„Alle Nuancen der Wirklichkeit sichtbar machen“

Martin Mosebachs „Nachrichten aus dem alltäglichen Indien“

Von Anton Philipp KnittelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anton Philipp Knittel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Werke Martin Mosebachs, Büchner-Preisträgers des Jahres 2007, literarisch einzuordnen, ist nicht ganz leicht. Was sie gemeinsam haben, ist ihr besonderer Klang, ihr eigentümlich klarer Rhythmus – stilistisch meisterhaft umgesetzt beispielswiese in dem 2005 erschienenen Roman „Das Beben“. Spielt dieser Text in großen Teilen in Indien, so knüpft Mosebach mit seinem Erfahrungsbericht einer Reise nach Bikaner, mit seinen „Nachrichten aus dem alltäglichen Indien“, wie der Untertitel zur „Stadt der wilden Hunde“ lautet, daran an. Obwohl „Das Beben“ vor der Mosebach`schen Reise nach Bikaner, eine Provinzhauptstadt im nordwestlich an der Grenze zu Afghanistan gelegenen Bundesstaat Rajastan, erschienen ist, liest sich „Stadt der wilden Hunde“ im besten Sinne des Wortes fast als ein „Abfall“-Produkt des Romans.

Im letzten Kapitel, überschrieben mit „Ein mißglücktes Interview“, erzählt Mosebach, in Bikaner „Gast eines Ehepaars aus der akademischen Bourgeoisie“, knapp den Hergang eines gescheiterten Radiointerviews, das ihm jedoch keine Ruhe lässt und das er im Nachhinein für sich selbst zum Erfolg bringen möchte. So räsoniert Mosebach über das im Straßen- und Stadtbild allgegenwärtige Schmutz- und Abfallproblem in Indien: „Was ich der Fragerin lieber nicht bekennen würde, wäre mein Verdacht, daß es in Indien auch ein gleichsam philosophisches Verhältnis zum Dreck gebe. Ich stelle mir vor, daß es einen indischen Blick auf die Wirklichkeit gibt, der sich nicht immerfort fragt, was daran zu verändern sei, sondern der sie als eine Schrift liest, die eine Botschaft vermittelt.“

Und mit Blick auf die Unterscheidung zwischen indischem und europäischen Denken resümiert Mosebach in diesem letzten Kapitel: „Ihr Denken bestand in einem Benennen und wollte alle Nuancen der Wirklichkeit sichtbar machen, es wollte nicht vereinheitlichen, sondern es wollte zu einer möglichst lückenlosen Vergegenständlichung jeder Seinsregelung gelangen.“

Um „Nuancen der Wirklichkeit“ geht es auch dem Indien-Reisenden Mosebach. Ganz egal, ob „Mister Martin“, wie der Gast einer wohlsituierten Familie genannt wird, in den 22 kurzen Kapiteln seine Eindrücke über „Das Fasten für die Ehemänner“, über „Die Apotheose eines Schauspielers“, über den „Rattentempel von Deshnok“, über „Die Kasten“ oder über „Ein mißglücktes Interview“ wiedergibt, stets bleibt für den Leser ein überraschender Erkenntnisgewinn, zumindest ein Gedankenblitz. Beispielsweise in der „Apotheose eines Schauspielers“, in der Mosebach die Zeremonie zu Ehren des berühmten indischen Filmschauspielers Amindab Bachan erzählt. Im lokalen Bachan-Fanclub von Bikaner muss der deutsche Schriftsteller nicht nur eine Rede halten und mit seiner Gastgeberin Kitty „wie ein amerikanisches Hochzeitspaar“ die „Ehrentorte“ anschneiden, sondern zudem das Konterfei des Schauspielers auf einem Plakat auch mit Kuchenstückchen füttern, bis dieser „um den Mund herum aussah wie ein unwilliger Säugling, der beim Füttern alles, was ihm in das Mäulchen geschoben worden ist, wieder herauslaufen läßt.“

Bei dieser Beschreibung – für europäische Augen – fremden Zeremonie belässt es Mosebach jedoch, sondern reflektiert: „Göttlich ist, wem göttliche Ehren zuteil werden. Vielleicht lag darin eine eigentliche, eine geheime Furcht der frühen Christen begründet, dem römischen Kaiser zu opfern: Sakrilegisch war vielleicht nicht nur, Ehren zu erweisen, wem diese Ehre nicht gebührte. Womöglich erzeugte die Verehrung, was sie verehrte.“

Immer wieder ist es die „religiöse Verehrung“, der Kult, den Mosebach in den Blick nimmt und auch damit die Verbindung zum Roman „Das Beben“ herstellt. Ist es im „Beben“ das unvermittelte Erscheinen einer schwarzen Kuh, die das Thema des „Heiligen“ aufspannt, so sind es in der „Stadt der wilden Hunde“ beispielsweise die Ratten, die die verblüffenden Einsichten zwischen Scham, Ekel und dem Heiligen und seinem Antipoden auslösen. Die Ratten leben im Tempel von Deshnok mit seiner „polierten Marmorpracht wie kaiserliche Konkubinen in der Verbotenen Stadt“. Mit Widerwillen begibt sich der Erzähler mit nackten Füßen unter die zahllosen Ratten im Tempel. „Auf den Ekelschock und die Überwindung des Ekels“, so resümiert der Erzähler am Ende des Kapitels, „folgte in mir eine Befreiung: endlich einmal hatte ich ein Heiligtum mit jenem Schauder und jener Beklommenheit betreten, die einem solchen Besuch angemessen seien, sagte ich mir im dunklen Auto auf der Rückfahrt in die Stadt.“ Weiter über sein Erlebnis im Rattentempel von Deshnok reflektierend, erinnert sich der Erzähler daran, dass er einmal vor vielen Jahren „nachts bei einer Trinkerin im Delirium gesessen“ hatte: „Endlich wußte ich, was die junge Trinkerin damals gesehen hatte: eine Welt, die zur Kulisse wurde und durch deren Brüchigkeit hervortrat, was immer schon, von Anfang an, hinter ihr verborgen lag.“

Es sind Passagen wie diese, die Mosebachs „Nachrichten aus dem alltäglichen Indien“ zu einem besonderen Buch machen, einem Buch, das hilft, das Fremde zu verstehen, indem zugleich das Verstehen verfremdet wird.

Titelbild

Martin Mosebach: Stadt der wilden Hunde. Nachrichten aus dem alltäglichen Indien.
Carl Hanser Verlag, München 2008.
171 Seiten, 16,90 EUR.
ISBN-13: 9783446230262

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