Allenfalls Indifferenz

Karl-Günter Zelle stellt „Hitlers zweifelnde Elite“ vor: Goebbels, Göring und Himmler hatten jedoch nichts gegen die Vernichtungspolitik ihres „Führers“

Von Klaus-Jürgen BremmRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus-Jürgen Bremm

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Vier prominente, aber doch höchst unterschiedliche Charaktere aus dem engsten Umfeld Adolf Hitlers versucht der Mainzer Autor Karl-Günter Zelle unter dem leitenden Gesichtspunkt einer unsicheren Gefolgschaft zu erfassen. Doch schon der Titel „Zweifelnde Elite“ weckt Erwartungen, die auch durch Zelles detaillierte Studie nicht gedeckt werden. Denn erstens waren die Zweifel an Hitlers Führungsfähigkeiten, sieht man einmal von der Endphase des Krieges ab, durchaus nicht prägend für das Verhalten seiner höchsten Paladine. Vor allem aber waren es eben nicht grundsätzliche Vorbehalte gegenüber der rassistischen Politik des Völkermordes, die Goebbels, Göring, Himmler oder Speer irgendwann auf vorsichtige Distanz zu ihrem geliebten Führer gehen ließ, sondern ausschließlich Fragen technischer Natur. Allenfalls Indifferenz gegenüber der Ermordung der Juden oder der skrupellosen Ausbeutung von fast sieben Mio. ausländischen Zwangsarbeitern lassen sich aus den vier Biogrammen herauslesen, die der Autor halb chronologisch, halb systematisch präsentiert und gleich auch mit dem zutreffenden Hinweis versieht, dass die Lektüre dadurch nicht erleichtert werde. Gemeint sind damit wohl vor allem die zahlreichen Wiederholungen von Kernaussagen, die der Verfasser gebetsmühlenartig in seinen Text einstreut. Die vielen Zusammenfassungen machen das Buch auf jeden Fall nicht gehaltvoller.

Immerhin hätte dieser systematisch-vergleichende Ansatz dem Autor die Möglichkeit verschafft, stets die kritische und notwendige Distanz zu seinen Protagonisten zu wahren, um sie zu jedem Zeitpunkt ganz klar als das erscheinen zu lassen, was sie doch ohne Frage vor allem waren: Eine Gruppe herausragender Unmenschen, denen trotz aller Intelligenz nicht nur der millionenfache Tod der unterworfenen Völker keine Gewissenbisse verursachte, sondern die auch den wachsenden Blutzoll des eigenen Volkes mit bemerkenswerter Gleichgültigkeit hinnahmen. Diesen moralischen Graben ebnet der Autor jedoch mit seinem psychologisierenden Ansatz wieder ein, da er versucht, das Verhalten seiner Protagonisten mittels des bekannten Schemas der kognitiven Dissonanz zu entdämonisieren.

Gewiss mag mancher der im Buch analysierten Führungsfiguren ihre Verehrung für Hitler nicht mehr in Einklang mit dessen massiven Fehlentscheidungen gebracht haben können, was, wie Zelle schreibt, im Einzelfall zu einer dauerhaften Umdeutung der Realität geführt haben kann. Aber lassen sich der Nationalsozialismus und seine Jahrhundertverbrechen tatsächlich durch angeblich allgemein gültige psychologische Mechanismen erklären? Antimodernitätsreflexe, Nationalismus und die millionenfach prägende Gewalterfahrung des Ersten Weltkrieges erscheinen nach wie vor als die aussichtsreichsten Deutungsmuster für das Handeln der Protagonisten des Dritten Reiches.

Bei nüchterner Betrachtung seiner vier Biografien wirkten sich jedoch die Zweifel an Hitlers „Führungskunst“ nur in marginaler und äußerst zurückhaltender Opposition aus. Einzig der Englandflug von Rudolf Hess ließe sich noch als klarer Akt des Widerstandes interpretieren, aber eigenartigerweise hat Zelle gerade den „Stellvertreter des Führers“ nicht in seine Auswahl einbezogen.

