Urban, progressiv und antielitär

Maren Lickhardt interpretiert Irmgard Keuns Romane der Weimarer Republik als moderne Diskursromane

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es ist immer eine Freude, wenn man ein Buch positiv besprechen kann. Maren Lickhardts Untersuchung der zur Zeit der Weimarer Republik entstanden Romane Irmgard Keuns gewährt einem diesen Genuss.

Wie bereits der spröde Titel ihrer Arbeit verrät, liest die Autorin die zur Debatte stehenden Werke als „moderne Diskursromane“. Dabei lässt sie von Beginn an wenig Zweifel darüber aufkommen, wie sehr sie das Werk der zurecht bis heute immer wieder neuaufgelegten Schriftstellerin schätzt, die das zeitgenössische „literarische Repertoire“ und dessen „literaturtheoretische Beschreibungsschemata“ in ihren Weimarer Romanen „derart weit hinter sich“ gelassen habe, dass sie selbst heute noch nur mit „vagen Paraphrasen“ beschrieben werden können.

Lickhardts Untersuchung geht von der Annahme aus, dass in „Gilgi – eine von uns“ und „Das kunstseidene Mädchen“, den beiden Weimarer Romanen Keuns, „Bezugnahmen auf die zeitgenössische Wirklichkeit und stilistisch komplexe Verfahren (selbstverständlich) in einer untrennbaren Einheit miteinander verschränkt sind“, wobei die „konkrete Zeitbezogenheit“ und die „poetische Qualität“ der Werke einander bedingen. So könnten beide Romane sowohl als „Zeitdokumente“ wie auch als „autonome Kunstwerke“ gelten und gelesen werden. Dieser „Doppelcharakter“ gründe allerdings nicht so sehr im Spannungsfeld von „Faktenbezogenheit und Ästhetik“ als vielmehr in der „wechselseitigen Implikation von Fremdreferenz und Selbstreferentialität“.

Lickhardts Erkenntnissinteresse ist es nun, die „literarischen Strategien“ offenzulegen, mit denen es Keun gelingt, diese „romaneske[n] Vexierbilder“ zu schaffen. Auf dem Weg zu diesem Ziel „konturiert“ die Autorin „die Kategorie Diskursroman als Schnittstelle zwischen Zeitroman, Collagetexten sowie reflexivem und metafiktionalem Roman“. Hierzu rekurriert sie auf Ulf Eiseles Begriff des Diskursromans und dessen „Akzentuierung“ durch Wolfgang Rohe. Dies allerdings nicht, ohne ihrerseits wiederum neue, eigene Akzente zu setzen. Lickhardt zufolge „funktioniert der Diskursroman selbst bereits bewusst transzendental-diskursanalytisch“. Daher seien „die entsprechenden reflexiven literar-ästhetischen Verfahren zu untersuchen“, und nicht nur die mit ihnen einhergehenden „Fremdreferenzen“.

Obgleich die „ästhetische Energie“ in Keuns Romanen „untrennbar“ mit deren „social energy“ verbunden sei, richtet die Autorin ihr Augenmerk doch primär auf erstere, da die Inaugenscheinnahme der Kontexte sinnvoller Weise erst nach einem vorangegangenen close reading der Texte selbst erfolgen könne.

Wie Lickhardt in der ersten der beiden Einzelanalysen nachdrücklich zeigt, entwirft Keun in der titelstiftenden Protagonistin Gilgi eine „scheinbar individuelle Romanfigur“, die sie sprachlich in die „Determinanten ihres künstlerischen Zustandekommen“ auflöst. Der „Name Gilgi“ sei ein „romanimmanenter Platzhalter“ beziehungsweise eine „zur Schau gestellte, kreativ zu nutzende Leerstelle für fremdmedial vorvermittelte gesellschaftliche Versatzstücke, die als eigene Schreibbedingungen für den Roman auftreten“. Diese „höchst artifizielle, avantgardistische Konstruktion“ sei keinesfalls als neusachlich zu klassifizieren, konstatiert die Autorin zurecht, ohne allerdings in Abrede zu stellen, dass sich Keun spielerisch neusachlicher „Versatzstücke“ bedient. Doch nicht nur die Hauptfigur sei bislang fehlinterpretiert worden, die Nebenfiguren seien zudem „weitaus komplexer gestaltet“, als das von der Forschung bislang erkannt worden sei, personifizierten sie doch nicht nur „politische, gesellschaftliche und kulturelle Diskurse“ sondern auch „künstlerische und literarische Muster“. Da sie „ostentativ“ je verschiedenen Medien beziehungsweise literarischen Texten und Gattungen zugehörig seien, bildeten sie ein beachtliches Maß an „Interfigurality“, wie Lickhardt, ein Wort von Wolfgang Müller aufgreifend, sagt. Mittels dieser Figuren und ihren Konstellationen verweise der Roman zudem metafiktional auf sein eigenes Zustandekommen.

