Mein Beruf

Marcel Reich-Ranicki als Literaturkritiker

Von Thomas AnzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Anz

Professionalität

„Die Kritik ist mein Beruf, ich habe keinen anderen“, erklärte Reich-Ranicki 1993 in einem Gespräch mit Joachim Kaiser. Die meisten seiner einflussreichen Kollegen, von Lessing über Friedrich Schlegel bis hin zu Walter Jens oder Kaiser waren auch Literaturkritiker, er war es ausschließlich. Die Konzentration auf die literaturkritische Tätigkeit macht einen Teil seiner Professionalität aus. Der Mangel an Vielseitigkeit ist zugleich seine Stärke. Zumindest hat Reich-Ranicki dies selbst so gesehen. Wenn beispielsweise Fontane, dem Reich-Ranicki sonst ein untrügliches Gespür für literarische Qualität bescheinigt, über Epik urteilte, kam der „Romancier […] dem Rezensenten ins Gehege“, weil er die Maßstäbe seinen eigenen Arbeiten entnahm und zu Normen erklärte. Moritz Heimanns Tätigkeit als Lektor beim S. Fischer-Verlag hemmte sein kritisches Denkvermögen, wenn er seine Schützlinge besprach, also jene Autoren, die er selbst beraten und verlegt hatte. Der professionelle Kritiker kann sich derartige Parteilichkeiten nicht leisten. Denn er hat einen Ruf zu verlieren, den er ausschließlich seiner literaturkritischen Tätigkeit verdankt. Er kann dies nicht durch Qualitäten in anderen Bereichen ausgleichen. So ist für ihn jede Kritik eine risikoreiche Prüfung, bei der das Ansehen der ganzen Person und die Basis der beruflichen Existenz auf dem Spiel stehen.

Zur Professionalität des Kritikers Reich-Ranicki gehört ferner, dass er so häufig und ausführlich wie kaum ein anderer die historischen und theoretischen Voraussetzungen der eigenen Tätigkeit reflektiert hat. Drei Publikationen sind hier besonders hervorzuheben: der einleitende Essay in „Lauter Verrisse“ (zuerst 1970), der 2002 unter dem Titel „Über Literaturkritik“ als eigenständiges Buch erschien, das lange Gespräch mit Peter von Matt („Der doppelte Boden“; 1992) und das 1994 erschienene Buch „Die Anwälte der Literatur“. Es enthält dreiundzwanzig Portraits bedeutender deutscher Literaturkritiker vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart.

Der Plan zu diesem Buch reicht bis in das Jahr 1970 zurück. Es ist mit seiner langen Entstehungszeit ein extremes, wenn auch typisches Beispiel für Reich-Ranickis Arbeitsweise. Fast alle seine Bücher sind Sammlungen von Reden und Artikeln, die zunächst in Zeitungen erschienen, doch bereits im Hinblick auf ein Buchprojekt geschrieben wurden. Vieles von dem, was Reich-Ranicki an Rezensionen und Essays für Zeitungen verfasst hat, ist in seiner Themenauswahl auf zukünftige Bücher hin konzipiert und nicht nur für den Tag geschrieben. Etliche dieser Bücher sind als works in progress in mehreren Auflagen erschienen und wurden dabei ständig um neue Artikel erweitert. Das gilt für seine Bücher „Über Ruhestörer“, über Martin Walser oder Günter Grass und für viele andere. „Ich werde“, so erklärte Reich-Ranicki 1986, „bis ans Ende meines Lebens kein literaturkritisches Buch von der ersten bis zur letzten Zeile schreiben, sondern immer wieder einzelne Essays, Aufsätze, Kritiken, aus denen dann Bücher entstehen. Ich mache das deshalb so, weil ich überzeugt bin, daß die Form der Kritik die kleine Form ist.“

Das Buch „Die Anwälte der Literatur“ gehört zu seinen wichtigsten und besten. Die Essays sind ein Panorama der Geschichte deutscher Literaturkritik am Beispiel ihrer bedeutenden Repräsentanten. Doch nicht bloß historische, sondern vor allem aktuelle Interessen prägen den Blick auf sie. „Wir müssen die Kritiker der Vergangenheit studieren, denn wir können zweierlei von ihnen lernen: wie mans machen kann und wie mans nicht machen sollte. Aus den Fehlern der Kritiker von gestern lässt sich, glaube ich, sehr viel lernen.“ In der Distanz zu und in der Identifikation mit Kritikern der Vergangenheit und Gegenwart sind Reich-Ranickis Portraits daher immer auch Bestandteile eines Selbstportraits. Schon der Titel des Buches verweist auf die Rolle, die Reich-Ranicki nicht nur anderen Literaturkritikern, sondern auch sich selbst zuschreibt: die Rolle eines Anwaltes.

Kritiker als Anwalt und in anderen Rollen

Richter und Anwalt

Als im 18. Jahrhundert die Literaturkritik zu einer Institution wurde, bezeichnete man den „Criticus“ häufig als einen „Kunstrichter“. Auch Lessing verwendete dieses Wort, doch glich die Rolle, die er dem Kritiker zuwies, eher der eines Anwaltes. Während der Richter auf der Grundlage vorliegender Gesetze ein Urteil spricht, steht es dem Anwalt nur zu, für ein bestimmtes Urteil zu votieren. In Lessings literaturkritischem Selbstverständnis ist die höchstrichterliche Urteilsinstanz das Publikum, dem der Kritiker wie ein Anwalt bestimmte Urteile empfiehlt und dafür Gründe anführt. „Wenn ich mir aber nun das Publikum als Richter denke?“ fragt Lessing im einundfünfzigsten seiner „Briefe, antiquarischen Inhalts“. Der Kritiker tritt nach Lessing nicht mit dem dogmatischen Anspruch auf, im Besitz der Wahrheit zu sein, sondern trägt in Konkurrenz mit seinen Kollegen und mit anderen Instanzen des literarischen Lebens zur Wahrheits- und Urteilsfindung bei.

Als den „Vater der deutschen Kritik“ hat Reich-Ranicki Lessing portraitiert. Das Portrait hat, insofern es an Lessings literaturkritischer Praxis kaum ein gutes Haar lässt, Qualitäten eines Vatermordes. Als Theoretiker und Verteidiger der Kritik erscheint Lessing hier jedoch wegweisend. Für Reich-Ranickis Beschreibungen der eigenen Rolle als Kritiker ist Lessing jedenfalls eines der maßgeblichen Vorbilder.

So wie die Rolle des Richters hat Reich-Ranicki auch das ihm mehr oder weniger ironisch zugeschriebene Etikett des „Literaturpapstes“ zurückgewiesen. Päpstliche Ansprüche auf Unfehlbarkeit seien ihm fremd. In einem Rundfunkbeitrag von 1963, der „Selbstkritik des ‚Blechtrommel’-Kritikers“, hat Reich-Ranicki die juristische Metaphorik zur Veranschaulichung der Kritikerrolle genauer erläutert: „Zwei Seelen wohnen also in des Kritikers Brust, in zwei Rollen tritt er gleichzeitig auf: als Rechtsanwalt und als Staatsanwalt.“ Zum einen agiert der Kritiker in der Rolle des Verteidigers. „Mein Autor ist mein Mandant, mein Klient, mein Schützling. Ich habe ihm zu dienen, seine Sache zu vertreten.“ Doch der Verteidiger muss zugleich ein Ankläger sein. „Ich muß jede Seite des neuen Werks mißtrauisch lesen, ich muß es hartnäckig anzweifeln. Ich habe alles Schwache, Fragwürdige und Schlechte im Gegenstand der Betrachtung zu suchen.“ Eine Kritik ist die Summe beider Plädoyers. „Die Urteile hingegen werden, meine ich, nicht von uns, den Kritikern, gefällt, sondern später einmal von den hohen Richtern, den Literarhistorikern.“

Die Rolle des Anwaltes ist indes gewiss nicht die einzige, die der Kritiker spielt. Es gibt eine Vielzahl von sozialen Rollen, mit denen die des Kritikers verglichen wurden und mit denen auch Reich-Ranicki seine Tätigkeit verglichen hat: mit der eines Lehrers und Erziehers, eines Dieners, eines Liebhabers, eines Arztes, eines Türhüters oder sogar eines Müllmanns.

Zu den Aufgaben der Literaturkritik gehört, seit es sie gibt, die Auswahl solcher Bücher, die als lesenswert empfohlen werden können, und solcher, mit denen man seine begrenzte und daher kostbare Lesezeit nicht verschwenden sollte. Die Literaturkritik als Institution im heutigen Sinn entstand nicht zufällig in jenem Jahrhundert der Aufklärung, in dem der Buchmarkt rasant expandierte und eine kaum noch überschaubare Vielzahl unterschiedlichster Bücher hervorbrachte. Dem dadurch wachsenden Bedarf des Lesepublikums an Orientierung kam die Literaturkritik entgegen. Von ihr erhoffte man sich Qualitätsprüfungen eines Angebotes, das für manche geradezu bedrohliche Dimensionen angenommen hatte. Friedrich Schlegel, auf den sich Reich-Ranicki wiederholt beruft, beschrieb, „wie seit Erfindung der Buchdruckerei und Verbreitung des Buchhandels durch eine ungeheure Masse ganz schlechter und schlechthin untauglicher Schriften der natürliche Sinn bei den Modernen verschwemmt, erdrückt, verwirrt und mißleitet wird.“ Hieraus leitete Schlegel für die Kritik eine Aufgabe ab, die ihr Reich-Ranicki noch für die Gegenwart zuschreibt: „Damit nun wenigstens Raum geschaffen werde für die Keime des Bessern, müssen die Irrtümer und Hirngespinste jeder Art erst weggeschafft werden.“ Zu den wichtigsten Verdiensten von Lessings Kritik zählt Schlegel, und Reich-Ranicki zitiert das gerne, die „billige Verachtung und Wegräumung des Mittelmäßigen oder des Elenden“.

Türsteher

Mit seiner selektierenden Aufgabe gleicht der Kritiker, wie Heinrich Heine einmal spöttisch vermerkte, einem Lakaien vor der Saaltüre bei einem Hofball, der Unbefugte zurückweist, aber selbst ebenfalls nicht hinein darf. „In der Tat“, so kommentiert Reich-Ranicki Heines Bild, „wir Kritiker sind die Diener der Literatur, wir sollen, wie jene Türsteher, für etwas Ordnung sorgen und vor allem dafür, daß die Scharlatane und die Nichtskönner gleich am Eingang abgewiesen werden, damit die guten Tänzer im Saale immer Platz genug haben. Wir selber nehmen am Ball nicht teil, es sei denn als Beobachter, irgendwo am Rande oder eben in der Nähe der Tür. Und das ist gut so.“ Der Kritiker gleicht in dieser Funktion auch einem Liebhaber, der dafür sorgt, dass das Terrain der geliebten Literatur nicht durch Texte bevölkert wird, die der Geliebten schaden und ihr das Liebenswerte nehmen könnten. Kurt Tucholskys Bonmot „Entweder du liest eine Frau, oder du umarmst ein Buch“ hat Reich-Ranicki oft zitiert, weil er in ihm sein eigenes libidinöses Verhältnis zur Literatur wiedererkannte. „Kritik aber ohne Liebe und ohne Begeisterung ist schädlich, mehr noch: Es ist ein Widerspruch in sich selbst“, erklärte er. Noch den schärfsten Verriss hat Reich-Ranicki so zum Liebesdienst an der Literatur deklariert.

