Kulturelles Panorama der Barockzeit

Dieter Kühn erzählt die „Lebensgeschichte“ von „Frau Merian!“

Von Michael GriskoRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michael Grisko

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wer den Autor Dieter Kühn kennt, weiß, dass eine chronologisch erzählte Biografie entlang der lebensüblichen Stationen Geburt, Pubertät, Erwachsenensein und Tod von ihm nicht zu erwarten ist. Das gilt auch für die an außergewöhnlichen Ereignissen nicht gerade arme Lebensgeschichte der Maria Sybilla Merian. Lange bevor der in allen Disziplinen grassierende wissenschaftliche Hype um die Verbindung von Kunst und Wissenschaft einsetzte, interessierte er sich für das Leben der 1647 in Hamburg geborenen und 70 Jahre später in Nürnberg gestorbenen Naturforscherin und Künstlerin. Und das nicht, weil sie die Tochter des Buchhändlers und Kupferstechers Matthäus Merian, dem Pionier auf dem Gebiet der Stadtansichten und Stadtpläne, gewesen ist, sondern weil sie eine bedeutende Künstlerin und Insektenforscherin ihrer Zeit war, ja von vielen als Ikone weiblicher Wissenschaft gehandelt wird.

Seit Kühn als Mainzer Stadtschreiber im Jahr 1993 einen Dokumentarfilm mit dem damals noch nicht so gebräuchlichen Re-Enactment – also der Nachstellung historischer Szenen durch Schauspieler – über die außergewöhnliche Frau des Barocks realisierte, beschäftigte ihn die Naturforscherin. Kühn weiß, dass es neben den publizierten Pflanzen- und Insektenbüchern, ihren Aquarellen und Kupferstichen von Pflanzen und Insekten nur wenig verbürgte Daten zu Merian, ja gerade mal 19 Briefe von ihr gibt.

Aber er macht aus der Not eine Tugend. Kühn bemüht den historischen Konjunktiv, entwickelt aus Parallelläufen Analogien und bleibt dabei in „Sichtverbindung“. Er reflektiert durchgängig den Schreibprozess und in drei Kapitelsequenzen zusätzlich die eigene, sich verändernde Haltung zu Merian, aber auch zu seinem eigenen Leben, indem er Hornissen und Raupen in seinem Lebensumfeld beobachtet. „Ich versuche bei einer Biografie immer eine Form zu entwickeln, die der Person entspricht und der Zeit entspricht“, formuliert Dieter Kühn sein Credo und erklärt so zumindest den Umfang – in Anlehnung an die ersten großen Sammlungen der Kunst- und Universalkammern im Mittelalter – seiner Biografie. Es ist ein außergewöhnliches und abenteuerliches Leben, das er hier erzählt.

„Ich entzog mich deshalb aller menschlichen Gesellschaft und beschäftigte mich mit diesen Untersuchungen.“ So erinnert sich Merian an die Anfänge ihrer Beschäftigungen mit Seidenraupen und setzt hiermit auch einen neuen Akzent – betrachtete die christliche Kirche Insekten doch zu diesem Zeitpunkt als Teufelsgeziefer. Entstanden die ersten Bücher und Naturzeichnungen noch als Vorlagen für Stickmuster höherer Töchter, stellten die zwei Bände „Der Raupen wunderbare Verwandlung und sonderbare Blumennahrung“, erschienen 1679, und 1683 den ersten Höhepunkt ihrer Forschungen und der Verbindung von Wissenschaft und Kunst dar. Auf Heirat und Umzug nach Nürnberg folgten die Trennung vom Ehemann und der Verkauf von Hab und Gut zur Finanzierung einer Reise nach Surinam. Zu dieser Zeit verkehrte sie bereits in den Wissenschaftskreisen ihrer Zeit. Zu ihrer großen Reise brach sie 1699 auf und kehrte 1701 malariageschwächt zurück. Nach einer Ausstellung der exotischen Tier- und Pflanzenpräparate, widmete sie die nächsten Jahre der Publikation ihrer Ergebnisse. „Bei der Herstellung dieses Werkes bin ich nicht gewinnsüchtig gewesen, sondern wollte mich damit begnügen, wenn ich meine Unkosten zurückbekomme. Ich habe keine Kosten bei der Ausführung dieses Werkes gescheut.“

1705 erschienen schließlich die Bücher als Extrakt ihrer Reise. Ein selbstfinanziertes Leben als Wissenschaftlerin war für eine Frau jedoch zu dieser Zeit noch nicht möglich. Fernab des Respekts vor einem einzigartigen Leben und den damit verbundenen Leistungen relativiert Kühn die Innovativität der 1717 in Amsterdam gestorbenen Wissenschaftlerin. Es bleibt jedoch ein beeindruckendes kulturelles Panorama der Barockzeit, das sich hier vor dem Leser entfaltet, auch wenn das Leben – aufgrund der schmalen Quellenbasis – nur der Anlass und nicht der eigentliche Zweck ist.

Titelbild

Dieter Kühn: Frau Merian! Eine Lebensgeschichte.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2002.
646 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-10: 3100415078
ISBN-13: 9783100415073

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