Resolutheit und Verklemmung, Verlangen und Versagensangst

Bernhard Schlink erzählt „Sommerlügen“

Von Erhard JöstRSS-Newsfeed neuer Artikel von Erhard Jöst

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nach den Kriminalromanen mit dem Privatdetektiv Gerhard Selb, den Romanen, die Vergangenheit aufarbeiten wie sein inzwischen auch verfilmter Weltbestseller „Der Vorleser“ und den „Liebesfluchten“-Geschichten legt Bernhard Schlink seinen zweiten Band mit Erzählungen vor. In den sieben Geschichten stehen Liebesbeziehungen im Mittelpunkt, obwohl es nach Schlinks Erfahrung gar nicht einfach ist, über die Liebe zu schreiben und er es peinlich findet, wenn es sich jemand damit zu einfach macht.

In seiner Poetik-Vorlesung „Über die Liebe“ verriet er am 2. Juni 2010 in Heidelberg seinen Zuhörern, dass ihn seine Leser gelehrt hätten, wie man das Thema erfasst. „Können Sie nicht über normale Liebe schreiben?“, habe ihn eine Leserin gefragt, was ihn zu der Vermutung veranlasste, dass „die Vorstellung von normaler Liebe offenbar weit verbreitet“ und mit der Annahme verbunden ist, „dass sie glücklich sein muss“. Er beruft sich hingegen auf Werner Bergengrün und seine Feststellung: „Nichts ist vielgestaltiger als die Liebe“ und formuliert sie zu der These um: „Über die Liebe schreiben heißt über die Lieben schreiben.“ Es kommt ihm also darauf an, ihre Vielgestaltigkeit aufzuzeigen, er könne über die Liebe nicht im Singular, sondern nur im Plural schreiben.

Er liebe seine literarischen Gestalten, bekennt Schlink, gibt aber auch zu: „Ich verstehe die Menschen, über die ich schreibe, nicht besser als die Menschen, mit denen ich lebe.“ Da er ferner auch einräumt: „Wenn ich schreibe, gebe ich Einblick in mein Inneres, Privates, Intimes“, begibt er sich auf ein gefährliches Feld, denn nicht nur die Leser, sondern auch Literaturwissenschaftler und Psychologen ziehen gerne Rückschlüsse von den Charaktereigenschaften,Verhaltensweisen und Problemen literarischer Figuren auf die ihres Schöpfers: Kafka lässt grüßen. In seinem Poetik-Vortrag konkretisierte Schlink seine Aussage sogar noch mit den Sätzen: „Indem ich in meinen Büchern über Personen schreibe, die lieben, schreibe ich auch darüber, wie ich liebe.“ Und: „Mein Liebesglück und Leid ist in mein Schreiben eingegangen.“ Freilich lässt er sich auch Fluchtwege offen, indem er darauf verweist, dass die Protagonisten seine Liebe nicht immer nur spiegeln, sondern zuweilen auch als Zerrspiegel fungieren. Die Liebesträume und Ängste können auch Fantasien und Gegenpositionen darstellen. Verräterisch ist allerdings, wenn er im Anschluss an die apodiktische Behauptung: „Alles Schreiben ist autobiografisch“ anfügt: „Manchmal würde ich gerne die Frauen fragen, ob sie die dargestellte Liebe wieder erkennen.“ Fragwürdig ist Schlinks These: „Die eigene Liebe wieder zu erkennen gehört zum Glück der Liebe.“