Lehrer und Erzieher

Ebenfalls in der Tradition der Aufklärung hat Reich-Ranicki immer wieder die pädagogischen Aufgaben der Kritik hervorgehoben und sich selbst als Lehrer und Erzieher begriffen. Es sei allerdings nicht der Schriftsteller, der zu erziehen sei, sondern der Leser. Schriftsteller seien in ihrer Eigenwilligkeit erziehungsresistent – zumindest die besseren unter ihnen. „Schriftsteller lassen sich nicht erziehen. Und wenn sie sich erziehen lassen, dann lohnt es sich nicht.“ Solches hat Reich-Ranicki bei vielen Gelegenheiten erklärt. In dem Gespräch mit Peter von Matt fügte er hinzu: „Was ich wollte und weiterhin will, ist doch ganz einfach. Ich möchte das Publikum dazu bringen, daß es Bernhards Prosa mit Vergnügen liest, daß den Leuten diese Bücher soviel Spaß machen wie mir.“ Die Hauptaufgabe des Literaturpädagogen ist es, das Interesse der Leser, und zwar möglichst vieler, an guter Literatur zu wecken, ihnen die Quellen des Vergnügens an Literatur zu erschließen und ihnen dort Verständnishilfen zu geben, wo Literatur schwierig ist. Als Lehrer ist der Kritiker ein Vermittler zwischen Literatur und Lesern. Den Habitus eines Lehrers demonstriert Reich-Ranicki nicht zuletzt durch die Unermüdlichkeit, mit der er sein Wissen und seine Lehrsätze wiederholt – dem altbewährten pädagogischen Motto gemäß: „Repetitio est mater studiorum“. Er selbst zitiert da lieber den Satz Mephistos: „Du mußt es dreimal sagen.“

Diener

Als Pädagoge wie auch als Türsteher oder Liebhaber ist der Kritiker zugleich Diener – Diener der guten Literatur, die ohne Leser nicht existieren kann, und Diener der Leser, die nach guter Literatur suchen. „Denn wie man die Kritik auch auffassen mag, als unzweifelhaft darf man voraussetzen, daß es ihre dringlichste, ihre vornehmste Aufgabe ist, der Literatur zu dienen“.

Den Ort des dienenden Kritikers lokalisiert Reich-Ranicki in einem Grenzbereich zwischen Journalismus und Wissenschaft. Lessing ist ihm auch da ein Vorbild. Denn „er diente der Wissenschaft mit dem Temperament des Journalisten und dem Journalismus mit dem Ernst des Wissenschaftlers.“ Literaturkritik etablierte sich als Institution erst im Medium der Zeitschriften und Zeitungen. „Bis heute ist sie vor allem eine Kreuzung aus Journalismus und Wissenschaft. Gleichmäßig verteilt sind solche Kompetenzen so gut wie nie, jede kann mehr oder weniger Platz beanspruchen, doch auf keine lässt sich verzichten. Denn die Wissenschaft ohne Journalismus ist in der Kritik überflüssig – und der Journalismus ohne wissenschaftliche Voraussetzungen geradezu schädlich.“

Künstler?

Als Kunst möchte Reich-Ranicki Literaturkritik nicht begriffen wissen. Heines „Kunst der poetischen Charakteristik“ bewundert er zwar, sie ist ihm aber kein Vorbild. Alfred Kerrs selbstbewusstes und berühmtes Diktum, wonach die Kritik neben den drei literarischen Gattungen Epik, Dramatik und Lyrik eine eigenständige vierte ist, weist er zurück. Kritik ist in Reich-Ranickis Verständnis nicht selbst Literatur, sondern hat dieser zu dienen. Kerr hatte hingegen keine Bedenken, so moniert Reich-Ranicki, die Literatur „seinem persönlichen schriftstellerischen Ehrgeiz unterzuordnen.“

Das Bild des Dieners suggeriert allerdings eine Demut, der Reich-Ranicki denkbar fern steht. Als Kritiker „dient“ er der Literatur nur in einem abstrakten Sinn, nicht in ihren konkreten Erscheinungsformen. Einzelnen Autoren oder Werken verweigert Reich-Ranicki die Dienerschaft entschieden. Goethes Forderung an eine „produktive Kritik“, dass sie, im Gegensatz zur „zerstörenden“, dem Autor helfen solle und „daß man mehr um des Autors als des Publikums willen urteilen müsse“, hält er entgegen, „daß Kritiken zunächst einmal um der Literatur willen entstehen und mit dem Blick nicht auf den Autor, sondern auf das Publikum geschrieben werden sollten. Und daß es darauf ankomme, vor allem dem Leser zu helfen, und daß somit die Frage, ob auch der Autor aus der Kritik Nutzen ziehen könne, von durchaus nebensächlicher Bedeutung sei.“

Eine Verantwortlichkeit der Kritik für die literarische Entwicklung eines Autors wird damit nicht zurückgewiesen. 1961 hatte Reich-Ranicki am Beispiel des Falles Wolfgang Koeppen der Literaturkritik vorgeworfen, den Romancier „von seiner eigentlichen Aufgabe weggedrängt“ zu haben. Nachdem Koeppens Romane von ihr missachtet wurden, fanden seine Reiseberichte eine wohlwollende Resonanz, die ihn in eine literarische Sackgasse führte.

Reich-Ranickis Rezensionen sind, wenngleich ohne persönliche Rücksichtnahmen, durchaus auch an Autoren adressiert – gelegentlich sogar in Form offener Briefe. Mit Günter Grass oder Martin Walser stand er sein Kritikerleben lang in einem ständigen, spannungsreichen Dialog. Und über die Beziehung zwischen Kritikern und Autoren hat er sich nicht eben selten geäußert. Dass er insgeheim gelegentlich durchaus hoffte, Autoren mit seiner Kritik zu beeinflussen, sie also zu erziehen, hat er nicht verheimlicht. Dass daraus zuweilen sogar ein literarisches Meisterwerk erwachsen könne, sei zwar eine Illusion, aber ohne diese Illusion würde mancher Kritiker seinen Beruf nicht weiter ausüben können. Reich-Ranicki bekannte sich dazu, als 1978 Martin Walsers Novelle „Ein fliehendes Pferd“ erschien, und formulierte vorsichtig seine Genugtuung darüber, dass es ihm mit seinem zwei Jahre zuvor erschienenen Verriss des „miserablen“ Romans „Jenseits der Liebe“ gelungen sei, zu Walsers „reifstem, schönstem und bestem Buch“ beigetragen zu haben.

Arzt

Im Zusammenhang mit Walser verglich er seine Rolle als Kritiker später auch mit der eines Arztes. Was er in einer Laudatio auf Walser 1981 über dessen Rezensenten sagte, bezog sich vor allem auf die eigene Person: „Gewiß, oft wurde er hart und unbarmherzig behandelt […], aber nie ließ die Aufmerksamkeit der Kritik nach, keine seiner Niederlagen blieb unbeachtet. Ja, die seine Arbeiten begutachteten, erinnerten bisweilen an geduldige, fürsorgliche Ärzte, die sich um das Bett eines Patienten scharen – und schon ihren Blicken ließ sich ablesen, daß es sich leider um einen höchst bedenklichen Fall handelt, der aber außerordentlich bemerkenswert ist und keineswegs hoffnungslos erscheint.“ Eine negative Kritik wird in dieser medizinischen Bildlichkeit zur „bitteren Pille des Tadels“. In einem der beiden Aufsätze des Bändchens „Herz, Arzt und Literatur“ (1987), die sich auf einer beeindruckend breiten Materialbasis mit Arztfiguren und dem Motiv des Herzens in der Literatur von der Antike bis zur Moderne befassen, charakterisiert Reich-Ranicki Ärzte wie Schriftsteller als „Fachleute für menschliche Leiden“. Vom Kritiker ist hier nicht die Rede, doch ein Kritiker hat die beiden Aufsätze geschrieben und reiht sich damit in die Phalanx dieser Fachleute mit ein. Eine Serie von Fernsehgesprächen über Schriftsteller des 20. Jahrhunderts erschien in gedruckter Fassung 2002 unter dem bezeichnenden Titel „Lauter schwierige Patienten“. Auf die Frage, ob man ihm in der Rolle des Arztes, „der Schriftstellern bittere Pillen verabreicht und dafür möglicherweise von diesen Patienten nicht geliebt wird“, Hochmut vorwerfen könne, antwortete Reich-Ranicki: „Der Satz ‚lauter schwierige Patienten’ ist ja nicht so schlimm, nicht so ernsthaft, sondern eher heiter gemeint.“

Mehr noch als die Bilder aus dem juristischen oder pädagogischen Bereich sind die aus der medizinischen Sphäre in der Tat von begrenztem Erkenntniswert, wenn es darum geht, den Kritikerberuf zu veranschaulichen, wie ihn Reich-Ranicki verstanden wissen will und wie er ihn tatsächlich ausübt. Auf das Wohlbefinden seiner „schwierigen Patienten“ hat der Kritiker jedenfalls selten Rücksicht genommen. Solche Rücksichtnahme steht denn auch nicht in dem Katalog der Tugenden, den Reich-Ranicki für die Literaturkritik entworfen hat – nicht zuletzt als Antwort auf die ständige Kritik, der er sich in seiner kritischen Tätigkeit selbst ausgesetzt sah. Er hat versucht, sie nicht persönlich zu nehmen, sondern sie als Symptom zu deuten – als Symptom für eine generell feindliche Einstellung gegenüber der Kritik, die den Traditionen vor- und antidemokratischen Denkens verhaftet bleibe. Reich-Ranickis permanente Selbstverteidigungen artikulieren sich als Verteidigungen der Institution Kritik gegen ihre Feinde und Verächter. Was er 1981 über Lessing schrieb, bezieht sich wiederum auf ihn selbst: „So hat er ein Leben lang für die Kritik als Institution plädiert, er hat sie verteidigt, er hat unermüdlich ihre Anerkennung gefordert.“ Reich-Ranicki selbst tat dies nicht zuletzt, indem er Kritik zu einer Tugend erklärte und darüber hinaus einen Katalog von Einzeltugenden entwarf, die den guten Kritiker auszeichnen.