Nicht immer ganz so überzeugend wie die Interpretation von Keuns erstem Weimarer Roman fällt die des zweiten, dem „kunstseidenen Mädchen“ aus. Auch wenn Lickhardt den Schwierigkeiten, die ihrer Lesart Roman bereitet, mit einigen Thesen entgegentritt, die sie die so entstehenden Komplikationen wenn nicht meistern, so doch entschlüsseln lassen.

Zentral für Lickhardts Argumentation ist die Annahme, dass die Lesenden Doris’ Tagebuch überhaupt nicht zu Gesicht bekommen, sondern alleine sein Schreiben thematisiert werde. Allenfalls ist sie bereit zuzugestehen, dass sich „Tagebucheinträge“ und „ein weiterer Text“ abwechseln, ohne dass dies durch „entsprechende Markierungen“ kenntlich gemacht werde. Dass sich die Erzählstimme von der Tagebuchfiktion löse, glaubt die Autorin etwa mit dem Hinweis belegen zu könne, dass die Figur Ernst in dem Tagebuch blättert, „während Doris spricht“. Tatsächlich lässt sich das Problem jedoch ganz einfach durch die Annahme lösen, dass Doris das Geschehen erst später ins Tagebuch schreibt. Dass dies im Präsenz geschieht, steht dem nicht entgegen. Ebenso lässt sich in ein wiedergefundenes Tagebuch eintragen, dass man es verloren hat und nach ihm sucht. Jedenfalls aber – und hier ist Lickhardt zuzustimmen – basiert auf der literarischen „Struktur“ des Romans „ein ‚Überschuss‘ und damit etwas Herausragendes, das die Illusion der Geschichte transzendiert und Performativität, Reflexivität und Metafiktionalität anzeigt.“

Doris, die „einen weiblichen Gegenentwurf, zu dem in der späten Weimarer Republik wieder aufkommenden Gretchen-Typus mit blondem Zopf“ repräsentiere, trete zwar ahnungslos und naiv auf, doch spreche sie Kritikwürdiges immer wieder punktgenau an. Damit trete in der Erzählung ein „Mehr- oder Besserwissen“ zu Tage, das Lickhardt „problematisch“ findet, da es „nicht ohne weiteres aus dem Horizont der Ich-Erzählerin abgeleitet werden“ könne. Dagegen ließe sich einwenden, dass eine Figur, die – wie Lickhardt schreibt – „ahnungslos und naiv auftritt“, [Hervorhebung R.L.] ja nicht notwendiger Weise tatsächlich ahnungslos und naiv ist. Poetologisch ist das naive Auftreten von Doris allerdings zweifellos notwendig, „um komische und zugleich auf Identifikation abzielende Wirkungen zu erzeugen“. Ebenso zutreffend ist Lickhardts Befund, dass der Roman, dessen „Programm“ sie als „urban, progressiv und antielitär“ charakterisiert, „ein für die Moderne unerhörtes poetologisches Konzept“ erkennen lässt, „das von intertextuellen und vor allem intermedialen Verfahren lebt“. Und selbst die noch weitergehende, doch etwas steil anmutende These, Keun habe in ihm „geradezu eine postmoderne Schreibweise antizipiert“, versteht sie zu plausibilisieren.

Ungeachtet des einen oder anderen interpretatorischen Dissens und einer gewissen Irritation über die Verwendung der generischen Maskulina Erzähler und Leser, die immer wieder geschlechtliche Konnotationen evozieren, die sicherlich weder von Lickhardt noch von Keun intendiert sind und leicht durch die Begriffe Erzählinstanz und Lesenden zu vermeiden gewesen wären, hebt der Rezensent gerne hervor, dass Lickhardt nicht nur einen Meilenstein in der Keun-Forschung vorgelegt hat, sondern auch instruktive Überlegungen zu Theorie des Diskursromans anstellt.

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Maren Lickhardt: Irmgard Keuns Romane der Weimarer Republik als moderne Diskursromane.
Universitätsverlag Winter, Heidelberg 2009.
274 Seiten, 46,00 EUR.
ISBN-13: 9783825356910

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