Vergleicht man die Personen in den sieben Erzählungen aus Schlinks Erzählband „Sommerlügen“ mit den Protagonisten seiner Romane, so fällt die stereotype Charaktergestaltung ins Auge: Resolute Frauen treffen auf verunsicherte Männer. Immer wieder taucht, wie in der Erzählung vom „letzten Sommer“, das „Hanna-Syndrom“ auf: In diesem Fall ist es die zweiunddreißigjährige Helena, die den damals neunzehnjährigen Schüler „mit ins Bett“ nimmt. Der Junge „bedient“ die Frau aus „Eitelkeit“, was er aber mit der Zeit recht „anstrengend“ findet. Die Beziehungen, die von den Frauen gezielt angestrebt werden, sind für die Männer, zumindest anfangs, mit Versagensängsten verbunden. Als Richard, der Protagonist in der Erzählung mit dem Titel „Nachsaison“, in einem „beliebten Fischrestaurant“ eine Dame namens Susan kennen gelernt hatte und von ihr für den nächsten Tag in ihr Haus eingeladen worden war, hat er vor diesem Besuch „ein bisschen Angst. Wenn Susan und er nach dem Frühstück tatsächlich den Tag gemeinsam verbringen und auch noch gemeinsam essen oder sogar kochen würden – was kam danach? Musste er mit ihr schlafen?“ Später gesteht er, dass er gerne weiter wäre als er ist und fragt sich: „Wie, wenn die Situation bei Susan Erwartungen weckte, denen er nicht genügen konnte?“

„Die Nacht in Baden-Baden“ erweist sich für einen Stückeschreiber als verhängnisvoll, weil er sie zusammen mit einer „fröhlichen Begleiterin“ verbringt, was er aber seiner Lebensgefährtin gegenüber verschweigt. Seine Beziehung ist problematisch, weil die Partner es nicht geschafft haben, „dem gemeinsamen Leben eine verlässliche Gestalt zu geben“. Es gelingt ihnen nicht, das Gesetz des Lebens mit dem Gesetz der Karriere zu vereinbaren, weshalb sie mehr getrennt als gemeinsam leben.

Es ist die Liebespartnerschaft im Jet-Set-Zeitalter, die Bernhard Schlink zu gestalten versucht. Auch sie wird von den Frauen so sehr dominiert, dass sich der Mann fragt, ob er in seiner Partnerin „seine Mutter gesucht und gefunden“ hat. Die Symbiose der Mutter mit der Geliebten funktionierte mit der Zeichnung der Hanna Schmitz in dem Roman „Der Vorleser“ kongenial im historischen Kontext der Nachkriegszeit in Deutschland. Die Verbindung der Themenkomplexe gelang, weil die problematische Liebesbeziehung zwischen der wesentlich älteren Hanna zu dem Schüler Michael, der Generationenkonflikt und die schuldhafte Verstrickung in die Verbrechen der nationalsozialistischen Politik eine finstere Zeit ins Licht der Aufklärung rückte. So konnte anhand der handelnden Personen nachvollziehbar aufgezeigt werden, wie leicht man sich in Schuld verstrickt und wie sehr eine Liebesbeziehung das gesamte Leben prägen kann. In seinen nachfolgenden Romanen und Erzählungen hält Schlink aber im Grunde genommen an diesem Frauentyp fest, wie ihn Hanna Schmitz darstellt. Resolut benutzen die Frauen ihre Liebhaber wie Dildos, um sich selbst zu befriedigen. Damit läuft Schlink Gefahr, sich in einem Klischeebild festzufahren. Zu einem Zerrbild geraten ist beispielsweise das Mädchen Dorle in dem Roman „Das Wochenende“, die sich dem begnadigten und nach zwanzig Jahren aus dem Gefängnis entlassenen Terroristen Jörg vulgär und dennoch ohne Erfolg an den Hals wirft: „Sie hatte mit dem berühmten Terroristen schlafen wollen, um sagen zu können, daß sie mit dem berühmten Terroristen geschlafen hatte.“ Und um dieses Ziel zu erreichen, war sie zu allem bereit: „Nimm mich. Wenn du im Gefängnis mit Männern zusammen warst und jetzt… ich mag das. […] Ich mag in den Arsch gefickt werden.“

