Das Deutsche als europäische Sprache

Stephan Braese präsentiert Lektüren zur deutschen Sprachkultur von Juden 1760-1930

Von Hans-Joachim HahnRSS-Newsfeed neuer Artikel von Hans-Joachim Hahn

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ende 1926 schreibt der Philosoph Julius Goldstein (1873-1929) in der von ihm begründeten jüdischen Kulturzeitschrift „Der Morgen“: „Wir sprechen und schreiben die Sprache des deutschen Volkes, nicht als eine nachträglich erlernte, sondern als unsere Muttersprache. Das deutsche Wiegenlied sang uns in den Schlaf, das deutsche Dichterwort verklärte die Träume unserer Jugend und die Enttäuschungen unseres Mannesalters; das deutsche Schrifttum kündet auch unsere Namen“.

Über die Beanspruchung des Deutschen als einer „völkischen“ Sprache, die nur von Mitgliedern einer „rassisch“ begründeten „deutschen Volksgemeinschaft“ gesprochen werden dürfe, gab es seit dem 19. Jahrhundert von impliziten und expliziten Antisemiten angezettelte Debatten. Goldstein selbst nahm ein Pamphlet des protestantischen Nationalisten und späteren Nationalsozialisten Wilhelm Stapel (1882-1954) von 1922 zum Anlass für seine Artikelserie gegen den völkischen Antisemitismus, worin er die obige Emphase für die deutsche Muttersprache formuliert. In seiner Zurückweisung einer ethnonationalistischen Sprachauffassung artikuliert sich ein transnationales und staatsbürgerliches Verständnis von Sprache und Zugehörigkeit, das auf eine Sprachpraxis verweist, die die Heterogenität von Sprachgebrauch zur Voraussetzung hat.

Wie sich am Beispiel der zitierten Passage Goldsteins andeuten lässt, besitzt die Frage nach der deutschen Sprachkultur von Juden eine besondere Brisanz und Bedeutung, die aus dem Feld germanistischer Literaturwissenschaft herausführt und dessen Grenzen produktiv verunsichert. In seiner Beschreibung der Sprachpraxis deutscher Juden vor allem während des 19. Jahrhunderts und im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts beschränkt sich der Literaturwissenschaftler Stephan Braese, seit 2009 Professor für Europäisch-jüdische Literatur- und Kulturgeschichte an der RWTH Aachen, dabei auf acht Autoren, deren Texten er dichte Lektüren widmet. In seiner knapp zwanzigseitigen Einleitung umreißt er seinen Untersuchungsgegenstand: Angelehnt an den Sprachkulturbegriff von Angelika Linke begreift er Sprachkultur als soziale und kulturelle Praxis, die von vielerlei historischen Bedingungen sowie den historischen Erfahrungen ihrer Sprecher und Sprecherinnen geprägt sei und einen bestimmten Modus des Umgangs mit dieser Sprache ausmache. Als solche Praxis wirke sie wiederum auf vielfältige Weise auf ihre Sprecher und Sprecherinnen zurück. Das Ganze bilde dann „eine historisch-kulturelle Metastruktur in Hinsicht auf Sprache“. Diese sperrige Formulierung löst bei Braese den Begriff der Identität ab, den Linke noch benutzt, dessen „Konstrukt- und Ideologiecharakter“ jedoch seiner Ansicht nach häufig unbegriffen mitgeschleppt werde.

Richtungsweisend an Linkes Ansatz und seiner Implementierung in Braeses Studie ist zweifellos, dass er es erlaubt, innerhalb einer Sprache eine Reihe unterschiedlicher Sprachkulturen auszumachen. Die monolithische, aus dem 19. Jahrhundert stammende Vorstellung von einer Kongruenz von Sprache, Nation und Territorium, die auch die Germanistik lange geprägt hat, lässt eine solche Perspektive hinter sich. Der Untertitel „Deutsche Sprachkultur von Juden 1760-1930“ benennt also Medium und Akteure, von denen die letzteren nach Linke eine „Sprachhandlungsgemeinschaft“ bilden.

Braese führt vier, für deutsche Sprachkultur von Juden konstitutive Momente an, die innerhalb seines zeitlichen Rahmens Gültigkeit beanspruchen: den „Sprachwechsel“ vom West- oder Ostjiddischen hin zum Standarddeutschen, die „Mehrsprachigkeit“ als kulturelle Tradition, eine „religiöse Dignifizierung und Sakralisierung“ der deutschen Sprache sowie schließlich eine mit der traditionellen Transterritorialität und Transnationalität der europäischen Judenheiten einhergehende Widerständigkeit gegen eine im 19. Jahrhundert sich ausbreitende „Ethnifizierung“ des Sprachgebrauchs. In den acht Kapiteln des Buches, die jeweils einem als exemplarisch angesehenen jüdischen Autor und in zwei Fällen einem Wissenschaftler gewidmet sind, spielen die vier Momente eine unterschiedlich gewichtige Rolle. Fast durchgängig geht Braese dem Verhältnis seiner ausschließlich männlichen Autoren zum Jiddischen nach, das von Moses Mendelssohn, der sich dezidiert gegen eine Vermischung der beiden Sprachen wandte, als „Jargon“ abgewertet wurde. Die damit entstandene Ambivalenz spielt eine wohl kaum zu unterschätzende Rolle für die Entstehung und Entwicklung einer deutschen Sprachkultur von Juden. Vor allem bei Heinrich Heine und Sigmund Freud finden sich positive Bezugnahmen auf das Jiddische, was Braese überzeugend herausarbeitet. Bei Victor Klemperer allerdings, dem das letzte Kapitel gewidmet ist, muss mit Blick vor allem auf dessen Tagebücher und entgegen der Einschätzung Braeses, der eine einzige im LTI, Klemperers Analyse der nationalsozialistischen Sprache, anzutreffende Würdigung des „Jargons“ anführt, wohl eher von einem „Affekt gegen den ‚Jargon‘“ gesprochen werden.

