Das Urbild der Verschwörungstheorie

Zu Rolf Klausnitzers Studie über „Poesie und Konspiration. Beziehungssinn und Zeichenökonomie von Verschwörungsszenarien in Publizistik, Literatur und Wissenschaft 1750-1850“

Von Andreas KorpásRSS-Newsfeed neuer Artikel von Andreas Korpás

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Manchmal geschehen Dinge, die erst Jahrzehnte später ihre volle Wirkung entfalten. Ein solches Beispiel bietet das geheimnisvolle Treffen einiger Jansenisten im Jahre 1621 in der kleinen Kartause von Bourg-Fontaine. Nichts anderes als die Abschaffung der katholischen Religion in ihrer bestehenden Form sei ihr vorgebliches Ziel gewesen. Das Treffen selbst wäre wohl vergessen worden oder hätte in den Akten des Vatikans einen immerwährenden Tiefschlaf begonnen, hätte nicht der jesuitische Autor Henri-Michel Sauvage das Ereignis 1754 wieder aufgegriffen, um es zum Zwecke der politischen Diffamierung seiner Gegner einzusetzen.

Was wurde da nicht alles behauptet – Cornelius Jansen, Theologieprofessor und Namensgeber der jansenistischen Strömung, Saint Cyran, Peter Camus, Gabriel Gerberon, Pierre Nicoles und Blaise Pascal hätten während dieses Treffens eine geistige Unterwanderung der bestehenden Verhältnisse verabredet und jedem sei ein Teilgebiet zugewiesen worden. Die Werke dieser Autoren entstammten daher nicht allein wissenschaftlichem Interesse, sondern seien sozusagen Produkte eines geheimen wissenschaftlichen Drehbuches.

Auch wenn sehr schnell die Gefährlichkeit der Sauvage‘schen Konstruktion erkannt wurde und folgerichtig das französische Parlament einen Verbotsprozess anstrengte, in dessen Ergebnis das zweibändige Werk „La réalité du projet de Bourg-Fontaine, démontrée par l’ execution“ in einer öffentlichen Aktion 1758 zerrissen und verbrannt wurde, war doch der Samen für ein neues, stilbildendes publizistisches Motiv gelegt.

Wenn also weit reichende gesellschaftliche oder religiöse Veränderungen von wenigen Personen beschlossen werden konnten und durch verlegerisches Geschick einem großen Publikum vorgelegt, welches nun, ohne die wahren Hintergründe zu kennen und der angedeuteten Richtung folgend, den beabsichtigten Zweck vollzieht, so stand nun fortan bei allen größeren historischen Veränderungen der Verdacht eines von langer Hand geplanten, geheimen Umsturzes im Raum. Der Gedanke der Konspiration, oder, wie man heute sagen würde, das Urbild der Verschwörungstheorie war geboren.

Im achtzehnten, einem an Geheimbünden und Verschwörungsgszenarien besonders reichen Jahrhundert, wurde diese Vorlage dankbar aufgegriffen, denn besonders in der Mitte der zweiten Jahrhunderthälfte hatte das Treiben der Illuminaten – das durch die Verbotsedikte in Bayern jäh beendet wurde – der Rosenkreuzer und der Freimaurer ein solches Klima von Verdächtigung und Misstrauen geschaffen, dass es leicht fiel, in der Sach- und der schönen Literatur alle möglichen wundersamen Erscheinungen vorzutäuschen und auszuschmücken.

Dieses reichhaltige publizistische Wetteifern um vermeintliche Geheimnisse, ihre Träger und ihre angestrebten Verschwörungen hat der Berliner Literaturwissenschaftler Ralf Klausnitzer in einer umfangreichen Arbeit untersucht. Im Mittelpunkt der Habilitationsschrift stehen die Entstehungsgeschichte konspirativer Szenarien zwischen 1750 und 1850. Damit ist ein zeitlicher Rahmen abgesteckt, der für den vorgestellten Untersuchungsgegenstand kaum besser hätte gewählt werden können.

Betrachtet werden Enthüllungsschriften, Auseinandersetzungen in zeitgenössischen Periodika, literarische Reflexionen auf diesen Zeitgeist und schließlich die eher rhetorischen Wirkungen, die sich noch in der Philosophie des 19. Jahrhunderts, insbesondere bei Karl Marx und Friedrich Engels finden. Das Ziel der Arbeit wird in einer „materialgesättigten Rekonstruktion konspirationistischer Szenarien“ gesehen. Als Konspirationsszenarien werden „vermittelte Interaktionsprogramme, die durch übereinstimmende narrative Konzeptualisierung und thematischen Bezug gekennzeichnet sind“, definiert.