Eingehend zeigt Schlink die Oberflächlichkeit und Beliebigkeit moderner Beziehungen auf, wenn auch seine Charakterzeichnung nicht immer überzeugen kann. Völlig unrealistisch ist zuweilen sein Frauenbild. Als ob diese nur auf jede passende Gelegenheit warten würden, um mit jedem beliebigen Mann ins Bett zu steigen. Selbst im abgelegensten Bergdorf wartet die junge und hübsche Studentin, die dort zeitweise als Bedienung arbeitet, nur auf einen Gast, der die Champagnerkorken knallen lässt und schon nimmt sie lachend „den blutigen Tampon heraus“, macht mit ihm „Liebe mit der Sachlichkeit und Gewandtheit, mit der man Sport treibt“ und schickt ihn nach dem zweiten Mal weg mit dem Abschiedsgruß, dass er nicht wiederkommen müsse. Hier brechen sich Männerfantasien Bahn, und man wüsste in solchen Fällen wirklich gerne, wie Schlinks Frauen über solche Sex-Darstellungen denken.

Man vermisst bei Schinks Erzählungen die Leichtigkeit, es fehlt die Zeichnung amüsanter Situationen. Es gelingt dem Autor hervorragend, die Vergangenheit zu beleuchten, aber die Liebe zwischen Mann und Frau ist ein Themenbereich, in dem sich seine Figuren komplexbeladen festgefahren haben. „Ich lebe in Geschichten und spiele mit Figuren und Konstellationen, bis sie stimmig erscheinen“, äußerte Schlink in einem Interview. Das Spiel mit Figuren und Konstellationen betreibt er nachweislich auch in seinen „Sommerlügen“, aber es wirkt dort oft gekünstelt, wird jedenfalls selten zur Stimmigkeit gebracht. Beispielsweise wird in der Erzählung „Das Haus im Wald“ eine Entwicklung durchgespielt, die aber insgesamt allzu konstruiert erscheint.

Schlinks Frauen wirken auf den Mann bedrohlich, machen ihm Angst. Auffällig ist auch, dass sie in der modernen Zeit, in der in der Regel beide Partner berufstätig sind, auch auf diesem Gebiet den größeren Erfolg haben. Wenn beide als Schriftsteller tätig sind, dann übertrumpft die Frau den Mann, der sich dann klaglos auf den Bereich der Haushaltsführung und Kindererziehung zurückzieht und „mehr Familiengemeinsamkeit“ wünscht: „Liebe war das Fett, das diese Familienmaschine schmierte. Für ihn waren Liebe und Familie die Erfüllung eines Traums, den er zu träumen begann, als die Ehe seiner Eltern […] immer tiefer in einen Strudel von Gehässigkeit, Geschrei und Gewalt gezogen wurde.“ Als der Schriftsteller merkt, dass „die Schnittmenge zwischen ihren beiden Leben“ kleiner wurde, beginnt er seine beruflich erfolgreiche Frau und seine Tochter abzuschirmen, in ihrem gemeinsamen Haus auf dem Land, fünf Stunden von New York entfernt, geradezu gefangen zu halten.

Skurril ist die Geschichte des „Fremden in der Nacht“, der seine Freundin in den Orient verkauft. Der Fremde erzählt sie seinem Nebensitzer im Flugzeug: Kein Wunder, dass dieses dabei in heftige Turbulenzen gerät. Schlink liebt es, seinen Geschichten überraschende Wendungen zu geben. Gerne greift er auch zur Verrätselung, um seine Leser zu fesseln.

Liebesbeziehungen entfalten sich in den „Sommerlügen“ nicht kontinuierlich, sie sind vielmehr plötzlich da, werden vom Autor einfach behauptet. Sie entstehen durch zufällige Begegnungen und bleiben zumeist oberflächlich, wenn sie tiefer gehen, entwickeln sie sich häufig zu krankhaften Obsessionen, weil eine Person die andere als ihren Besitz ansieht, den sie eifersüchtig bewachen muss. Liebe bedeutet Benutzen und Benutzwerden. Jedenfalls liefert Schlink keine Liebesgeschichten, an deren Ende Glück und Erfüllung stehen. Vielleicht beschreibt er tatsächlich die Liebe im 21. Jahrhundert? Aber dann hätte er auch auf den Cyber-Sex und die Partnersuche übers Internet eingehen müssen.