Tugenden und Kompetenzen der Kritik

Allein die Kritikbereitschaft ist insofern eine Tugend, als sie zu den wesentlichen Voraussetzungen demokratischer Gesellschaften gehört. „Freiheit und Kritik bedingen sich gegenseitig. Wie es also keine Freiheit ohne Kritik geben kann, so kann auch die Kritik nicht ohne die Freiheit existieren.“ Den zahllosen Verächtern der Kritik, deren Stimmen Reich-Ranicki in seiner ersten großen Abhandlung über Literaturkritik ausgiebig zitiert, hält er als warnendes Beispiel das Verbot der Kunstkritik in der NS-Zeit entgegen. Joseph Goebbels hatte es 1936 unter dem Vorwand erlassen, deutsche Genies vor den Zersetzungen der Kritik zu bewahren. Die Kunstkritik wurde durch die aufbauende „Kunstbetrachtung“ ersetzt.

Die demokratische Tugend der Kritik zu verteidigen gehört zu den Aufgaben, die die Kritik zu ihrer eigenen Selbstbehauptung übernehmen muss. Der Kritiker muss bereit sein, „Kritik der Kritik der Kritik“ zu üben. Reich-Ranicki hat dazu, über seine sozialpolitischen Überlegungen hinaus, eine einfache Psychologie jenes Personenkreises entworfen, aus dem die Attacken gegen die Literaturkritik besonders häufig und hart zu vernehmen sind: aus dem Kreis der Schriftsteller. Sie sind, so stellt es Reich-Ranicki dar, besonders empfindliche und verletzbare Menschen. Ihre Ansichten vom Wert der Kritik hängen reflexartig davon ab, wie sie von der Kritik behandelt werden. Und an der Kritik interessiert sie im Grunde nur eines: ob sie oder ihre Konkurrenten beachtet, gelobt oder getadelt werden.

Zur Tugend der Kritik, die ihr unter den Autoren so viele Feinde einbringt, gehört die Widerstandskraft gegenüber den Wünschen und Empfindlichkeiten der Autoren (und natürlich auch ihrer Verleger), der Mut, sich bei ihnen unbeliebt zu machen, also die Bereitschaft zur Negation. Die negative Kritik sei keineswegs destruktiv, wie ihr oft nachgesagt wird, sondern höchst produktiv. „Denn wer das Fragwürdige und Minderwertige im Vorhandenen erkennt und es artikuliert, der verweist damit gewissermaßen automatisch auf das Fehlende und das Erwünschte, auf das Bessere.“ Schon der zu Lebzeiten viel geschmähte und auch noch nach seinem Tod lange missachtete, von Reich-Ranicki 1989 nachdrücklich aufgewertete Aufklärer und Kritiker Christoph Friedrich Nicolai hatte die produktive Kraft der Kritik im Blick, als er schrieb: „Die Kritik ist die einzige Helferin, die, indem sie unsre Unvollkommenheit aufdeckt, in uns zugleich die Begierde nach höhern Vollkommenheiten anfachen kann.“

Dass der Kritiker gegenüber einem Autor durchaus auch eine persönliche Verantwortung hat, leugnet Reich-Ranicki nicht. Seine Verrisse schrieb er jedoch in dem Bewusstsein, dass ihr Einfluss langfristig immer nur begrenzt ist. „In der Tat halte ich es für ausgeschlossen, dass eine einzige Kritik einen Autor zu vernichten vermag. Es erscheinen ja über Bücher, zumal arrivierter Autoren, zahlreiche Rezensionen, und jedes Buch eines wenigstens etwas bekannten Schriftstellers findet auch solche Kritiker, die es loben. Eine einhellige Reaktion auf ein Buch gibt es beinahe nie – und eine extrem negative Kritik aus bekannter oder gar prominenter Feder hat immer auch Widerspruch zur Folge. Gewiß kommt es vor, dass die negative Kritik den Autor so entmutigt, dass er aufgibt und nichts mehr schreibt. Aber eine solche Kapitulation bewirkt nie eine Kritik oder ein Kritiker. […] Noch nie ist es geschehen, dass ein Kritiker einen schlechten Autor auf die Dauer durchgesetzt hat, und noch nie hat ein Kritiker einen guten Autor verhindert.“

Gegen Gefälligkeiten

Zu den größten Untugenden der Kritik zählt Reich-Ranicki die Anfälligkeit für das Schreiben von „Gefälligkeitskritiken“, also für Buchbesprechungen, mit denen ein Rezensent einer ihm nahe stehenden Person oder einem Verlag einen Gefallen erweisen möchte und deshalb die von ihm erkannten Mängel eines Buches verschweigt oder beschönigt. Die Plage sei unausrottbar: „Wo Bücher erscheinen und rezensiert werden, da lassen sich Gefälligkeiten und Freundschaftsdienste (und natürlich auch Racheakte) nicht ausschalten; und immer werden sie – nur deshalb ist diese Frage nicht unwichtig – als sachliche und objektive Urteile getarnt.“

Je stärker ein Kritiker in das personelle und institutionelle Geflecht des literarischen Lebens eingebunden ist, desto schwerer lässt sich vermeiden, was um der kritischen Unbefangenheit willen zu wünschen wäre: dass er nicht Bücher von Autoren und Verlagen rezensiert, denen er persönlich verbunden ist. Der Kritiker steht in einem für seine Tätigkeit typischen Konflikt, der mit mehrfachen Risiken verbunden ist. Mit enthusiastischen Rezensionen riskiert er, als „Gefälligkeitsrezensent“ in Verruf zu kommen, während negative Besprechungen seine guten Beziehungen aufs Spiel setzen. Der Kritiker kann sich in diesem Konflikt unterschiedlich verhalten: Er kann die Besprechung solcher Bücher, die ihn in diesen Konflikt bringen, vermeiden. Reich-Ranicki hat dies nur in seltenen Fällen konsequent getan. So hat er die Bücher seines langjährigen Freundes Siegfried Lenz seit Jahrzehnten nicht mehr rezensiert und sich auch sonst nicht öffentlich zu ihnen geäußert. Die berüchtigten „Verrisse“ Reich-Ranickis waren hingegen vielfach auch Demonstrationen der „Unbestechlichkeit“, der Unabhängigkeit von persönlichen Rücksichtnahmen. Autoren, denen er bekanntermaßen persönlich nahe stand, konnte er so ohne Gefährdung seines Rufes loben, weil sie und die Öffentlichkeit sich eines solchen Lobes nie sicher sein konnten. Kein Schriftsteller, dessen letztes Buch er lautstark gepriesen hatte, durfte sich darauf verlassen, dass sein nächstes nicht von ihm verrissen würde.

Ein älteres Beispiel dafür ist die Autorin Anna Seghers. Ihren Roman „Das siebte Kreuz“ schätzt Reich-Ranicki über die Maßen. Das hat auch sehr persönliche Gründe, hatte das Buch ihn doch, als er es 1949 in den zwei Wochen seiner Inhaftierung las, dazu bewogen, sich von der Politik ab- und der Literatur wieder zuzuwenden. Auch ihren Roman „Transit“ oder ihre Erzählung „Ausflug der toten Mädchen“ bewundert er sehr. Als 1969 Seghers Erzählung „Das Vertrauen“ erschien, überraschte er indes die Öffentlichkeit mit einem Urteil, wie es ablehnender kaum hätte ausfallen können: „dieses Produkt […] ist nicht nur langweilig und geschmacklos und vollkommen mißraten, es ist auch töricht und verlogen und, vor allem, obszön.“ Für Autoren wie für Leser ist der Kritiker Reich-Ranicki in hohem Maße unberechenbar. Das machte etwas von der Spannung aus, mit der seine Rezensionen zu Martin Walser oder Günter Grass, zu Peter Handke oder Botho Strauß oder auch zu Christa Wolf erwartet wurden.

1995 schrieb er zu Grass’ Roman „Das weite Feld“, wie schon vorher zu „Die Rättin“ („Ein katastrophales Buch“) und „Unkenrufe“, einen seiner berüchtigten Totalverrisse. Grass erklärte daraufhin öffentlich: „Mit diesem Mann spreche ich nicht mehr.“ Und er befand, dieser Kritiker sei durch die Macht der Medien größenwahnsinnig geworden. Umso spektakulärer war das hohe Lob, mit dem Reich-Ranicki 2002 in seiner „Solo“-Sendung die Novelle „Im Krebsgang“ bedachte. Günter Grass widerlegte daraufhin die These Reich-Ranickis, die Meinung eines Schriftstellers über einen Kritiker entspreche stets der Meinung des Kritikers über dessen letztes Buch. Grass zeigte sich unversöhnlich. Reich-Ranicki, so erklärte er, „hat die Trivialisierung der Kritik herbeigeführt. […] Er ist ein schwacher Literaturkritiker.“ Der öffentlich ausgetragene Streit mit Grass konnte den Kritiker indes nicht davon abhalten, im August 2003 ein langes Lob auf den Gedichtband „Letzte Tänze“ zu schreiben.

Selbstkritik und Mut zum Irrtum

Die Entschiedenheit, mit der Reich-Ranicki in seinen Rezensionen urteilt, hat er schon früh zu seinem Programm gemacht und, zusammen mit der Bereitschaft zur Selbstkritik, zu einer der wichtigsten Tugenden der Literaturkritik erklärt. In der „Selbstkritik des ‚Blechtrommel’-Kritikers“ von 1963 stehen Sätze, die er vierzig Jahre lang ständig wiederholt hat – zur Selbstverteidigung und als generelle Empfehlung: „Der Kritiker muß sich entscheiden können, er hat klar ‚ja’ oder ‚nein’ zu sagen und das Risiko, das mit einem solchen Votum verbunden ist, auf sich zu nehmen. Wer dieses bisweilen große Risiko scheut, soll sich einen anderen Beruf auswählen.“ Zweifel am eigenen Urteil mag der Kritiker durchaus haben, doch soll er damit den Leser nicht behelligen, sondern ihm die Ergebnisse seiner Auseinandersetzungen mit einem Buch liefern. Wie auch sonst führt Reich-Ranicki zur Bestätigung seiner Einschätzung viel gleichgesinnte Prominenz an. „Wer nicht Partei ergreifen kann, der hat zu schweigen“, so zitiert er Walter Benjamin. Und aus dessen Thesen über „Die Technik des Kritikers“ fügt er den Satz hinzu: „Nur wer vernichten kann, kann kritisieren.“ Bestätigung erfährt er auch von Kurt Tucholsky, der in seinem Aufsatz „Kritik als Berufsstörung“ schrieb: „Ich will dem Mann schaden, wenn ich ihn tadele. Ich will die Leser vor ihm warnen und die Verleger auch – ich will aus politischen, aus ästhetischen, aus andern offen anzugebenden Gründen diese Sorte Literatur mit den Mittel unterdrücken, die einem Kritiker angemessen sind. Das heißt: ich habe die Leistung zu kritisieren und weiter nichts. Aber die mit aller Schärfe.“

Dem „Jein-Sager“ fehlt der Mut zum Risiko, sich zu irren. Seine Irrtümer fallen deshalb nicht auf, weil er sich nicht festlegt und daher allenfalls halbe Irrtümer produziert.

Ebenso wie den Typus des „Jein-Sagers“ attackiert Reich-Ranicki den Typus des konsequenten „Alleslobers“. Er findet ihn besonders häufig unter jenen Schriftstellern, die nur gelegentlich Rezensionen schreiben, sich also als „Sonntagsjäger der Kritik“ betätigen. Oft sind sie es, „die unentwegt von der Entdeckung neuer Meisterwerke zu berichten wissen.“ Reich-Ranicki hat sich auch für diese Einschätzung der Zustimmung prominenter Gewährsmänner versichert. Schon Friedrich Nicolai befand 1755: „Die Fehler der Kritik schaden lange nicht so sehr als die Lobsprüche, die sich die Schriftsteller untereinander geben.“ Und Kurt Tucholsky sprach in diesem Zusammenhang verächtlich von den „Lobesversicherungsgesellschaften auf Gegenseitigkeit.“ Robert Musil kritisierte 1933, man habe „die Buchkritik zu einem großen Teil Literaten überlassen, die sich gegenseitig lobten.“ Ähnlich verurteilte Friedrich Sieburg 1959 den „lauen Regen gegenseitiger Gefälligkeiten auf das dürre Gelände. Die Autoren schreiben über einander, sie preisen sich im Rundfunk, sie besprechen einander in den literarischen Rubriken … So entsteht die feige und langweilige Jasagerei, die alljährlich mit scheinheiliger Monotonie die literarische Luft verpestet.“

Es sind nach Reich-Ranicki vor allem die „Alleslober“, die das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Kritik untergraben. Weil sie niemanden verärgern wollen, fehlt ihnen der Mut zur Negation. Ihre Rezensionen seien oft opportunistisch und verlogen. Da sie selten „das ganz Schlechte hochloben“, ist ihr Risiko des Irrtums gering.

Klarheit, Verständlichkeit und Liebe zur Literatur

Zu den Tugenden des Kritikers in der Rolle des Lehrers gehören vor allem die Bereitschaft und die Fähigkeit, so zu reden und zu schreiben, dass ihn möglichst viele Leser verstehen. Die Tugend der Verständlichkeit, die sich vor Vereinfachungen nicht scheut, haben die großen Kritiker der Vergangenheit, wie Reich-Ranicki gerne betont, sich nicht zuletzt deshalb aneignen müssen, weil sie für Zeitungen schrieben. Denn Zeitungen haben als Adressaten ein breites Publikum. Wer für Zeitungen schreibt, ist dazu angehalten, sich diesem Publikum verständlich zu machen.

Zur Kardinaltugend des Kritikers erklärt Reich-Ranicki jedoch die Liebe zur Literatur. „Letztlich ist es ja die Liebe zur Literatur, diese mitunter sogar ungeheuerliche Leidenschaft, die es dem Kritiker ermöglicht, seinen Beruf auszuüben, seines Amtes zu walten. Und bisweilen mag es diese Liebe sein, die anderen die Person des Kritikers erträglich und in Ausnahmefällen sogar sympathisch macht. Man kann es nicht oft genug wiederholen: Ohne Liebe zur Literatur gibt es keine Kritik.“

Bei Reich-Ranicki nahm diese Liebe oft obsessive Dimensionen an. Das ist durch anschauliche und komische Anekdoten bezeugt. Freunde und Bekannte erzählten wiederholt und amüsiert, wie er sich auch durch schönste und großartigste Naturerscheinungen nicht von seinen augenblicklichen Interessen an literarischen Fragen ablenken ließ. Adolf Muschg erinnerte ihn zu seinem 60. Geburtstag daran, wie er ihn 1968 in den USA zu den „Taughannock Falls“, dem höchsten Wasserfall East of Niagara führte. „Wir gingen zwanzig Minuten in den Wäldern Lederstrumpfs; die malerische Schlucht schien Ihren Überblick über die jüngste deutsche Literatur nicht im geringsten zu behindern. Schließlich mußte ich Sie darauf aufmerksam machen, daß der Weg am Ende sei: wir ständen vor dem Wasserfall. […] Da fiel er nun also, der Fall, wohl hundert Meter hoch oder tief in einen Felsenkessel, etwas Besseres wusste er nicht. Sie musterten ihn kurz und scharf. Müßte etwas weiter links fallen, sagten Sie. Sagten es und wendeten auf dem Fuß, um die deutsche Literatur weiter zu verfolgen. Die durfte in Ihren Augen nicht weiter links fallen. Die unbelehrbare Natur war eine Sache, die deutsche Literatur eine andere. Sie ließen keinen Zweifel daran, welche Sie für die Hauptsache hielten.“

Verrisse

Reich-Ranickis Tugendkatalog für Literaturkritiker ist der Versuch, seine eigene literaturkritische Praxis zu beschreiben und zu rechtfertigen. Der Mut zur Entschiedenheit und Negation, die Fähigkeit, sich im Grenzbereich von Journalismus und Literaturwissenschaft verständlich zu machen, die Rücksichtslosigkeit gegenüber Autoren und Verlagen sowie die Leidenschaft für Literatur wurden ihm sogar von seinen Kritikern bescheinigt.

Als Markenzeichen für den von Reich-Ranicki praktizierten Rezensionsstil gilt der „Verriss“. Dazu hat seine Auswahl negativer Kritiken beigetragen, die seit 1970 in mehreren Auflagen unter dem Titel „Lauter Verrisse“ erschien. Die Resonanz dieses Buches und sein Verkaufserfolg stellten jenes andere Buch, das als positive Entsprechung zu ihm gelten kann, weit in den Schatten: „Lauter Lobreden“. Die vielen enthusiastischen Kritiken, die er ebenfalls schrieb, konnten nicht verhindern, dass er als ein Mann literarischer Hinrichtungen gilt.

Reich-Ranickis Verrisse folgen der Devise, die im 18. Jahrhundert schon Lessing ausgegeben hatte: „Einen elenden Dichter tadelt man gar nicht; mit einem mittelmäßigen verfährt man gelinde; gegen einen großen ist man unerbittlich.“ Wenn Reich-Ranicki über junge und noch weitgehend unbekannte Schriftsteller schrieb, hatten seine Artikel in der Regel einen lobenden Tenor. Und die negative Besprechung von Büchern, die er eigentlich nicht für kritikwürdig hielt, rechtfertigte er mit dem Rang des Autors. Nur weil die Erzählung „Die linkshändige Frau“ von dem „beliebten und auch in mancherlei Hinsicht repräsentativen Nachwuchsdichter Peter Handke stammt, müssen wir auf dieses erstaunlich harmlose Prosastück […] etwas näher eingehen.“ Ähnlich argumentiert er gleich zu Beginn seines Verrisses von Martin Walsers Roman „Jenseits der Liebe“: „Lohnt es sich darüber zu schreiben? Ja, aber bloß deshalb, weil der Roman von Martin Walser stammt“.

Im Zentrum der meisten literaturkritischen Artikel, die Reich-Ranicki geschrieben hat, steht ein einzelnes Buch, doch zu den Ansprüchen seiner Rezensionen gehört es, über mehr als dieses Buch zu reflektieren: über die Qualitäten und Entwicklungen des ganzen Oeuvres eines Autors oder auch über Problemkomplexe, deren Bedeutung über die eines einzelnen Schriftstellers hinaus reicht. Kritik, so erklärte er, „bezieht sich immer auf einen konkreten Gegenstand – und nie auf diesen Gegenstand allein. Indem der Kritiker ein Buch charakterisiert, indem er es befürwortet oder zurückweist, spricht er sich nicht nur für oder gegen einen Autor aus, sondern zugleich für oder gegen eine Schreibweise und Attitüde, eine Richtung oder Tendenz, eine Literatur. Er sieht also das Buch, das er behandelt, immer in einem bestimmten Zusammenhang. Er wertet es als Symptom.“ Und hinter jeder Kritik verberge sich „ein Bekenntnis, dem sich mehr oder weniger genau entnehmen läßt, welche Art Literatur der Kritiker anstrebt und welche er verhindern möchte.“

Kriterien und Argumente der Wertung

Jede Debatte über Literaturkritik ist immer auch eine über deren „Maßstäbe“ oder „Kriterien“. Und stets steht der Vorwurf im Raum, die Literaturkritik versäume es, über ihre Maßstäbe Auskunft zu geben oder sie zu reflektieren. Sie urteile daher mit unkontrollierter Willkür. Solchen Vorwürfen oder auch denen, die ihm falsche Maßstäbe vorhalten, begegnete Reich-Ranicki mit Bekenntnissen zu einer Kritik, die auf allgemein verbindliche Normen verzichten muss und sich lediglich der Konfrontation einer individuellen Person mit einem Buch verdankt. „Ein Kritiker mit einer Meßlatte – das ist ein Unglück, eine Katastrophe.“ Keinem Kritiker unserer Zeit lasse sich nachsagen, dass er auf eine bestimmte Ästhetik eingeschworen sei und über konstante Normen verfüge. „Um die Schulen und Richtungen, Tendenzen und Strömungen kümmerte er sich wenig, die Theorien waren ihm offenbar gleichgültig, wenn nicht suspekt.“ Diesen Satz schreibt Reich-Ranicki über Alfred Polgar – und implizit wiederum über sich selbst. Ähnliche Feststellungen finden sich in etlichen anderen Kritikerportraits des Bandes „Anwälte der Literatur“, etwa in dem über Alfred Kerr. Dieser „lehnte alle Dogmen und Doktrinen ab“.

Da es kein Gesetzbuch gibt, auf das sich ein Kritiker berufen kann, muss jeder seine Kriterien „aus dem zur Debatte stehenden Gegenstand ableiten“ und kann die literarischen Werke ansonsten „nur durch die Konfrontation mit der eigenen Person messen.“ Das bedeutet in der Praxis: „Ich reagiere mit meiner ganzen Person auf ein neues Buch, das heißt, mit Bildung und Erfahrung, mit meinen Erlebnissen und meinen Vorlieben, meinen Schwächen, Tugenden und Untugenden.“

Ganz so frei von Maßstäben überindividueller Geltung, wie es nicht nur Reich-Ranicki von seiner Arbeit behauptet, ist die literaturkritische Praxis jedoch nicht. In der Regel lassen sich Maßstäbe aus jedem Werturteil problemlos ablesen. Und jedes Werturteil erhebt in der Regel den Anspruch, dass es, wenn auch nicht von allen, so doch von vielen anderen Leserinnen und Lesern nachvollzogen und geteilt werden kann. Wenn Reich-Ranicki beispielsweise dem Roman „Efraim“ von Alfred Andersch vorhält, „ein Klischee jagt das andere“, so appelliert seine Besprechung an einen Konsens darüber, dass ein literarisches Werk keine Klischees reproduzieren sollte. Oder wenn er an Thomas Bernhards frühen Erzählungen kritisiert, dass die „Anhäufung makabrer Motive“ auf die Dauer „ermüdet“, dann setzt diese Argumentation voraus, dass auch andere Leser sich durch Literatur nicht ermüden lassen wollen und die Erfahrung teilen, durch Anhäufungen gleicher Motive ermüdet zu werden.

