Wetterneurotiker im Liebesgewitter

In ihrem Debütroman „Atmosphärische Störungen“ geht Rivka Galchen den Unwägbarkeiten der modernen, romantischen Liebe nach

Von Carola EbelingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Carola Ebeling

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es ist eine aberwitzige Geschichte, die die kanadisch-amerikanische Autorin Rivka Galchen in ihrem in den USA gefeierten Debütroman erzählt: Leo Liebenstein, New Yorker Psychiater, ist eines Tages davon überzeugt, dass seine Frau Rema durch ein nahezu perfektes Double ersetzt worden ist. Dieses sieht genau so aus wie „seine“ Rema, es agiert auch so – doch er weiß es besser, es sind winzige Abweichungen im Verhalten, die er glaubt genau benennen zu können. Diese verschobene Realitätswahrnehmung ist der Dreh- und Angelpunkt einer obskuren Verschwörungstheorie, in der eine „Königliche Wetter-Akademie“ und ein Meteorologe namens Tzvi Gal-Chen zentrale Rollen spielen – es ist ein Wahn, dem Liebenstein anheim fällt: Zwanghaft sucht er nach Analogien zwischen den Methoden der Wetterkunde und der Deutung zwischenmenschlicher Beziehungen. Als Ich-Erzähler gibt er die Perspektive vor, der die Lesenden folgen – und die geraten in ein Labyrinth von Neurosen, Eifersucht, Fremdheit und Sehnsucht.

Rivka Galchen, Jahrgang 1976, erzählt auf originelle und komische Weise von einem alten Thema – von der Liebe, ihren Bedingungen und Gefährdungen. Der irreale Erzählrahmen erlaubt ihr, bekannte Empfindungen und Verhaltensweisen auf die Spitze zu treiben: Das Gefühl der Fremdheit dem geliebten Menschen gegenüber; die Frage danach, wie genau man den anderen kennt oder kennen kann; welche Rolle Projektionen und eigene Ängste spielen, wenn Liebe entsteht und wenn sie in die Krise gerät.

Dass es ausgerechnet die Wetterkunde ist, die Galchen als Schablone für die Irrungen und Unwägbarkeiten der modernen romantischen Liebe wählt, hat auch einen autobiografischen Hintergrund: Ihr Vater Tzvi Gal-Chen war Professor für Meteorologie. Eine Figur dieses Namens führt die Autorin ein, was dieser autobiografische Einschub allerdings bezwecken soll, erschließt sich nicht so recht. Die „Royal Academy of Meteorology“ ist jedenfalls Fiktion. Ein Patient Liebensteins glaubt, er sei ein Geheimagent in ihrem Dienste und könnte das Wetter beeinflussen. Liebenstein geht auf dieses Spiel zwecks therapeutischer Wirkung ein – und verfällt der Eigendynamik dieses Einfalls. Wetterterroristen steckten hinter dem Austausch seiner Rema, davon ist er tatsächlich irgendwann überzeugt.

Im Stile eines frühen Woody Allen taumelt Liebenstein durch seine Neurosen, und dabei fallen einige kluge und schöne Sätze über die „Sicht der Liebenden“, über die „Fremdlinge aus dem Inneren“ und das Misstrauen den eigenen Gefühlen gegenüber. Auch die Idee der Verknüpfung von Meteorologie und moderner Liebesbeziehung ist tragfähig. Ein Zitat von Gilles Deleuze, das dem Roman vorangestellt ist, gibt die Richtung vor: „Es kann sein, dass Freundschaft sich von Beobachtungen und Gespräch nährt, aber die Liebe wird geboren und nährt sich von stummer Interpretation. Das geliebte Wesen […] drückt eine mögliche, uns unbekannte Welt aus, […] die entziffert werden muss.“ Und wie der Wetterforscher versucht, mit diversen Hilfsmitteln, Parametern, erdachten Gleichungen und Grafiken das Wetter von heute zu „entziffern“ um das von morgen vorherzusehen, so versucht Liebenstein, seine Beziehung zu Rema zu interpretieren. Was er aber für die Meteorologie feststellen muss, gilt eben auch auf dem anderen Gebiet: „Wir können nicht sagen, wie es morgen sein wird, weil wir nicht exakt genug wissen, wie es jetzt gerade ist. Wie sollen wir eine Zukunft prognostizieren, wenn wir das Hier und Jetzt nicht richtig kennen? Ein Anfangswertproblem, verstehen Sie?“

Doch die eigentlich originelle Grundidee wird überspannt, ihr Muster vorhersehbar. Die Geschichte verzettelt sich in zu vielen Erzählsträngen, ohne dass das Metathema der Liebe dadurch gewänne. Der Witz verbraucht sich über die gut dreihundert Seiten. Liebenstein ist letztlich ein liebenswürdiger, eifersüchtiger Sozialphobiker, dem seine viel jüngere Frau Rema „die ganze Welt“ sein soll – und da knirschen dann mitunter die Klischees, auch wenn sie ganz modern und tragik-komisch daher kommen.

Titelbild

Rivka Galchen: Atmosphärische Störungen. Roman.
Übersetzt aus dem kanadischen Englisch von Grete Osterwald.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2010.
314 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783498025120

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