Vom Glanz und Elend der Mathematik

Hans Magnus Enzensbergers „Fortuna und Kalkül. Zwei mathematische Belustigungen“

Von Alexander WeilRSS-Newsfeed neuer Artikel von Alexander Weil

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zu Beginn von „Fortuna und Kalkül“ (edition unseld, 2009) heißt es: „Mit dem beliebten IQ messen ihre Urheber lediglich das, was sie selbst unter Intelligenz verstehen. Je näher jemand ihrem Selbstporträt kommt, desto günstiger schneidet er ab. Auf diese Weise können die Forscher zwar mit einer schönen [Gaußschen-] Glockenkurve aufwarten, sie scheitern aber regelmäßig, wenn sie es mit den kognitiven Fähigkeiten von Leuten zu tun haben, die ihren Biedersinn nicht teilen.“

Derartiger Biedersinn lässt sich nicht nur bei Psychologen und Statistikern finden, sondern auf jedem Gebiet gesellschaftlichen Lebens; auch bei Literaturkritikern. Die Tatsache, dass Mathematiker sich untereinander in einer universellen, abstrakten Sprache verständigen, schützt sie genausowenig vor Biedersinn, wie Literaturkritiker mit ihrem Spezialwissen dagegen immun sind.

Hans Magnus Enzensberger berichtet in seinem schmalen Band aus der Welt der Mathematik, doch tut er es – wie sollte es auch anders sein – als Literat, und weil sowohl Mathematiker als auch Schriftsteller das Allgemeine im Besonderen zu entdecken und zu formulieren versuchen, sind sie sich von Haus aus gar nicht so fremd, ja, man kann sogar von einer verwandschaftlichen Beziehung sprechen, denn Mathematik hat wenig mit rechnen, aber viel mit Logik und Intuition zu tun. Der griechische Ausdruck „logos“ konnte sowohl Wort, Rede, Sprache bedeuten, als auch Rechnen, Proportion, oder einen vernünftigen Argumentationsgang.

In einer berühmt gewordenen Rede hatte der Mathematiker David Hilbert (1862-1943) gesagt: „Für uns gibt es kein Ignorabimus… Wir müssen wissen! Wir werden wissen!“, worauf der Dichter Enzensberger hinzufügt: „Ja, aber nicht ganz.“

„Fortuna und Kalkül“ handelt von der zerschlagenen Hoffnung, in der Mathematik so etwas wie unbedingte Gewissheit zu finden, aber auch vom Glanz dieser Kunst, die es beispielsweise erlaubt, den mathematischen Beweis für die Richtigkeit des Enzensberger’schen „Ja, aber nicht ganz.“ zu liefern; den hatte 1931 Kurt Gödel erbracht, als er die Existenz von formal unentscheidbaren Sätzen nachwies.

Weil aber außer Mathematikern kaum jemand Gödels Beweisführung verstehen dürfte und umgekehrt Fachidiotie, oder déformation professionelle weder Mathematiker noch beispielsweise Literaturkritiker verschont, hat es sich Hans Magnus Enzensberger in diesem Buch zur Aufgabe gemacht, den geneigten Leser ganz allgemein mit der Nase auf die empirische Evidenz des Gedankens zu stoßen, dass eins und eins zwar zwei ist, ganze Zahlen aber womöglich genausowenig von Gott herrühren, wie, sagen wir, die Zeichen des Wortes literaturkritik.de.

Der Untertitel des Buches „Zwei mathematische Belustigungen“ wirkt auf den ersten Blick befremdlich, als würde der Autor, wenn er „Mathematik“ hört, „lustig“ denken. Im Anhang gibt er dann den Hinweis auf eine Monatsschrift „Belustigungen des Verstandes und des Witzes“ aus den Jahren 1741-1745, auf die der Titel zurückgeht und klärt den Leser darüber auf, dass „Witz“ im Mittelalter soviel wie Denkvermögen oder Scharfsinn und im achtzehnten Jahrhundert esprit bedeuteten. Ungeachtet der Etymologie des Wortes ist interessant, dass Witze auf simple Weise komplexe Fragestellungen zur Sprache bringen können. Der Schriftsteller David Foster Wallace etwa hatte eine Reifenpanne und rief seinen Vater an: „Wie bekomme ich den Reifen vom Rad?“ „Als erstes drehst du die Radmuttern entgegen dem Uhrzeigersinn.“ „Ich habe aber keine Uhr an.“

Diese Art Gewitztheit, die Mathematikern, aber nicht nur ihnen, den Angstschweiß auf die Stirn treiben kann, wenn sie sich plötzlich aus ihrem gewohnten Raum-Zeit-Kontinuum geschleudert sehen, ist Enzensberger nicht fremd, man kann sogar sagen, es macht den besonderen Reiz dieses Buches aus, dass der Autor dem Witzbold in sich Mathematik zum Futter gibt.

