Was ist Erinnerung?

Grégoire Bouillier schreibt über sich

Von Kathrin SchlimmeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kathrin Schlimme

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Es gibt ein Foto, auf dem mein Vater, mein Bruder und ich zu sehen sind, wie wir einen Waldweg entlanggehen. […] Ich kann mich überhaupt nicht an diesen Spaziergang erinnern. Trotzdem ist das die schönste Kindheitserinnerung, die ich mir zurechtgelegt habe.“ Erinnerungen sind das große Thema in Grégoire Bouilliers jetzt auf deutsch erhältlichem Debüt „Bericht über mich“ (für das er 2002 mit dem Pariser Prix de Flore ausgezeichnet wurde); Erinnerungen und das, was daraus wird. Bouillier erzählt in loser Aneinanderreihung einzelne Begebenheiten, Episoden, Anekdoten aus seinem Leben. Es ist kein chronologisches Erzählen, es entsteht kein vermeintlich vollständiges Bild dieses Lebens, sondern es bleiben Bruchstücke, wie es dem Wesen der Erinnerung entspricht.

Anders, als der Titel vermuten lässt, handelt es sich aber nicht um eine Autobiografie im eigentlichen Sinn, sondern um Autofiktion. Die Erwartungshaltung des Lesers, in einer Biografie Wahrheiten zu lesen, die auch in der nicht fiktiven Welt wahr sind, wird also enttäuscht, weil Erfundenes in den „Bericht“ mit einfließt. Aber spielt das eine Rolle? Was ist Erinnerung? Ist Erinnerung nicht selbst ein bisschen Fiktion und eben nicht unumstößliche Wahrheit? Legt man sich Erinnerungen nicht zurecht? Erinnerung ist „die Fähigkeit, Vergangenes in der Vorstellung wieder zu beleben“, liest man im Lexikon – und in dem Wort „beleben“ steckt durchaus ein kreativer, aktiver Akt, der geradezu dafür prädestiniert scheint, eine literarische Welt zu kreiern. Bouillier spielt mit der Erwartungshaltung des Lesers, und das auf eine sehr angenehme, unbeschwerte Weise. Man weiß als Leser nicht, was wahr ist und was nicht. Aber das ist auch nicht wichtig, denn die Geschichte ist gut, so wie sie ist.

„Ich hatte eine glückliche Kindheit“ ist der erste Satz von „Bericht über mich“ und das erstaunliche Resümee einer durchaus ereignisreichen Kindheit mit einer Reihe ungewöhnlicher, bis ins Komische tragischer Begebenheiten und einer großen Portion Hysterie vonseiten der Mutter. „,Kinder, glaubt ihr, dass ich euch liebe?‘ [Die Stimme meiner Mutter] ist eindringlich, ihre Nasenflügel phantastisch. […] Ich bin mir der Gelegenheit bewusst und fürchte zugleich die Folgen. Schließlich murmele ich: ,Vielleicht liebst du uns ein bisschen zu sehr.‘ Entsetzt starrt mich meine Mutter an. Sie verharrt einen Moment fassungslos, geht zum Fenster, reißt es auf und will sich aus dem fünften Stock stürzen.“

So berichtet Bouillier, das tut er durchweg in einem nüchternen, sachlichen Erzählstil ohne jegliche Gefühlsduselei – und ist gerade deshalb so brilliant, weil sein Erzählen die Ereignisse auf das Wesentliche reduziert. Die Tatsachen sprechen schließlich auch für sich. Nicht nur um das Berichten geht es hier aber; in Bouilliers Stil steckt ein nahezu kindlicher, unverfälschter Blick auf das Leben, der mit Humor und Leichtigkeit noch in aller Schwere einhergeht. Aus seiner Sicht auf die Welt spricht eine grundsätzliche Akzeptanz jener (zuweilen noch so widrigen) Gegebenheiten, die nicht zu ändern sind – ein Annehmen der eigenen Geschichte, die einen ein ganzes Stück weit zu dem gemacht hat, der man geworden ist. Diese Ruhe unterscheidet Bouillier etwa von seiner Mutter oder auch dem Bruder, die verzweifelt gegen das Leben ankämpfen. Nach seiner ersten Erfahrung im Bett stellt der Erzähler fest: „An diesem Tag verstand ich, dass das Leben da begann, wo die Bilder aufhörten. Da, wo ich improvisieren musste und auf mich selbst gestellt war, ohne dass irgendwelche Erinnerungen meine Handlungen beeinflussten und ihnen ein Verhalten aufzwangen.“

Was lässt sich mitnehmen aus der Lektüre dieses Buchs? Eine tröstende Gewissheit, die Dinge letztlich selbst in der Hand zu haben, das eigene Leben ein Stück weit unabhängig von der eigenen Vergangenheit gestalten zu können. Aber auch: Nachdenklichkeit, denn natürlich wirkt die eigene Vergangenheit andererseits enorm prägend. Vor allem aber macht das Lesen dieser Geschichte Spaß.

Titelbild

Grégoire Bouillier: Ich über mich.
Übersetzt aus dem Französischen von Oliver Ilan Schulz.
Nagel & Kimche Verlag, Zürich 2010.
160 Seiten, 15,90 EUR.
ISBN-13: 9783312004508

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