Es geht Klausnitzer um eine Zusammenstellung historischer Ereignisse, deren Darstellungen und Fiktionalisierungen. Es ist richtig, Zusammenhänge zu sehen, wo sie bestehen. Allerdings wäre eine genauere Untersuchung der Bezüge zwischen freimaurerischen und antifreimaurerischen Propagandaschriften wie „Enthüllung des Systems der Weltbürger-Republik“ sowie „Aufschluß und Vertheidigung der Enthüllung des Systems der Weltbürger-Republik“ des sächsischen Kammerassessors Ernst von Göchhausen, J. M. Babos „Ueber Freymaurer, besonders in Bayern. Erste Warnung Sammt zwey Beylagen“ (1784) oder M.A.Z. Müllers „Entdeckte Illuminaten-Recepte, von Aqua tofana, und anderen geheimen Mitteln“ (1788) und literarischen Produktionen wie „Wilhelm Meisters Lehrjahren“, Friedrich Schillers „Geistersehern“ oder Achim von Arnims „Kronenwächtern“ lohnenswert gewesen. Richtig ist, dass der freimaurerische Zeitgeist in diesen Werken seinen Widerhall fand. Richtig ist auch, dass der Wunder- und Geisterglaube offenbar ein Signum jener Zeit darstellte, die wir als Spätaufklärung bezeichnen. Es wird ein Widerspruch deutlich in der Tatsache, dass die Aufklärung, offenbar ans Ende ihrer innovativen Kräfte gelangt, in ein Denken verfiel, welches Immanuel Kant als „besondere Art“ beschrieb, „mit Vernunft zu rasen“ („Anthropologie in pragmatischer Hinsicht“). Wir lesen vom publizistischen Feldzug, welche Herausgeber und Autoren der „Berlinischen Monatsschrift“ gegen den Rest der damals so zahlreichen literarisch-philosophischen Welt angezettelt hatten, zum Zwecke der Diffamierung aller vermeintlichen Antiaufklärer, welche die so benannte Gegnerschaft und auch eher unbeteiligte Autoren dazu veranlasste, dem wilden Treiben das Label der „Jesuitenriecherei“ zu verleihen.

Einen großen Popularisierungsschub erhielt das konspirative Denken und Schreiben durch den Verschwörungstheoretiker Augustin Barruel, der die Reise einiger vormaliger Illuminaten nach Paris und ein Treffen mit späteren Jakobinern zu einer fabelhaften konspirativen „Story“ ausbaute: die französische Revolution sei letztendlich nichts anderes als das Produkt verborgener Illuminatentätigkeit, die nach dem Verbot in Bayern ihr Epizentrum nach Frankreich verlegt und dort schließlich doch noch, durch die Unterwanderung der Jakobiner, ihr politisches Ziel erreicht habe. Eine schmale historische Basis wird dabei verkaufsträchtig zu einem sagenhaften „Thriller“ – „Mémoires pour servir à l’histoire du Jacobinisme“ (1797/98) – stilisiert.

Schließlich sei es die Romantik gewesen, die den Gedanken der Verschwörung programmatisch weitergetragen habe, von Friedrich Schlegel als „unsichtbare Kirche“ und in den Erinnerungen Joseph von Eichendorffs als Formierung eines „intellektuellen Geheimbundes“ bezeichnet. Insbesondere die Brüder Grimm seien es gewesen, welche durch die „Bildung von Netzwerken und Zitationskartellen“ „zur Genese verschwörungstheoretischer Vorstellungen“ beigetragen hätten, eine sehr gewagte These, welche dem „networking“ unter Wissenschaftlern konspirative Absichten unterstellt.

Anklänge an Konspirationsszenarien fänden sich später noch in Georg Büchners „Woyzeck“, dessen Protagonist die Freimaurer im Geheimen wühlen sieht, in Karl Gutzkows „Die Ritter vom Geiste“ und in den frühen Schriften Marx‘ und Engels‘, die aufgrund von Verfolgungen und Ausweisungen auch im Verborgenen arbeiten mussten und dadurch mit konspirativen Methoden vertraut gewesen waren. So ist es kein Zufall, dass im „Kommunistischen Manifest“ vom „Gespenst des Kommunismus“ die Rede ist und Marx das „Geheimnisvolle der Warenform“ und ihren „wiederkehrenden Schein“ zu entlarven suchte.

Als späte literarische Erzeugnisse einer reflektierten konspirativen Szenerie werden Friedrich Ludwig Tiecks Novelle „Die Wundersüchtigen“ und E.T.A. Hoffmanns Nachtstück „Der Sandmann“ genannt. In beiden Erzählungen fänden sich noch deutliche Anklänge an die Gedankenwelt der Spätaufklärung. Die Grundlagen konspirationistischer Literatur – von der Programmschrift des modernen Antisemitismus „Die Protokolle der Weisen von Zion“ bis hin zu Dan Browns Thriller „Sakrileg“ oder Umberto Ecos „Das Foucaultsche Pendel“ seien in dieser Zeit gelegt worden. Klausnitzers Habilitationsschrift hat in seiner Materialfülle einiges zu bieten. In theoretischer Hinsicht vermag es allerdings nicht vollständig zu überzeugen, wenngleich einige geistesgeschichtliche Verbindungen sehr interessant nachvollzogen werden. An mehreren Stellen ist der Zusammenhang mit der ausgewiesenen Thematik nicht ganz deutlich, wenn etwa das Leben der Grimms, ihre Bücherankäufe und der Beginn der Germanistik über eine Vielzahl von Seiten präsentiert werden oder wenn der „Blonde Eckbert“ Ludwig Tiecks nach den Regeln der literaturwissenschaftlichen Kunst interpretiert und dem Hoffmann‘schen „Sandmann“ gegenübergestellt wird, ohne dass der Gesamtzusammenhang im Rahmen der Argumentation deutlich würde. Gleichwohl kann die Arbeit als Fundus konspirationistischer Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts dienen, denn das Quellen- und Literaturverzeichnis sowie die Übersicht zur Forschungsliteratur sind umfänglich und decken ein hohes Maß an relevanten Veröffentlichungen ab. Demjenigen, der sich für die Hintergründe moderner Verschwörungstheorien interessiert und dabei ihre weitschichtige Wirkung in andere Bereiche nachvollziehen möchte, sei der Band daher sehr zur Lektüre empfohlen.

Titelbild

Ralf Klausnitzer: Poesie und Konspiration. Beziehungssinn und Zeichenökonomie von Verschwörungsszenarien in Publizistik, Literatur und Wissenschaft 1750-1850.
De Gruyter, Berlin 2007.
673 Seiten, 128,00 EUR.
ISBN-13: 9783110200393

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch