten beziehungsweise überholten Ansichten zu biologischen Themen wie auch mit Missverständnissen in Bezug auf die Soziobiologie selbst aufräumen. Einige Erläuterungen bergen dabei die Möglichkeit, erfreulicherweise förderliche Impulse für gewisse seit einiger Zeit verkrustete Debatten zu geben, etwa für die leidige nature/nurture-Kontroverse: „Ontogenese beruht auf Anlage/Umwelt-Interaktionen, und das Produkt – der Phänotypus – kann unmöglich in vermeintlich genetisch- bzw. umweltdeterminierte Anteile zerlegt werden. Es macht deshalb auch absolut keinen Sinn, Verhaltensmerkmale als ‚angeboren‘ oder ‚erworben‘ unterscheiden zu wollen. Bestenfalls lässt sich ihre Stellung in einem Kontinuum zwischen ‚relativ stabil‘ und ‚relativ sensibel‘ gegenüber unterschiedlichen Umwelteinflüssen bestimmen.“

Andererseits ist Volands erklärtes Bestreben, mithilfe von statistischen Analysen empirischer Daten tatsächliche evolutionäre Verläufe rekonstruieren und darüber letztlich historische und kulturelle Zusammenhänge begreifen zu können, bei genauerer Betrachtung von vornherein zum Scheitern verurteilt. Das eingangs angeführte Beispiel der Staatsform Deutschlands mag das veranschaulichen. Es ist durchaus nicht an den Haaren herbeigezogen, denn nicht nur spricht Voland selbst von der „historischen und kulturwissenschaftlichen Dimension“ der Soziobiologie, sondern es tun sich auch bezüglich der von ihm besprochenen Fälle biologischer Angepasstheit analoge Fragen auf: Wenn doch angeblich die fragliche Organisations-/Sozialform die bestmögliche ist, warum kommen dann heutzutage noch andere vor? Volands für einzelne Arten angestellte Analysen gelten teilweise nicht einmal mehr für andere Arten derselben Gattung. Müssten sich nicht zumindest bei gleichen Anfangsbedingungen immer dieselben Organisations-/Sozialformen ausbilden? Reproduzierbarkeit der Ergebnisse ist zwar ein wichtiges Merkmal empirischer Forschung, doch für historische (Evolutions-)Prozesse, wie die von Voland betrachteten, ist sie wohl strikt nicht zu erreichen. Sind also die tatsächlich zu beobachtenden Unterschiede der diversen Organisations-/Sozialformen durch zusätzliche, zwar noch unbekannte, aber grundsätzlich systemimmanente Einflüsse zu erklären oder müssen sie auf kontingente Systemstörungen zurückgeführt werden? Ansatzweise scheint Voland das Problem zu sehen: „Die heute messbaren Vorteile eines sozialen Merkmals spiegeln deshalb nicht unbedingt die kausalen Gründe der evolutionären Entstehung dieses Merkmals.“ Aber keine anderen als die heute messbare Größen können doch die Grundlage seiner Argumentationen sein.

Dass das in der Theorie Richtige für die Praxis mitunter nichts taugen muss, ist ein Gedanke, der explizit schon bei Immanuel Kant zu finden ist. Solche Überlegungen ignorierend erhebt Voland in formaler Hinsicht für die Soziobiologie einen ungerechtfertigt starken modallogischen Anspruch – einen, der durch eine empirische Wissenschaft generell nicht eingelöst werden kann: Kurz gesagt schließt er die Möglichkeit aus, dass eine soziobiologische Erklärung zwar plausibel – aber dennoch falsch sein kann. Deutlich wird sein überzogener Anspruch etwa, wenn er aus einer statistischen Argumentation heraus folgert: „Und damit stellt sich der vermeintliche Altruismus letztlich als eine Form genetischen Eigennutzes dar.“ Dem Detektiv im Kriminalroman würde man eine solche Bestimmtheit aus guten Gründen nicht durchgehen lassen. Der entsprechende Anspruch auf Geltung wäre nämlich erkenntnistheoretisch nur durch den Beweis zu rechtfertigen, dass die soziobiologische Theorie nicht nur in sich widerspruchsfrei, sondern sogar generell ‚wahr‘ wäre. Die Welt, die damit beschrieben werden könnte – und zwar allein von einem geradezu allwissenden und unfehlbaren Forscher –, müsste zudem eine bessere sein als die unsere, Zufälle dürften in ihr nicht vorkommen.

Selbst an Stellen, wo sie offen zu Tage tritt, entgeht Voland die nicht allein auf seine uneingeschränkt naturalistische Grundüberzeugung bezogene Geltungsproblematik: „Soziobiologie nimmt eine naturalistische Perspektive ein. Sie ist der Auffassung, dass verlässliche Erkenntnisse darüber, was existiert und wie die Welt beschaffen ist, nur auf naturwissenschaftlichem Wege zu gewinnen sind. […] Der Naturalismus behauptet, ‚dass das Universum in seinem empirischen, aber auch theoretisch fassbaren Bereich ohne Rekurs auf autonome spirituelle Entitäten, besondere Lebenskraft oder teleologische oder transzendente Wirklichkeit erkannt werden kann‘ (Kannitscheider 2003, S. 33).“ Immerhin hat Voland ganz recht: Soziobiologie stellt eine Auffassung dar und der Naturalismus behauptet etwas! Es könnten nun diverse jahrhundertealte formale Argumente angeführt werden, wonach die Richtigkeit jener Auffassung und die Wahrheit dieser Behauptung grundsätzlich weder empirisch zweifelsfrei belegt noch formal bewiesen werden kann. Zumindest aber ist der empirische Beleg beziehungsweise der formale Beweis dafür derzeit noch nicht erbracht worden (ansonsten dürften respektive könnten schließlich jene alten Argumente gar nicht mehr ernsthaft angeführt werden). Demnach ist die soziobiologische Auffassung selbst etwas, dessen Verlässlichkeit (zumindest bislang) nicht „auf naturwissenschaftlichem Wege zu gewinnen“ ist; gemessen an Volands eigenen Ansprüchen kann dem folglich nicht der Status einer ‚Erkenntnis‘ über die Beschaffenheit der Welt zugestanden werden. Und auch ausgerechnet die Wahrheit der naturalistischen Behauptung selbst kann (zumindest bislang) offensichtlich nicht „ohne Rekurs auf […] transzendente Wirklichkeit erkannt werden“. Wenn die naturalistische Behauptung also wahr wäre, dann könnte laut Kannitscheider „das Universum in seinem empirischen, aber auch theoretisch fassbaren Bereich“ ohne Rekurs auf sie erkannt werden.

Diese Überlegungen mögen vielleicht nicht ganz einfach zu verstehen sein. Wenn Voland aber meint, deswegen auf sie verzichten zu können, dann ähnelt er demjenigen, der einen Gegenstand lieber dort sucht, wo es hell ist, als dort, wo er vermutlich liegt. Leichtfertig fährt er immerhin unmittelbar nach dem Kannitscheider-Zitat fort: „Wenn also Übernatürliches, wie cartesische Seelensubstanzen, platonische Ideen usw. ausgeschlossen werden kann, muss die Naturwissenschaft alle Fähigkeiten des Menschen in ihren Erklärungsanspruch mit einbeziehen, und damit auch jene Fähigkeiten des Menschen, von denen Soziobiologie handelt.“ Was hier wie eine logische Folgerung wirkt, hängt immer noch von der nicht belegten beziehungsweise unbewiesenen naturalistischen Behauptung ab: Hier ‚kann‘ nicht etwas ausgeschlossen werden, sondern hier ‚wird’ einfach etwas vor dem Hintergrund einer subjektiven Weltanschauung ausgeschlossen. Dass aber vom soziobiologischen Standpunkt aus die Soziobiologie alleserklärend ist – das darf jedem egal sein, der diesen subjektiven Standpunkt nicht teilt.