Weit problematischer als die Maßstäbe sind an literaturkritischen Wertungen in der Regel deren Anwendungen auf bestimmte Texte. Umstritten ist nicht, dass ein Werk Klischees und Effekte der Ermüdung vermeiden sollte, sondern ob es Klischees enthält und ermüdend wirkt. Vor allem in der Anwendung von Maßstäben auf konkrete Fälle ist die Kritik durchlässig für individuelle Vorlieben.

Engagierte Literatur, zeitkritischer Psychologismus, geteiltes Leid und Vergnügen

Reich-Ranickis Vorstellungen zur Funktion von Literatur haben sich im Laufe der Jahrzehnte erheblich gewandelt. Im ersten Jahrzehnt seiner literaturkritischen Tätigkeit in der Bundesrepublik bekannte er sich zu einer „engagierten Literatur“, wie sie damals von den linksliberalen und sozialistischen Intellektuellen unter den deutschsprachigen Schriftstellern, zum Teil in Anlehnung an Jean-Paul Sartres Begriff einer „Littérature engagée“, vielfach gefordert wurde: „Ich bin Anhänger einer engagierten Literatur. Ich glaube, daß Schriftsteller sich nicht damit begnügen dürfen, das Leben mit reizvollen Arabesken zu schmücken und allerlei Ornamente beizusteuern. Ich glaube, daß es ihre Hauptaufgabe ist, bewußt in einer bestimmten Richtung zu wirken, also auf ihre Zeitgenossen Einfluß auszuüben. Daher suche ich in der Literatur, zumal in der erzählenden Prosa, vor allem die Auseinandersetzung mit den großen moralischen Fragen der Gegenwart.“ Wer von der Literatur erwarte, dass sie sich engagiert, müsse dies ebenfalls vom Kritiker fordern: „Auch den Kritiker verpflichtet die Auseinandersetzung mit den zentralen moralischen, philosophischen und ideologischen Problemen unserer Zeit.“ Ein „Preisnachlaß für die künstlerische Leistung“ dürfe dem engagierten Schriftsteller freilich nicht gewährt werden.

Nicht zuletzt die kunstfeindlichen Tendenzen in den Jahren der Studentenbewegung haben Reich-Ranickis Forderungen nach engagierter Literatur gebremst. „Gegen die linken Eiferer“ heißt ein 1973 erschienener Artikel über Heinrich Bölls Nobelpreis-Rede. Ein „Klima militanter und düsterer Kunstfeindschaft“ habe dazu geführt, „daß wir, die wir immer schon für das Engagement in der Dichtung waren und die wir die Gesellschaftskritik in der Literatur für etwas Selbstverständliches hielten, das Wort ‚Gesellschaftskritik’ nicht mehr verwenden können“. In einer größeren Rückschau auf die Literatur der siebziger Jahre sympathisiert er, im Blick vor allem auf autobiografische Werke von Max Frisch, Wolfgang Koeppen und Thomas Bernhard, mit einer Literatur, die sich durch ihren „zeitkritischen Psychologismus“ auszeichne. „Die psychologische Analyse dient in diesen Romanen, Erzählungen und Autobiografien der Auseinandersetzung mit der Welt, in der wir leben. Introspektion und Zeitkritik bedingen und beglaubigen sich gegenseitig, das intime Papier ist zugleich […] das öffentlich kritische.“ Seit den achtziger Jahren findet sich das Wort „kritisch“ als Auszeichnung von Literatur in seinen Rezensionen kaum noch. Der Literatur weist Reich-Ranicki seither vor allem zwei Funktionen zu, die auch seine Autobiografie immer wieder hervorhebt. Im Werk Max Frischs finden wir, so erklärt er, „was wir alle in der Literatur suchen: unsere Leiden. Oder auch: uns selber.“

Eine andere Funktion der Kunst betont er jedoch noch weit stärker: uns Freude, Vergnügen und Glück zu verschaffen. Die Ambitionen „engagierter“ Literatur und Kunst verfallen zunehmend dem Verdikt des Illusionären. Bei aller Verehrung für den großen Geigenspieler Menuhin hält Reich-Ranicki in seiner Autobiografie dessen Versuche, die Violine zu einer Waffe gegen das Unrecht auf dieser Erde zu machen, für eine Illusion. In „Mein Leben“ beruft er sich auf eine Antwort Thomas Manns auf die Frage nach dem eigentlichen Ziel seiner Arbeit: „Ich sage einfach: Freude.“ Die Hoffnung, man könne durch Literatur die Menschen erziehen und die Welt verändern, habe die Geschichte der Literatur gründlich enttäuscht.

1986 legte er in seinem Gespräch mit Peter von Matt die hedonistische Grundlage seiner Bewertungspraxis offen. Peter von Matt bot ihm drei mögliche Antworten auf die Frage nach den Funktionen von Literatur an: „Literatur vermittelt Wahrheit, die Wahrheit über die Welt und die Menschen. Das ist die eine Möglichkeit, die philosophische. Literatur zeigt mir, wie ich leben soll und schreckt mich von dem falschen Weg ab. Das ist die zweite, die pädagogische Definition. Drittens: Literatur verschafft mir Lust und Vergnügen. Das ist die epikureische Definition. Sie verschafft mir Denkvergnügen, Spiellust, erotisches Vergnügen, Lust als Aggressionsabfuhr usw. Alle drei Möglichkeiten können sehr simpel oder sehr hoch entwickelt sein. Wahrheit, Erziehung oder Lust, wo liegt für Sie das Hauptgewicht?“ Reich-Ranicki antwortete: „Beim Vergnügen, bei der Lust. Ich entscheide mich also für die epikureische Definition.“

Die Konsequenzen dieser Entscheidung für die literaturkritische Wertung fasste Peter von Matt so zusammen: „Das Lust- oder Unlustgefühl, das der Text in Ihnen weckt, ist entscheidend für alles, was nachher passiert.“ Das sei zwar etwas überspitzt formuliert, entgegnete Reich-Ranicki, „aber der Ausgangspunkt meiner Kritik ist damit richtig angedeutet.“

Mit diesem Bekenntnis zur Lust oder Unlust am literarischen Text als Basis literaturkritischer Wertung steht Reich-Ranicki in Traditionen poetologischen und ästhetischen Denkens, die bis in die Antike zurückreichen, im 18. Jahrhundert neu entdeckt und weitergeführt wurden und noch heute in literaturwissenschaftlichen Wertungstheorien eine zentrale Bedeutung haben.

Kant erklärte gleich zu Beginn seiner „Kritik der Urteilskraft“ das Gefühl der Lust oder der Unlust zur Basis aller ästhetischen Urteile. Nach „Vorrede“ und „Einleitung“ beginnt die „Kritik der Urteilskraft“ mit dem Satz: „Um zu unterscheiden, ob etwas schön sei oder nicht, beziehen wir die Vorstellung nicht durch den Verstand auf das Objekt zum Erkenntnisse, sondern durch die Einbildungskraft […] auf das Subjekt und das Gefühl der Lust oder Unlust desselben.“

Bloße Bekundungen der Lust oder Unlust reichen allerdings für eine Literaturkritik, die ihren Namen verdient, nicht aus. Es müssen Gründe für sie gefunden, also Hinweise gegeben werden, aufgrund welcher Eigenschaften ein literarischer Text Lust- oder Unlustgefühle hervorruft. „Einem Menschen von gesundem Verstande, wenn man ihm Geschmack beibringen will, braucht man es nur auseinander zu setzen, warum ihm etwas nicht gefallen hat.“ So hatte Lessing diese Notwendigkeit formuliert. Reich-Ranicki beschrieb den Prozess der literaturkritischen Urteilsbildung so: „Schon während der ersten Lektüre bereitet mir das Buch Vergnügen oder es langweilt mich, ich bin an der Sache stark interessiert oder sie läßt mich kalt, ich bin begeistert oder entsetzt. Erst etwas später mache ich mir Gedanken über die Ursachen meines Verhältnisses zu diesem Text. Die notwendigen Argumente sind nicht immer gleich da, aber sie lassen sich schon finden.“

Urteilsbegründungen

Zwei Arten von Argumenten sind dabei in der literaturkritischen Praxis besonders verbreitet und gehören zu den Mindestanforderungen an eine Werturteilsbegründung. Der Kritiker muss zum einen Merkmale und zum anderen Wirkungen eines literarischen Werkes (auf ihn selbst und vermutlich auch auf andere Leser) beschreiben, aufgrund derer er es positiv oder negativ bewertet. Und er versucht dabei die Frage zu beantworten, aufgrund welcher Merkmale der Text welche positiven oder negativen Wirkungen hervorruft. Als Marcel Reich-Ranicki beispielsweise 1984 den Roman „Der junge Mann“ von Botho Strauß negativ bewertete, begründete er dies zum einen mit dem Wirkungsargument, der Roman rufe bei der Lektüre Langeweile hervor. Diese Wirkung wiederum begründete er zum anderen mit Hinweisen auf Textmerkmale: „Warum? Weil uns der Autor des ‚Jungen Mannes’ mit Zeichen, Sinnbildern und Symbolen, mit allegorischen Motiven, bizarren Visionen und mythologischen Anspielungen überhäuft, diesen Elementen aber Sinnlichkeit, Anschaulichkeit und Überzeugungskraft abgehen.“ (FAZ, 1.12.1984)

Reich-Ranickis Wirkungsargumente verwenden, soweit sie sich auf Unlustgefühle beim Lesen beziehen, mit Vorliebe Wörter wie „langweilen“ oder „ermüden“. „Peinlich“, „ärgerlich“ oder „quälend“ sind weitere Vokabeln der Abwertung, die er gerne benutzt. Bei Bernhards frühen Erzählungen kann der Kritiker nicht verschweigen, daß der Autor „häufig, wo er erschüttern will, nur noch ermüdet.“ Positiv werden Texte bewertet, die eine starke emotionale Wirkung bestimmter Art haben, die „aufschrecken“, „erschüttern“, die „unvergesslich“ bleiben.

Als Gründe für die Unlustgefühle zum Beispiel der Langeweile können unterschiedlichste Eigenschaften der Texte angeführt werden: zu viele Wiederholungen und Anhäufungen gleicher Motive (z. B. beim frühen Bernhard), Klischees, umständliche Formulierungen, zu viele und noch dazu wenig intelligente Reflexionen.