Seine Lektüren zur deutschen Sprachkultur von Juden begrenzt Braese durch die historische Zäsur des Holocaust. Der Holocaust habe „jener deutschen Sprachkultur von Juden, die in den Kapiteln dieses Buches vorgestellt wurde, ihr Ende bereitet“. Warum der Autor der Studie über „Die andere Erinnerung“ (2001) die Erinnerungsbücher in deutscher Sprache von Autoren wie Moses Rosenkranz, Soma Morgenstern, Manes Sperber, Edgar Hilsenrath oder Ruth Klüger, um nur einige zu nennen, jedoch noch nicht einmal erwähnt, mag erstaunen. Wenn die etwas tautologisch formulierte These stimmt, dass die Juden in Mittel- und Ostmitteleuropa eine Sprachkultur geschaffen hätten, „die das Potential des Deutschen zu einer europäischen Sprache […] zur Entwicklung und Entfaltung einer Sprache nutzte, die […] ihre Europäizität zu erkennen gab“, dann drängt sich die Frage nach der Aktualität eines solchen Sprachgebrauchs geradezu auf. Immerhin kann mit dem Verweis auf die vier Kriterien für die von ihm konstruierte Sprachkultur, die oben genannt sind, begründet werden, warum gegenwärtige deutschsprachige Texte von jüdischen Autorinnen und Autoren wie etwa von Esther Dischereit, Barbara Honigmann, Maxim Biller, Doron Rabinovici oder Vladimir Vertlib nicht in den Blick genommen werden. Dennoch bleiben die nichtthematisierten (Selbst-)Beschränkungen bei einem so einleuchtend bedeutsamen und fruchtbaren Gegenstand auffällig. Auch wenn eingeräumt werden muss, dass etwa eine Diskussion von Franz Rosenzweigs theologisch-philosophischem „Sprachdenken“, Fritz Mauthners Sprachphilosophie oder Ernst Cassirers Kulturanthropologie den Rahmen der Studie sicher gesprengt hätte, bleibt zu fragen, warum Braese diese Vielfalt deutscher Sprachkultur von Juden nicht wenigstens benennt. Dabei sind es gerade Texte wie zum Beispiel Ludwik Flecks „Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache“, eine Studie, die 1935 in Basel erschien, die das Deutsche als eine lingua franca der Wissenschaft zeigen, der sich auch ein polnischer Jude aus Lemberg damals selbstverständlich bediente. Schließlich entspricht die bis in die 1930er-Jahre hinein reiche jüdische Zeitschriftenkultur in deutscher Sprache als Untersuchungsfeld wohl in besonderer Weise einer Vorstellung von Sprachkultur als Sprachpraxis.

Mit seinem Lektüreverfahren bleibt Braese nah an den Texten seiner Autoren, wodurch ihm vielfach sehr präzise Textanalysen gelingen und das Deutungsmuster der Sprachkultur immer wieder exemplarische Plastizität gewinnt. Das gilt etwa für das ausgezeichnete Freud-Kapitel. Dem steht jedoch bedauerlicherweise die Reduzierung seines Gegenstands auf eine eingeschränkte Textbasis von fast ausschließlich kanonisierter Literatur zur Seite, die in anderen Kontexten bereits vielfach diskutiert wurde. Wenn außerdem Heines „Kritik und Sprachkritik“ im Zusammenhang mit dem Culturverein und damit vor allem in Abgrenzung zu Eduard Gans und Leopold Zunz rekonstruiert wird, so vermisst man besonders eine Darstellung der immensen Bedeutung von Zunz als dem überragenden Begründer der Wissenschaft des Judentums. Insbesondere, weil in Anlehnung an Klaus Briegleb bei Heine gerade die „biblische Schreibweise“ und der Versuch einer „Sakralisierung“ des Deutschen herausgestellt wird, erscheint die völlige Nichtbeachtung der Wissenschaft des Judentums, deren Veröffentlichungen bis zum Nationalsozialismus im wesentlichen auf Deutsch publiziert wurden, als bedauerlich.

Dennoch liegt mit Braeses Studie ein klar konzipiertes und gut lesbares Buch vor, das einen ersten Einblick in den Gegenstand deutscher Sprachkultur von Juden vermittelt und auf weitere Studien zu transnationalen Sprachkulturen hoffen lässt.

Titelbild

Stephan Braese: Eine europäische Sprache. Deutsche Sprachkultur von Juden 1760-1930.
Wallstein Verlag, Göttingen 2010.
346 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-13: 9783835306295

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