Bemerkenswert dürfte auch sein, wie freizügig der Inhaber eines philosophischen Lehrstuhls ‚naturwissenschaftlich nicht Überprüfbares‘ als ‚Übernatürliches‘ abtut, obwohl mit letztem Ausdruck gemeinhin doch ‚gegen die Erkenntnisse der Naturwissenschaft Verstoßendes‘ gemeint wird. Insofern außerdem der Satz des Pythagoras und die Gewissheit, dass Napoleon die Schlacht bei Waterloo verlor, durchaus nicht „auf naturwissenschaftlichem Wege zu gewinnen“ sind, wirft Voland so nicht zuletzt die Formalwissenschaften (wie Logik und Mathematik) und die historischen Wissenschaften in einen Topf mit magischem Denken und Geisterglaube. In diese Nachbarschaft gehören wiederum weder cartesische Seelensubstanzen noch platonische Ideen: Als letztere könnte beispielsweise auch die Vorstellung von ‚biologischen Arten‘ aufgefasst werden – auf die Voland in seiner Argumentation selbstverständlich nicht verzichten kann.

Insgesamt scheint ihm zu entgehen, wie sehr seine Argumentation von nicht-trivialen Überzeugungen abhängt, die entgegen seinem eigenem Anspruch nicht „auf naturwissenschaftlichem Wege zu gewinnen“ sind. Dabei macht er auch dies bisweilen explizit: „Dem Attribut ‚adaptiv‘ wird in der Literatur nicht selten ein ‚maladaptiv‘ (‚fehlangepasst‘) gegenübergestellt. Dieser Begriff ist allerdings soziobiologisch überhaupt gar nicht denkmöglich, weil Anpassungen logischerweise nicht fehl laufen können.“ Dass etwas nicht ‚fehlangepasst‘ sein kann, wäre also kein empirischer Befund. Da „die Angepasstheit der Organismen an ihre sozialen und ökologischen Lebensbedingungen“ aber laut Voland durchaus „alle Aspekte der Lebensgestaltung (seien sie vorrangig körperlicher oder psychischer Art)“ betrifft, es also kein Drittes gibt, muss im Umkehrschluss dasselbe auch für sie gelten: Die allumfassende ‚Angepasstheit‘ wird vom Soziobiologen nicht auf naturwissenschaftlichem Wege festgestellt, sondern als integraler Bestandteil seiner Theorie vorausgesetzt. Um eine denknotwendige, logische Wahrheit handelt es sich dabei jedoch entgegen der von Voland bekundeten Auffassung nicht: Mindestens jemand, der nicht Volands Perspektive teilt, muss weder diese für uneingeschränkt wahr, noch den ‚Fehlangepasstheits‘-Gedanken für selbstwidersprüchlich halten. Damit wird vielleicht nachvollziehbar, warum Voland anscheinend meinte konkretisieren zu müssen, die Denkunmöglichkeit gelte „soziobiologisch“. Gleichzeitig ist aber die Vorstellung einer nur bereichsspezifischen oder subjektiven Denknotwendigkeit/-unmöglichkeit selbst absurd.

Deutlich wird Volands Fehleinschätzung bezüglich der eigenen Position auch anhand einiger seiner Ausführungen, die nicht unmittelbar Ergebnisse naturwissenschaftlicher Forschung wiedergeben. So aufgefasst, also als Behauptungen über die konkrete Beschaffenheit der Welt, wären sie nämlich falsch: „Wenn nun die Gameten zur Zygote verschmelzen, ist das Erbgut jeweils genau zu 50% von väterlicher und mütterlicher Herkunft. Jedes Allel im Genom der Zygote hat deshalb eine fünfzigprozentige Wahrscheinlichkeit, die Kopie des entsprechenden Allels jeweils des einen oder des anderen Elters zu sein und umgekehrt hat jedes Allel im Genom eines Elters eine Wahrscheinlichkeit von 50%, in das Erbgut dieser Zygote kopiert worden zu sein.“ Der geschilderte Sachverhalt stimmt indes nicht mit dem konkreten physischen und genetischen Befund überein. Denn nicht allein ist ‚Erbgut‘ ein recht unklarer Ausdruck. Auch unterscheiden sich bei den diploiden Organismen die Geschlechtschromosomen (beim Menschen die X- und Y-Chromosomen) meist deutlich hinsichtlich ihrer Größe wie der Menge und Art der auf ihnen enthaltenen funktionalen Sequenzen oder Gene. Da außerdem die mitochondriale DNA in der Regel nur maternal vererbt wird, kann nicht zuletzt der männliche Nachwuchs bei Homo sapiens, der vom Vater nur das kleinere Y-Chromosom vererbt bekommt, in mehrerlei Hinsicht als ‚Muttersöhnchen‘ angesehen werden. Die Erbanteile der Eltern sind demnach eben nicht „genau“ gleich groß und nicht für „jedes“ Allel gilt das obige. Dabei geht es nicht einmal lediglich um Sonderfälle (wie Monosomien) oder um Normabweichungen, also die kleinen ‚Schönheitsfehler‘ unserer unvollkommenen Welt, sondern um einen systematischen, nämlich regulär auftretenden, sich folglich auch statistisch nicht herausmittelnden Faktor.

Dieser Einwand mag auf den ersten Blick kleinlich erscheinen, macht aber erneut deutlich, dass die Soziobiologie entgegen Volands Auffassung im Kern kein naturwissenschaftlich-empirisches, sondern ein abstrakt-analytisches Unterfangen ist. Denn sie erforscht nicht direkt die Natur, sondern bezieht sich auf ein Idealbild von ihr, das – unter anderem, jedoch nicht ausschließlich – mithilfe der Ergebnisse naturwissenschaftlicher Forschung generiert wurde: ein Idealbild, das absichtlich so gestaltet wurde, dass es bestimmte statistische Berechnungen ermöglicht. Gegen ein solches (nicht-naturwissenschaftliches) Unterfangen ist an sich gar nichts einzuwenden – es sei denn, man teilt ausgerechnet Volands naturalistische Vorbehalte.

Wenn übrigens für ihn „bis heute nicht zu erkennen ist, dass Darwin sich geirrt haben könnte“, so dokumentiert dies ebenfalls seine konziliante Haltung gegenüber gewissen das Idealbild störenden Details: Keine der heute gängigen Evolutionstheorien ist noch identisch mit der Darwinschen. Dass nicht nur etliche Leerstellen (etwa zu den materialen Trägern der Erbinformation) aufgefüllt, sondern auch einige Fehler (wie die vermutete Vererbung erworbener Eigenschaften) behoben werden mussten, scheint Voland gut ignorieren zu können.

Manchmal mag sogar der Eindruck entstehen, er vermöge nicht zwischen Beschreibung und Beschriebenem, zwischen Theorie und Gegenstand der Theorie zu trennen: „Der Grund für diesen Unterschied wird begreiflich, wenn man den ultimativen Zweck dieses Verhaltens betrachtet.“ Nun, Zwecke kann man nicht betrachten. Mit naturwissenschaftlichen Mitteln allein kann man sie nicht einmal ermitteln, geschweige denn feststellen, welcher Zweck tatsächlich der ‚ultimative‘ ist. „Aber auch unter einigen Säugern […] beobachtet man Kannibalismus zur Verbesserung der Energiebilanz.“ Wohl kaum: Man beobachtet vielleicht Kannibalismus, aber dass dieser der Verbesserung der Energiebilanz dient, ist eine Interpretation.

Der von ihm selbst eingebrachten anthropomorphisierenden Metaphorik fällt Voland zum Opfer, wenn er schreibt: „Es gibt viele Möglichkeiten, den Lebensreproduktionserfolg zu erhöhen. Organismen können dies beispielsweise zu erreichen versuchen, indem sie die Zahl der Geburten (Fertilität) maximieren.“ und „Reyers Untersuchung verdeutlicht, wie junge Graufischer-Männchen vor einer Hierarchie von Entscheidungsproblemen stehen.“ Organismen ‚versuchen‘ jedoch unzweifelhaft nichts und sicherlich ist noch kein Graufischer in eine Entscheidungskrise geraten.

Beirren lässt sich Voland in seinen Ausführungen zudem weder von uneindeutigen Sachlagen noch von Widersprüchen: „Wenngleich solche Zusammenhänge nichts über ihre Verursachung aussagen und deshalb im strengen Sinn wenig Beweiskraft haben, stehen sie doch immerhin im Einklang mit der These“ respektive „aber anders als erwartet, nimmt der Anteil reproduzierender Arbeiterinnen mit der durchschnittlichen Verwandtschaft innerhalb der Kolonie zu und nicht ab“. In solchen Fällen verweist er schlicht auf zukünftige Forschung: „Wenngleich all diese Probleme noch vertiefter Erforschung bedürfen, lässt sich aber dennoch nicht leugnen, dass in der Evolution der Eusozialität Verwandtenselektion eine ganz wesentliche Rolle gespielt hat. Welche genau, ist allerdings offen.“ Dem ist entgegenzuhalten: Gerade wenn die Rolle von etwas nicht genau feststeht (da die Daten uneindeutig sind oder im Widerspruch zum bekannten Wissen stehen), lässt sich sehr gut bestreiten, dass diese Rolle „eine ganz wesentliche“ ist. Eine entsprechende Vorsicht vor ungerechtfertigten Schlüssen ist ein essentielles Merkmal von Wissenschaftlichkeit.

Als letzter Punkt sei noch einmal die frappante Beliebigkeit der Volandschen Argumentation betrachtet: „So wäre beispielsweise eine Echolot-Sensibilität für den Menschen wenig nutzbringend, sind doch seine Nahrungsanforderungen nicht – wie bei Fledermäusen – an eine nächtliche Insektenjagd gebunden.“ Die biologische Ordnung der Fledertiere zerfällt in die Fledermäuse und die Flughunde. Auch letztere sind in der Regel dämmerungs- oder nachtaktiv. Obwohl also, um mit Voland zu sprechen, für sie eine „Echolot-Sensibilität“ ebenfalls als durchaus nutzbringend angesehen werden könnte, ‚fehlt‘ sie den meisten Flughundarten. Diese Tiere orientieren sich stattdessen mithilfe ihrer großen, leistungsstarken Augen. Der mögliche Einwand, dass die sich gänzlich vegetarisch ernährenden Flughunde keine schnell fliegenden Insekten orten können müssen, ein Echoortungssystem bei ihnen daher ‚zu aufwendig‘ wäre, ist schon dadurch zu entkräften, dass einige der ein solches System nutzenden Fledermausarten eine ähnliche Diät einhalten.

Andererseits fußen gerade auch soziobiologische Ausführungen nicht selten auf Funktionswandelargumentationen. Bei Voland ist etwa zu lesen: „Federn beispielsweise sind ursprünglich bei flugunfähigen Sauriern im Zuge der Thermoregulation entstanden. Heute unterstützen sie bei Vögeln die Aerodynamik des Fliegens.“ (Anzumerken ist hierzu, dass die erste Behauptung zu definitiv und die zweite zu generell ist. Letzteres, da sie in Bezug auf viele Arten eben flugunfähiger Vögel schlicht falsch ist). Demzufolge erschlössen sich Lebewesen also bisweilen mithilfe ihren vorhandenen Eigenarten, Körperstrukturen oder Fertigkeiten neue ‚ökologische Nischen‘. Verfügte der Mensch über ein natürliches Echoortungssystem, würden Soziobiologen seine Entstehung und seinen Nutzen – selbstverständlich – auch irgendwie erklären können. Dass eine biologische Eigenschaft, Struktur oder Fertigkeit vor dem evolutionären Hintergrund ‚nutzbringend‘ ist, ist schließlich, wie oben gezeigt, für den Soziobiologen nicht ein bloß mögliches Ergebnis einer empirischen Untersuchung, sondern vielmehr die unbezweifelbare Grundlage seiner theoriebestimmten Überlegungen: Bestehende biologische Eigenschaften, Strukturen oder Fertigkeiten sind in seinen Augen per Definition ‚angepasst‘ und damit von Nutzen – auch, wenn man diesen Nutzen noch nicht erkannt haben mag. Insofern ist es im soziobiologischen Paradigma wiederum schlicht trivial, dass für Voland „eine Echolot-Sensibilität für den Menschen wenig nutzbringend“ ist: einfach, weil sie, wie er ja wohl meint, beim Menschen faktisch nicht vorliegt.