Die so benannten Eigenschaften der Texte versucht Reich-Ranicki in der Regel mit exemplarischen Zitaten oder Paraphrasen zu belegen. In Alfred Anderschs „peinlichem“ Roman „Efraim“ jage ein „Klischee“ das andere. Das wird nicht nur behauptet, sondern sogleich mit Beispielen begründet: Der deutsche Verleger ist dort blond, der jüdische Journalist „von Unrast beherrscht“, der enttäuschte Kommunist hat ein „von Leiden ausgehöhltes Gesicht“. Und, so der Kritiker: „In Rom ist es trocken und sonnig, in London feucht grau und neblig.“

Die Grundbestandteile literaturkritischer Argumentation finden sich trotz der Umfangsbeschränkungen, die für Rezensionen gelten, in nahezu allen Artikeln von Reich-Ranicki. Sie erschöpfen sich nicht in bloßen Lust- oder Unlustbekundungen, sondern führen Gründe dafür an, die um das Einverständnis der Leser bemüht sind oder ihm Möglichkeiten geben, die Bewertung zurückzuweisen. Der Subjektivität und individuellen Willkür des Kritikers sind damit Grenzen gesetzt, doch bleiben Spielräume für persönliche Vorlieben.

Die Subjektivität seiner Vorlieben hat Reich-Ranicki nie bestritten. In Anlehnung an Fontane formuliert er das seiner Auffassung nach einzig aufrichtige Bekenntnis des Kritikers folgendermaßen: „Wenn es ihm an Mut nicht fehlt, wenn er etwas taugt […], dann antwortet er, zumal in unserer Zeit: Die Maßstäbe, die Kategorien und die Kriterien – das bin ich.“ „Von Fall zu Fall“ habe der Kritiker dabei zu urteilen. Seine persönlichen Maßstäbe der Wertung stehen jedoch nicht schon vor der Lektüre fest, sondern entwickeln sich aus der Konfrontation mit den Anforderungen und Gegebenheiten des jeweiligen Werkes.

Vorlieben

Reich-Ranicki schätzt eine Literatur, die ihre Leser weder unter- noch überfordert. Sein kritisches Engagement gilt dem „intelligenten, dem gehobenen Unterhaltungsroman“. Für jene massenhaft verbreitete Unterhaltungsliteratur, die man auch als „Trivialliteratur“ bezeichnet, hat er kein Interesse. Ihr fehle der „doppelte Boden“, ohne den bessere Literatur nicht auskomme: „Wenn einem Text die Zeichenhaftigkeit fehlt, dann ist es keine Literatur, der doppelte Boden muß vorhanden sein.“

Deutliche Vorlieben zeigt er auch hinsichtlich der literarischen Figuren und Stoffe. Wie Lessing bevorzugt er solche literarische Figuren, die ihm Möglichkeiten zur Identifikation bieten. Im „Literarischen Quartett“ erklärte er wiederholt: „Ich habe gerne intelligente Figuren, ich lese ungern Bücher über Doofköppe.“ (19. Oktober 2001) Oder: „Ich interessiere mich für Liebesgeschichten von Intellektuellen. Die Liebesgeschichten von Bauern können vielleicht auch sehr aufregend sein, aber das ist nicht ganz mein Fach.“ (10. Oktober 1991) In der Rezension zu Günter Grass’ Roman „Das weite Feld“ heißt es: „Wer in den Mittelpunkt eines Romans einen dummen Menschen stellt, muß damit rechnen, daß dessen Dummheit sich ausbreitet und das Ganze infiziert.“ Auch an Kinder- oder Tierfiguren in der Literatur findet er in der Regel wenig Gefallen.

Gesunder Menschenverstand

Im Zusammenhang mit seinen Vorlieben für erwachsene und intelligente Protagonisten stehen seine literaturkritischen Berufungen auf den „gesunden Menschenverstand“, der in Deutschland bedauerlicherweise oft belächelt oder gar verachtet worden sei. In einem kulturellen Umfeld, in dem die Literatur ihn missachte, da habe die Kritik einen schweren Stand. „Wo man aber die Dämmerung und das Geheimnisvolle mehr liebt als die Klarheit und das Nüchterne, wo man der Beschwörung mehr traut als der Analyse, wo man die Denker vor allem dann schätzt, wenn sie dichten, und die Dichter, wenn sie nicht denken, und wo man andererseits eine hartnäckige Schwäche für das Abstruse und Konfuse, für das Tiefsinnige oder, richtiger gesagt, für das Scheinbar-Tiefsinnige hat, da freilich kann kein Platz für die Kritik sein, da muß sie als etwas Lästiges und auch Anstößiges erscheinen.“

Bei aller Hochschätzung ist ihm Hölderlin vor allem da suspekt, wo er allzu häufig das Wort „heilig“ verwendet, wo er die Poesie zur Religion erhebt oder wo er den „Tod fürs Vaterland“ besingt. Suspekter noch sind ihm jene Formen der anbetenden Dichterverehrung, wie sie der Kreis um Stefan George Hölderlin entgegenbrachte. Einige Zeitgenossen Hölderlins, die dessen Krankheit zum „heiligen Wahnsinn“ verklärten, macht er für die Tendenz verantwortlich, „sachliche, prosaische Ausdrücke für Hölderlins Leiden zu meiden“. Wenn Reich-Ranicki unter dem Titel „Wie von Furien gejagt: Hölderlin“ auf die Krankheit dieses Dichters zu sprechen kommt, neigt er dazu, negative Bewertungen von Texten mit Hinweisen auf psychische Probleme des Autors zu verbinden und sie damit zu begründen. Hölderlin sei „genial, doch leider weltfremd und letztlich lebensunfähig“ gewesen. Dem Intellekt Hölderlins sei es nicht gelungen, „seinen poetischen Genius hinreichend zu kontrollieren“. So entstehe der Eindruck, dass die kunstvolle „Wortmusik“ dieses Dichters, die den Leser „narkotisiert und vielleicht sogar entmündigt“, dem „Wert seiner Erkenntnisse haushoch überlegen ist“. Ähnliche Bemerkungen über den pathologischen Verlust der Selbstkontrolle, über den Zusammenhang von psychischen und literarischen Schwächen finden sich in kritischen Auseinandersetzungen mit etlichen anderen Autoren, besonders ausgeprägt in dem neueren, 2000 und 2001 entstandenen Aufsatz über Robert Musil mit dem bezeichnenden Titel „Der Zusammenbruch eines großen Erzählers“. Die Bewertung von Texten und die von Persönlichkeitsmerkmalen des Autors ergänzen und bestätigen sich hier gegenseitig. An Musils großem und fragmentarischem Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“ werde besonders deutlich, „was dem Autor Musil am meisten gefehlt hat: Selbstkontrolle“. Wobei der Mangel an Selbstkontrolle mit „Unsicherheit“ und „Unentschlossenheit“ einherging. Das Scheitern des Romanprojekts habe seinen wichtigsten Grund in einer „teilweise pathologischen Mentalität“. Die „schmerzliche“ und „verdrießliche Lektüre“ von Musils Tagebüchern und Briefen bestätige: Musil „war ein unglücklicher Mensch, einerseits willensstark und andererseits sehr schwach, extrem introvertiert und offensichtlich manisch veranlagt, auf jeden Fall ein Besessener, ein Fanatiker. Von Obsessionen wurde er gejagt und gehetzt – und konnte sich ihrer meist nicht erwehren. Mehr noch: Vieles weist darauf hin, daß Musil bisweilen in hohem Maße verwirrt war.“

Pathologisches

Reich-Ranickis aufklärerische Berufungen auf den „gesunden Menschenverstand“ erscheinen da besonders problematisch, wo die Hochschätzung des „Gesunden“ an diesem Verstand mit Abwertungen des „Kranken“ einhergeht. Dass er damit in bedenkliche Nähe sowohl nationalsozialistischer als auch sozialistischer Verdikte gegen kranke, „entartete“ oder „dekadente“ Kunst oder auch von Goethes berühmt-berüchtigten Urteilen über die „kranke“ Romantik gerät, hat man ihm wiederholt vorgeworfen – ohne zu sehen, worin sich seine Argumentationen und Vorlieben von solchen Verdikten grundlegend unterscheiden. Die Hochschätzung des „gesunden Menschenverstandes“ verleitete ihn allerdings mehrfach dazu, auch über psychische Deformationen literarischer Figuren in Werken zu spotten, die er missbilligte. Dem altehrwürdigen, von der Poetik des Aristoteles formulierten und von der frühaufklärerischen Literaturkritik eines Gottsched neu vorgetragenen Postulat, dass die literarische Darstellung von Geschehnissen und Verhaltensweisen sich an Regeln der Wahrscheinlichkeit orientieren solle, zeigen sich viele seiner Wertungen verbunden. Literatur soll dieser Regel nach die Wirklichkeit zwar nicht nachbilden, aber das Geschehen doch so darstellen, wie es sich in der Wirklichkeit ereignen könnte. In der Kritik von Handkes Erzählung „Die linkshändige Frau“ zitiert Reich-Ranicki den Satz: „Bruno hatte den Arm um sie gelegt. Dann lief er weg und schlug einen Purzelbaum auf dem hartgefrorenen Rasen.“ Es folgt der Kommentar: „Ich fürchte, der Mann ist nicht ganz in Ordnung.“ In einer anderen Passage der Erzählung, in der Bruno auf der Straße von seiner Frau begleitet wird, steht der Satz: „Plötzlich blieb Bruno stehen und legte sich auf die Erde, mit dem Gesicht nach unten.“ Reich-Ranicki zitiert ihn und fügt hinzu: „Unter diesen Umständen scheint die Unterbringung Brunos in eine psychiatrischen Anstalt nötig, was freilich Handke zu vermerken unterlassen hat.“

Auch Reich-Ranickis Vergleiche der Kritikerrolle mit der des Arztes haben in diesem Zusammenhang etwas Bedenkliches. Es ist jedoch nicht zu übersehen, wie sehr er gerade auch solche Autoren und Texte schätzt, für die – wie schon bei dem von ihm bewunderten Thomas Mann – Themen und Motive der Krankheit konstitutiv sind: Hermann Burger, Thomas Bernhard und viele andere. In einem kleinen Portrait über Thomas Bernhard, das nicht lange Zeit nach dem Musil-Essay entstand, stehen die keineswegs abwertend, sondern respektvoll gemeinten Sätze: „Bernhards Arbeiten sind Berichte eines Leidtragenden, Konfessionen eines Besessenen. Und was immer er erzählt hat, sind Krankheitsgeschichten. Seine bohrende und hartnäckige Teilnahme galt den Gefährdeten und den Verlorenen, den Menschen, die vom Sog der Abgründe erfasst werden. Verbrecher und Wahnsinnige bevölkern seine Szene, Psychopathen und Neurastheniker, Mörder, Selbstmörder und Sterbende.“

Die von Reich-Ranicki geschätzten Autoren und literarischen Figuren sind keine starken, strahlenden und psychisch robusten Helden, wie sie der sozialistische Realismus forderte, sondern Leidende. Autoren haben uns, so wiederholt er oft, vor allem eines zu bieten: „ihre Leiden. Von ihnen sprechend, sprechen sie von unser aller Leiden“ und lassen uns mit unserem Leiden nicht allein. Das Leiden muss allerdings in ihren Figuren so dargestellt werden, dass es für andere verständlich und nachvollziehbar ist. Die literarische Figurendarstellung kritisiert Reich-Ranicki regelmäßig da, wo sie nicht lebendig wirkende Charaktere entwickelt, sondern künstlich und konstruiert erscheinende Ideenträger, wo sie „Marionetten“ hervorbringt, die dem Leser die Möglichkeit verweigern, sich mit ihnen zu identifizieren. An Grass’ Roman „Örtlich betäubt“ bemängelt er, dass der Autor hier „statt Menschen“ lediglich „Schemen“ und „primitive Demonstrationsobjekte“ vorführe. Die Figuren in dem Roman „Ein weites Feld“ kritisierte Reich-Ranicki später ähnlich als bloße Konstrukte.