„Fortuna und Kalkül“ besteht aus zwei Teilen, die in kürzeren Fassungen beim Festival della Matematica in Rom und auf Einladung des Max-Planck-Instituts für Mathematik in Bonn vorgetragen wurden. Der erste, titelgebende Teil, „Fortuna und Kalkül“, befasst sich mit Zufall und Wahrscheinlichkeit, im zweiten, „Von den metaphysischen Mucken der Mathematik“, geht es um die Obsession von Mathematikern in jenen Bereich jenseits unserer empirischen Welt vorzustoßen, wo sich Ratio und Intuition Gute Nacht sagen; wobei „Mucken“ soviel wie „Macken“ bedeutet, aber auch das substantivierte Verb von „mucken“ = „aufbegehren“, oder „bocken“ in sich trägt.

Was den ersten Teil „Fortuna und Kalkül“ betrifft, wartet Enzensberger mit einer ganzen Reihe schöner Beispiele auf, die dem Leser vor Augen und zu Gemüte führen, woher mathematischer Barthel bisweilen den Most holt: aus den Tiefen menschlicher Vernunft; wohin er ihn trägt: in die Fiktion einer wahrscheinlichen Realität; und was er dort damit macht: Profit.

Um nur ein Beispiel zu nennen. Das Bernoulli’sche Gesetz der großen Zahl und seine Anwendung in der Versicherungsmathematik: Je größer die Zahl der versicherten Personen, Güter und Sachwerte, die von der gleichen Gefahr bedroht sind, desto geringer der Einfluss des Zufalls.

„In der Versicherungsmathematik“, so Enzensberger, „kommt also ebensowenig wie ,in der stochastischen oder spieltheoretischen Diskussion des Zufälligen‘ um mit Odo Marquard zu sprechen, ,die Perspektive dessen vor, dem da durch Schöpfung und andere Zufälle mitgespielt wird‘“.

Trifft das Bernoull’ische Gesetz der großen Zahl aber auch auf andere Bereiche menschlichen Lebens zu? Falls es sich um ein universelles Gesetzt handelte, müsste es so sein. Darf man etwa sagen: Je größer die Anzahl von Literaturbesprechungen in einem Internetportal, desto bedeutungsloser die Perspektive des einzelnen Rezensenten? Nehmen die produktiven Möglichkeiten einer Literaturkritik denn nicht gerade deswegen zu, weil sie dem relativ geschlossenen Kreis der im Feuilleton etablierten Namen, Stimmen und Perspektiven andersartige, unvertraute hinzufügen?

Im Prinzip schon, käme hier nicht eine ganz besondere Mucke zum tragen: Modelle, gleich welcher Art, mathematische oder literaturwissenschaftliche, „gängeln in hohem Maße“, wie der Mathematiker Yuri Manin sagt, „als eine Art Kollektiv-Unbewußtes das Verhalten der Akteure“. So ist das mit der Mathematik. Sie ist immer und überall.

Aber „Wie kann es sein“, zitiert Enzensberger im zweiten Teil des Buches Albert Einstein, „daß die Mathematik, die schließlich ein von der Existenz unabhängiges Produkt des menschlichen Denkens ist, so bewundernswert an die wirklichen Dinge angepaßt ist?“ Oder anders gefragt: Woher rührt die enge Beziehung zwischen empirischer und mathematischer Welt? Warum passt das alles so gut zusammen?

Hier zieht Enzensberger die Kognitions- und Neurowissenschaftler zu Rate und paraphrasiert ihre Argumentation folgendermaßen: „Da das menschliche Gehirn als Produkt der Evolution dem Universum, das es hervorgebracht hat, in einem weitgefaßten –nicht exakt mathematischen Sinn- homolog ist, werden seine Erfindungen/Entdeckungen strukturell diesem Universum ähnlich sein, auch wenn sie wegen seiner begrenzten Leistungsfähigkeit, prinzipiell unvollständig bleiben. Für die Wissenschaft ist das erfreulich; denn da die Welt unbestreitbar reichhaltiger ist als unser Gehirn, steht ihr, solange die Spezies existiert, eine unerschöpfliche Aufgabe bevor.“

„Unbestreitbar reichhaltiger“? Ja, so steht es da: schwarz auf weiß. Nur hat es sich weder überall herumgesprochen, noch kommt deswegen bei allen Wissenschaftlern Freude auf.

Titelbild

Hans Magnus Enzensberger: Fortuna und Kalkül. Zwei mathematische Belustigungen.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2009.
71 Seiten, 10,00 EUR.
ISBN-13: 9783518260227

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