Diesbezüglich muss indes erneut Einspruch erhoben werden, und zwar in doppelter Hinsicht: Erstens ist der Mensch durchaus zur Echoortung fähig und es wird wohl kaum jemand bestreiten wollen, dass er sie für sich als nutzbringend ansieht. Dass er sich zur Echoortung technischer Hilfsmittel bedienen muss, ist dabei mindestens aus der uneingeschränkt naturalistischen Perspektive der Soziobiologie irrelevant, da aus ihr heraus auch die Technik des Menschen als Bestandteil seiner Natur aufzufassen ist: Gerade Voland fordert vehement, die Naturwissenschaft müsse „alle Fähigkeiten des Menschen in ihren Erklärungsanspruch mit einbeziehen“. Insofern hier aber vielleicht unterschiedliche Bedeutungen von ‚Nutzen‘ zum Tragen kommen, sei diesem Einspruch nicht sonderlich viel Gewicht gegeben. Zweitens bezeichnet jedoch schon der Ausdruck „Echolot“ nicht eine natürliche Fertigkeit von Tieren, sondern definitiv ein technisches Verfahren des Menschen: das seit Anfang des 19. Jahrhunderts mögliche Messen von Wassertiefen unter Nutzung von Schallwellen. Der Wortbestandteil ‚Lot‘ geht dabei auf die Vorläufertechniken zurück, bei denen beschwerte Leinen – ‚lotrecht‘ – ins Wasser hinabgelassen wurden. Zum ‚Echoloten‘, das heißt dem Bestimmen vertikaler Distanzen im Wasser, sind also Menschen fähig, Fledermäuse ironischerweise jedoch nicht. Auch der Ausdruck ‚Echolot-Sensibilität‘ wird damit absurd, bezeichnet ‚Echolot‘ doch keinen Reiz, dem gegenüber man ‚sensibel’ sein könnte, sondern eine aktive Tätigkeit – zu der man fähig ist oder nicht.

Von dem im Buch vorgestellten Ansatz der Soziobiologie bleibt somit letztlich nicht viel übrig: Naturwissenschaftlich ist sie, ohne dass das ihren Vertretern bewusst wäre, nur bedingt. Dies auch, da sie nur bedingt wissenschaftlich, hingegen ziemlich dogmatisch verfährt. Verlässliche, produktiv verwendbare Prognosen ermöglicht sie nicht, weder in positiver (‚Dies wird sicherlich passieren!‘) noch in negativer (‚Dies wird garantiert nicht passieren!‘) Hinsicht, sondern kann lediglich zu bestehenden Sachverhalten nachträglich Plausibilisierungen erarbeiten. Für diese wiederum kann schließlich nicht einmal der Anspruch erhoben werden, besser, ‚wahrer‘ als alternative bestehende oder noch zu entwerfende Erklärungen zu sein. Dass jedoch bestehende Sachverhalte, unter anderem biologische, auch möglich sind und eintreten konnten, ist eine ausgesprochen unspektakuläre Feststellung – die nicht erst der Ausführungen Volands bedarf.

Titelbild

Eckart Voland: Soziobiologie. Die Evolution von Kooperation und Konkurrenz.
Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg 2009.
248 Seiten, 24,95 EUR.
ISBN-13: 9783827418142

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