Auch die Liebe zu den Kindern kann man plötzlich verlieren wie die achtzigjährige Nina in der Geschichte „Die Reise nach Süden“. Als sie sich fragt, „was den Verlust der Liebe ausgelöst hatte, fand sie keine Antworten“. Jedenfalls wird ihr später bewusst: „Mit dem anderen so einsam sein, als wäre man ohne ihn“, das ist das „Ende der Liebe“. Die von ihrer Enkelin Emilia vermittelte Begegnung mit ihrem Geliebten aus der Studienzeit, den sie aus Angst vor einem Leben in Armut verlassen hatte, gibt ihr Anlass darüber nachzudenken, ob sie damals die richtige Entscheidung getroffen oder ihr Lebensglück verpasst hat. Hat sie die Pflichten, die sie an ihre Kinder und Enkel bindet, fälschlicher Weise als Liebe verstanden? Jedenfalls sind in dieser Geschichte die Personen authentisch, ihre Zweifel einleuchtend. Schlink gelingt es, seine Lebenserfahrung glaubhaft in die Gedanken der Personen und in nachvollziehbare Handlungen einfließen zu lassen.

Grundsätzlich kann man feststellen, dass Schlinks Geschichten, die der Liebe zwischen Eltern und Kindern, Großeltern und Enkeln nachgehen, gehaltvoller sind als die Darstellung der Liebesbeziehung in Partnerschaften. Diese Erzählungen, allen voran „Die Reise nach Süden“, aber auch „Johann Sebastian Bach auf Rügen“, sind von großer Eindringlichkeit. Sie haben die Stimmigkeit und Dichte, die man bei den Love-Storys zuweilen vermisst. Aber auch sie zeigen auf, dass die Liebe bestenfalls eine Zeitlang funktioniert, dass selbst die Liebe der Eltern zu ihren Kindern letztendlich zum Scheitern verurteilt ist.

Dass ein Mann wie in der Geschichte „Der letzte Sommer“ unter dem Eindruck seiner unheilbaren Krebserkrankung sein Leben bilanziert, aus dem er aussteigen will, sobald die Schmerzen unerträglich werden, das ist gewiss kein origineller Ansatz, aber mit der Ausgestaltung dieser Erzählung gelingt Schlink eine dichte Reflexion über die Belastbarkeit von Liebesbeziehungen. Über Schlinks „Sommerlügen“ liegt eine traurige Melancholie. Die schwermütigen Reflexionen der Protagonisten gehen der Frage nach, warum es selbst dann, wenn sie alle Zutaten zusammen haben, dennoch nicht zum Glück und zur Erfüllung kommt. Vergeblich suchen die Menschen nach Vertrautheit wie der Sohn, der seinen 82-jährigen Vater zu einem Ausflug auf die Insel Rügen mitnimmt, weil er wissen möchte, wer er ist. Aber auch über den Besuch von Bach-Konzerten, die beide überaus schätzen, findet der Sohn keinen Zugang zu dem Vater.

Alle Geschichten durchzieht eine unstillbare Traurigkeit, weil die Sehnsucht nach Glück keine Erfüllung findet. Die „Sommerlügen“ sind eine geeignete Winterlektüre, die man sich gut vornehmen kann, wenn man neben dem Kaminfeuer sitzt. Schlink schildert Liebesbeziehungen, wie sie nach seiner Vorstellung im intellektuellen Milieu beziehungsweise in der High-Society von Berlin bis New York ablaufen.

Titelbild

Bernhard Schlink: Sommerlügen. Geschichten.
Diogenes Verlag, Zürich 2010.
280 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783257067538

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