Klassisches

An Reich-Ranickis Kritiken zu Günter Grass lassen sich exemplarisch weitere Maßstäbe ausmachen, die seine Rezensionspraxis mehr oder weniger konsequent bestimmen. An beiden genannten Romanen bemängelt er, wie in vielen anderen Fällen, das Fehlen einer „Ganzheit“. „Früher habe ich es bedauert, daß Ihnen in Ihren Romanen (anders als in Ihren glänzenden Erzählungen ‚Katz und Maus’ und ‚Das Treffen in Telgte’) keine Ganzheit gelingen will, daß Sie meist nur Bilder, Szenen und Episoden aneinanderreihen. Jetzt bedauere ich, daß wir in dem ‚Weiten Feld’ derartige in sich geschlossene Abschnitte vergeblich suchen.“ Der ästhetisch modernen Tendenz zur fragmentierenden Destruktion jener organischen Einheit und Ganzheit, die von der klassischen Ästhetik gefordert wurde, ist Reich-Ranicki nicht bereit zu folgen. Seine Beobachtung, dass Romanautoren heute selten die Fähigkeit haben, Texte großen Umfangs überzeugend zu strukturieren, verleitete ihn dazu, auf ironisch überspitzte Weise zu prognostizieren, dass Romane mit mehr als 500 Seiten schlecht seien.

An Normen der klassischen Ästhetik sind auch Reich-Ranickis Postulate der Schönheit, sinnlichen Anschaulichkeit und kontrollierten Distanz zu Affekten orientiert. Aus Schillers Rezension zu Bürgers Gedichten zitiert er in dem Verriss des 781 Seiten umfassenden Romans „Das weite Feld“ die Warnung, „mitten im Schmerz den Schmerz zu besingen“. Goethes Gedichtzeile „Bilde, Künstler, rede nicht!“ zitiert er gerne, wenn er an Romanen oder Erzählungen moniert, dass dort zu viel reflektiert wird und essayistische Passagen zu sehr dominieren. Dem Roman von Grass, in dem wenig geschieht und „Hunderte von Seiten mit Reflexionen und Mitteilungen, mit Diskussionen und Briefen“ angefüllt sind, sei es nicht gelungen, „Gedankliches ins Sinnliche zu übertragen, Geistiges also sichtbar und anschaulich zu machen.“ Was der Autor über das heutige Deutschland zu sagen habe, werde „nur behauptet und nicht erzählt, nur verkündet und nicht gezeigt.“

Politisches

Reich-Ranickis Grass-Kritik ist neben einer ästhetischen zu weiten Teilen auch eine an politischen Maßstäben orientierte Kritik, und zwar in doppelter Hinsicht. Zum einen entspricht der Roman mit seinem politischen Engagement nicht Reich-Ranickis gewandelten Vorstellungen darüber, was Literatur leisten kann und soll. Aufgrund seiner politischen Interessen, so legt die Rezension nahe, versagt der Roman literarisch. Zum anderen entsprechen auch die politischen Inhalte des Romans nicht den Vorstellungen des Rezensenten: „Ich möchte nicht mit Ihnen über Ihre politischen Ansichten, die ich, verzeihen Sie, nicht immer ganz ernst nehmen kann, hier diskutieren. Es ist nicht meine Sache, Sie über die DDR zu belehren. Aber es ist mein Recht, mich zu wundern. Sie wissen so gut wie ich, daß das SED-Regime Millionen Menschen unglücklich gemacht, daß es Unzähligen, darunter, beispielsweise, unseren Kollegen Walter Kempowski und Erich Loest, Jahre ihres Lebens geraubt hat. Sie wissen, besser als ich, daß und wie die Literatur in diesem Land unterdrückt wurde. Sie wissen sehr wohl, daß die DDR ein schrecklicher Staat war, daß hier nichts zu beschönigen ist. Doch Ihr Roman kennt keine Wut und keine Bitterkeit, keinen Zorn und keine Empörung. Ich gebe zu, ich kann das nicht begreifen, es verschlägt mir den Atem.“

Schon Grass’ Roman „Örtlich betäubt“ hatte Reich-Ranicki 1969 auch unter politischen Gesichtspunkten kritisiert, allerdings noch mit anderen Vorzeichen: „Nicht ohne Konsequenz wird von Grass die Protestbewegung infantilisiert und damit verniedlicht und bagatellisiert. So erscheint ein jedenfalls sehr ernstes politisches Phänomen unserer Zeit als eine etwas komische Revolte, die ihren Ursprung vor allem in Pubertätsnöten hat. Des Beifalls aller Spießer und Reaktionäre darf Grass – sosehr ihm davor graut – nun sicher sein.“

Ein genereller Vorbehalt gegenüber politischen Interessen der Literatur war 1969 bei Reich-Ranicki noch nicht zu vernehmen. Er zeigte sich erst in den siebziger Jahren. Die hymnische Besprechung von Martin Walsers Novelle „Ein fliehendes Pferd“ konstatierte am Ende zufrieden: „Martin Walser hat offenbar nicht mehr den Ehrgeiz, mit der Dichtung die Welt zu verändern. Er will nur ein Stück dieser Welt zeigen. Mehr sollte man von der Literatur nicht verlangen.“ Die mündliche Kritik an „Ein weites Feld“ im „Literarischen Quartett“ wurde, was das Kriterium der Themenwahl angeht, noch deutlicher als der im „Spiegel“ erschienene offene Brief an den Autor: „Keiner hat den Grass dazu aufgefordert, über die Wiedervereinigung zu schreiben. Mir wäre lieber, wenn Grass über die Liebe zu seiner Frau geschrieben hätte. Interessiert mich mehr als seine Ansichten zur Wiedervereinigung.“

Erotisches

Auch die Wahl des literarischen Themas und Stoffes unterliegt Bewertungsmaßstäben. In einer Laudatio auf Reich-Ranicki vermerkte Jens mit freundschaftlicher Distanz: „Wenn ein Schriftsteller wie Max Frisch ‚die alten Männer und die jungen Mädchen besingt, ist es um Reich-Ranicki geschehen’“. So erfuhr denn auch „Das sterbende Tier“, der 2002 erschienene Roman des amerikanischen Bestseller-Autors Philip Roth, der von den zahlreichen Liebesbeziehungen eines alten Literaturkritikers zu jungen Frauen handelt, prompt Reich-Ranickis höchste Anerkennung. Reich-Ranicki war vierundvierzig Jahre alt, als er in der „Zeit“ einen Artikel mit der Überschrift „Sexus und die Literatur“ veröffentlichte. Anlass war der Bestseller-Erfolg des Romans „Die Clique“ von Mary McCarthy, den er zwar nicht „bedeutend“, doch „lesenswert“ fand. Der Erfolg verweise auf symptomatische Defizite der deutschsprachigen Literatur der 1960er Jahre, in der die Sexualsphäre gar nicht oder nur in abstoßender Weise behandelt werde. Günter Grass wirft er vor, dass in seinen Darstellungen „des Widerwärtigen und Abstoßenden“ das „Geschlechtsleben als eine ziemlich ekelhafte, zumindest aber wenig attraktive Prozedur erscheint.“ Der Ästhetik des Hässlichen, die für die literarische Moderne konstitutiv ist, steht Reich-Ranicki auch im Hinblick auf die literarische Darstellung von Sexualität reserviert gegenüber. Was er 1964 an Grass oder auch an Walser monierte, wiederholte er am 10. März 1989 bei der Besprechung von Elfriede Jelineks Roman „Lust“ im „Literarischen Quartett“: Jelinek habe ein Buch geschrieben, „wo die Sexualität unentwegt mit äußerster Kraft denunziert wird als das Widerlichste auf Erden“.Dass Reich-Ranicki auch Autoren schätzt, bei denen Erotik keine Rolle spielt, zeigt das Beispiel Thomas Bernhard. Überhaupt gibt es kaum eine ihm nachgesagte Tendenz, zu der sich nicht Gegenbeispiele finden ließen. Er selbst führte eine ganze Reihe solcher Beispiele an, als ihm ein Kritiker in der „Neuen Zürcher Zeitung“ vorhielt: „Was teilt der Kritiker Marcel Reich-Ranicki dem Leser mit, wenn er den neuen Roman von Botho Strauß rezensiert? Er berichtet von seiner ‘Langeweile’, die manchmal ‘schier unerträglich’ wurde. Auch von ‘Widerwillen’ ist die Rede. Später wird von ‘Halbseide’ gesprochen, und von den ‘feierlichen Banalitäten’ des Textes. Aber gesagt, erklärt, gedeutet? Wird fast nichts. Weshalb der Leser vielleicht doch annehmen darf: daß der Kritiker das Buch nicht verstanden hat. Denn das Ideal des Rezensenten ist der Roman, der sich gleichsam von selbst erzählt. Eine durchgehende, ‘epische’ Handlung; ein ‘realistisches’ Portrait der Wirklichkeit; eine ‘Geschichte’; und einfache, durchschaubare Sprache. Reich-Ranicki fällt dazu der Name des Autors John Updike ein. – Als ob die Literatur an solchen Idealen gemessen werden dürfte.“ (Neue Zürcher Zeitung, 1.3.1985) Die Antwort Reich-Ranickis erschien sechs Tage später: „Ist die Sprache jener, die ich als die größten Schriftsteller unseres Jahrhunderts bewundere – also Thomas Manns und Franz Kafkas – einfach und durchschaubar? Haben Wolfgang Koeppens Romane, die ich seit dreißig Jahren rühme, eine durchgehende ‘epische’ Handlung? Liefert Thomas Bernhard, über den ich seit den sechziger Jahren schreibe, ein ‘realistisches’ Portrait der Wirklichkeit? Ist Hermann Burgers ‚Künstliche Mutter’ ein Roman, der sich gleichsam von selbst erzählt? Und trifft eines dieser Kriterien auf das Buch ‚Die Widmung’ von Botho Strauß zu, das ich in der F.A.Z. enthusiastisch besprochen habe? Und schließlich: Darf man nicht John Updike schätzen?“ (FAZ, 7.3.1985) Lauter rhetorische Fragen. Sie gehören zu den charakteristischen Kennzeichen von Reich-Ranickis Stil.

Rhetorik der Kritik

Rhetorik ist die Kunst, mit Reden oder Schreiben beim Publikum optimale Wirkungen zu erzielen. Ob Reich-Ranicki mündlich oder schriftlich agiert, ein Rhetoriker ist er durch und durch. Als er 1997 einen Vortrag über „Glanz und Elend der Redekunst“ hielt, sprach er, ohne es ausdrücklich zu sagen, in eigener Sache. Der Vortrag erschien in dem Band „Vom Tag gefordert“, einer Sammlung seiner „Reden in deutscher Angelegenheit“. Von Literaturkritik ist hier nur beiläufig die Rede, doch ist sie zweifellos mit gemeint, wenn Reich-Ranicki die Rhetorik gegen ihre Verächter verteidigt – im Bewusstsein, dass sie oft missbraucht wurde.

Polemik

Zu Reich-Ranickis Rhetorik gehört die Polemik, also eine öffentliche Form aggressiver, streitlustiger, überspitzter, doch keineswegs argumentationsloser Kritik, die Lessing zu einem Instrument der Wahrheitsfindung aufgewertet hatte. „Jede Kritik, die es verdient, eine Kritik genannt zu werden, ist auch eine Polemik.“ Seit jeher gehört sie zum unentbehrlichen Repertoire des Kritikers. Lessing hatte es auf diesem Gebiet bereits zur Meisterschaft gebracht. Dabei schreckte er auch vor derben Ausdrücken und zornigen Angriffen nicht zurück, was ihm den Ruf „eine[s] oft unbarmherzigen und grausamen, ja mitunter nahezu sadistischen Polemiker[s]“ einbrachte.

Auch hier charakterisiert Reich-Ranicki mit Lessing unverkennbar sich selbst. Ein rhetorisches Stilmittel, das im polemischen Diskurs selten fehlt, ist die Übertreibung. Wie der von ihm so hoch geschätzte Thomas Bernhard im Bereich der Literatur, hat sich Reich-Ranicki in der Literaturkritik als prominentester Übertreibungskünstler etabliert. Die polemische Übertreibung – mit der Absicht zu überzeugen, nicht zu überreden! – soll zur Deutlichkeit beitragen und damit Reaktionen provozieren. Den grammatischen Superlativ verwendet Reich-Ranicki zwar in negativen Urteilen selten, doch starke Attribute wie primitiv, albern, läppisch, peinlich, dürftig oder plump sind ihm ebenso geläufig wie die Substantive Unsinn, Lappalien, Blödeleien, „kaum noch zu überbietendende Albernheit“ oder – im Wechsel der Stilhöhe – auch „Mumpitz“ und dergleichen.

Im letzten seiner „Briefe antiquarischen Inhalts“ erklärte Lessing, dass „jeder Tadel, jeder Spott“ dem Kritiker erlaubt sei und ihm niemand vorschreiben könne, „wie sanft oder wie hart, wie lieblich oder wie bitter, er die Ausdrücke eines solchen Tadels oder Spottes wählen soll. Er muß wissen, welche Wirkung er damit hervorbringen will, und es ist notwendig, dass er seine Worte nach dieser Wirkung abwäget.“

Wirksame Effekte

Die rhetorische Kunst, mit Worten starke Wirkungen zu erzielen, beherrscht Reich-Ranicki wie kein anderer Kritiker der Gegenwart. Wer seine Publikationen nach rhetorischen Stilfiguren und anderen Techniken der Erregung und Bindung von Aufmerksamkeit durchsucht, wird auf Schritt und Tritt fündig. Die rhetorischen Regeln belehrender Argumentation (docere) sind ihm ebenso geläufig wie die Mittel der Affekterregung (movere) und die Künste, das Publikum zu vergnügen (delectare). „Ein belangloser, ein schlechter, ein miserabler Roman. Es lohnt sich nicht, auch nur ein Kapitel, auch nur eine einzige Seite dieses Buches zu lesen.“ So steigert sich die Kette der abwertenden Wörter (Klimax) im Verriss von Walsers Roman „Jenseits der Liebe“. Die Figuren der Alliteration, Antithese und Häufung kombiniert das Urteil über den Roman „Örtlich betäubt“ von Günter Grass: „Was einst drall und deftig war, ist jetzt dürr und dürftig.“

Dass der Roman durchaus vorzügliche Sätze und Passagen enthalte, wird mit einer Metapher veranschaulicht – mit dem Hinweis, „in seinem verdorbenen Teig seien immerhin einige Rosinen enthalten.“ Das auf Anschaulichkeit bedachte Schreiben und Sprechen in Bildern gehört zu Reich-Ranickis stilistischen Eigenheiten. Als 1967 Martin Walsers Stück „Die Zimmerschlacht“ in München von Fritz Kortner inszeniert wurde, verglich er den Text mit einer Leiche und die Inszenierung mit einem Mord. Es habe, so der Kritiker, „in Anwesenheit vieler illustrer Trauergäste ein Leichenbegängnis erster Klasse stattgefunden. Zu klären bleibt, ob hier das Stück […] systematisch ermordet wurde oder ob man nur eine Leiche auf die Bühne gezerrt hat.“ Robert Musils „Mann ohne Eigenschaften“ gleiche „einer Wüste mit schönen Oasen“. Die „Wanderung von einer Oase zur nächsten“ sei „bisweilen qualvoll“.

Anschaulichkeit und Spannung

Die Anschaulichkeit und Spannung, die sich Reich-Ranicki von guter Literatur erhofft, versucht er in seinen literaturkritischen Texten selbst zu bieten. Statt Behauptungen zu präsentieren, stellt er gerne Fragen, die den Leser auf die Antwort gespannt machen. Oft sind seine Sätze oder Absätze so gebaut, dass wichtige Informationen oder Pointen erst am Ende stehen.

Einer Spannungsdramaturgie folgt der ganze Aufbau seiner literaturkritischen Text. Die Rezensionen enthalten in der Regel ein festes Repertoire an Bestandteilen: Informationen über die bisherigen Leistungen, Erfolge oder Misserfolge des Autors verbinden sich mit der Frage, inwieweit das neue Buch daran anknüpft. Hinweise zu den literaturkritischen Reaktionen auf vergangene Werke oder auf das neue Werk geben den Anlass, diese zu überprüfen. Relativ knapp gehaltene Angaben zu Inhalt, Thema, Handlung, formale und stilistische Eigenarten des neuen Buches sind verknüpft mit Ansätzen zu einer Interpretation. Entschiedene Bewertungen des Buches, oft in Form von Hinweisen zur emotionalen Wirkung auf den Rezensenten, verbinden sich mit Begründungen des Werturteils durch Zitate oder mit Hinweisen auf exemplarische Einzelheiten des Textes. Bei entschiedenen Verrissen weist der Rezensent ziemlich regelmäßig auf gelungene Passagen hin, die zeigen, was der Autor hätte leisten können, und demonstrieren, dass auch eine Polemik sich den Qualitäten des Autors nicht gänzlich verschließt und zu Differenzierungen fähig bleibt. Nicht alle Hinweise dieser Art sind so vernichtend wie in der Rezension zu Günter Grass’ „Ein weites Feld“, die mit den Sätzen endet: „Aber daß ich es nicht vergesse. Da gibt es in Ihrem Buch eine Episode, die völlig aus dem Rahmen fällt. Sie schildern ein Treffen mit Uwe Johnson. Sie schildern es wunderbar. Das kann keiner besser als Sie. Aber es sind nur fünf Seiten von 781.“ Freundlicher endet da eine Rezension von 1968 über Hans Erich Nossaks Roman „Der Fall d’Arthez“: „Kurz und gut: Ich bin gegen Erich Nossacks Roman, aber diese Abschnitte werde ich nicht so bald vergessen.“

Ein mögliches Spannungselement von Rezensionen besteht darin, den Leser auf das Werturteil warten zu lassen. Reich-Ranicki benutzt es selten. Zur Rhetorik seiner Rezensionspraxis gehört vielmehr, die Rezension mit einem entschiedenen Urteil zu eröffnen und die Spannung darauf zu lenken, wie das Urteil begründet wird. „Um mit dem Fazit zu beginnen: Ich bin gegen Nossacks neuen Roman, dieser ‚Der Fall d’Arthez’ missfällt mir entschieden.“ Die Rezension zu dem Roman von Grass beginnt so: „Mein lieber Günter Grass, es gehöre ‚zu den schwierigsten und peinlichsten Aufgaben des Métiers’ – meinte Fontane –, ‚oft auch Berühmtheiten, ja, was schlimmer ist, auch solchen, die einem selber als Größen und Berühmtheiten gelten, unwillkommene Sachen sagen zu müssen’. Aber – fuhr er fort – ‚schlecht ist schlecht, und es muß gesagt werden. Hinterher können dann andere mit den Erklärungen und Milderungen kommen’. Das ist, ziemlich genau, meine Situation. Ich halte Sie für einen außerordentlichen Schriftsteller, mehr noch: Ich bewundere Sie – nach wie vor. Doch muß ich sagen, was ich nicht verheimlichen kann: daß ich Ihren Roman ‚Ein weites Feld’ ganz und gar mißraten finde.“

Wie bei einem Roman so entscheiden bei einer Rezension oft die ersten Sätze darüber, ob es dem Text gelingt, die Aufmerksamkeit des Lesers so zu fesseln, dass er bereit ist, die Lektüre fortzusetzen. „Dieses Buch beginnt mit einer Unwahrheit“, so beginnt die Rezension zu Martin Walsers „Liebeserklärungen“. Was Reich-Ranicki 1967 gleich zu Beginn seiner Rezension zum Roman „Hundejahre“ über Grass schrieb, gilt auch für den Autor literaturkritischer Texte: „Natürlich weiß ein so exakt arbeitender Schriftsteller, ein so sorgfältig kalkulierender Artist wie Günter Grass, welch außerordentliche Bedeutung gerade dem Einstieg zukommt – den ersten Zeilen eines Romans oder einer Erzählung.“ Grass versuche, „die Aufmerksamkeit des Lesers sogleich auf den Kern des jeweiligen Werks zu lenken“. Eben dies versucht auch Reich-Ranicki als Autor von Rezensionen, Essays und auch seiner Autobiografie. Reich-Ranicki weist den Anspruch Alfred Kerrs, dass Kritik selbst Literatur sei, zwar zurück. Und mehr noch das Ansinnen, dass der Kritiker im Zweifelsfall beweisen müsse, dass er selbst das von ihm kritisierte Werk hätte besser schreiben können. Man müsse schließlich nicht Koch sein, um zu bemerken, dass die Suppe versalzen sei. Doch sind seine Rezensionen und Essays durchaus Vorführungen von Qualitäten, die er sich auch von Autoren literarischer Texte wünscht: Publikumsnähe, Anschaulichkeit, Prägnanz, Witz, Spannung oder auch kompositorische Geschlossenheit. Und vor allem: Sie sind nie langweilig.

Der Beitrag ist in enger Anlehnung an etliche Passagen meiner Biographie über Reich-Ranicki entstanden, die 2004 in der Reihe "dtv portrait" erschien.