Wirklich neue Erkenntnisse vermag der Verfasser, der erst nach dem Abschluss eines erfolgreichen Berufslebens in der Privatwirtschaft den akademischen Weg zur Geschichte eingeschlagen hat, mit seiner Methode jedoch nicht zu gewinnen. Seine Analysen stützen sich, abgesehen von den wichtigsten Monografien, hauptsächlich auf eine Neuinterpretation der zahlreichen Reden seiner Protagonisten oder auf Goebbels ausführliche, aber immer noch nicht vollends ausgewertete Tagebucheintragungen.

Dass Himmler nach eigener Überzeugung wegen der Vernichtung der Juden ständige Magenkrämpfe gehabt haben soll, liest man immerhin noch mit einer gewissen Genugtuung. Wie aber der umtriebige und skrupellose Schöpfer einer krakenartigen Organisation von Massenmördern und Henkersknechten, die ganz Europa für ein halbes Jahrzehnt in Angst und Schrecken versetzt hatte, tatsächlich glauben konnte, er würde in einer von den Alliierten bestimmten Nachkriegsordnung noch eine politische Rolle spielen, ist auch bereits von Peter Longerich ausführlich untersucht worden.

Aus dem verbrecherischen Quartett war es immerhin Heinrich Himmler, der persönlich die größte Distanz zu Hitler wahrte, sogar in Attentatspläne eingeweiht war, ihm aber gleichwohl in seinem mörderischen Wahn in der wohl konsequentesten Form gefolgt ist. Und dies, obwohl er, wie Zelle betont, dessen Anschauungen über die Gefährlichkeit des internationalen Judentums durchaus nicht von Anfang an geteilt hatte.

Der Rheinländer Joseph Goebbels war dagegen ein Gläubiger, der Hitler mit katholischer Inbrunst verehrte und bis zuletzt aus seinen intimen nächtlichen Unterredungen mit dem „Führer“ wider besseres Wissen Kraft und Zuversicht geschöpft haben will, sofern man seinen Tagebucheintragungen trauen möchte.

Hermann Göring wiederum ging seit der Sudetenkrise von 1938 erkennbar auf Distanz zu Hitler und bemühte sich vor allem seit Beginn der alliierten Bomberoffensive, unangenehmen Begegnungen mit dem ersten Mann des Reiches tunlichst aus dem Weg zu gehen Nach Ansicht Zelles lässt sich der demonstrative Rückzug des Reichsmarschalls in ein luxuriöses Privatleben und seine oft beklagte Lethargie nur als Ausdruck seiner tiefen Missbilligung der Va-Banque Politik seines „Führers“ erklären. Erst nach dem Untergang des Dritten Reiches fand Göring wieder zu seinem energischen Handeln der ersten Diktaturjahre zurück, da es aus seiner Sicht nun darum ging, sein geschichtliches Bild vor der Nachwelt zu sichern.

Im Vergleich zu den Parteisoldaten der ersten Stunde geriet der mittellose Architekt Albert Speer erst spät unter Hitlers Einfluss, konnte aber seine Sonderstellung fast bis zuletzt wahren und sogar erfolgreich gegen den berüchtigten Nero-Befehl opponieren. Zelle rechnet ihm das als mutige Entscheidung an und will auch nicht das bisher in der Forschung bestehende Bild des Rüstungsministers als geschickter Lügner vor dem Nürnberger Tribunal gelten lassen.

Trotz der Präsentation zahlloser Details zu Fragen der Rüstung, der Behandlung der so genannten Ostvölker und der Mobilisierung der eigenen Bevölkerung gelingt es Zelle mit seinem Ansatz nicht, eine wirklich neue Perspektive auf die Funktionsweise des Dritten Reiches zu entwickeln. Letztlich erfordern nicht die allzu berechtigten Zweifel unter Hitlers Paladinen angesichts einer sich dramatisch verschlechternden Kriegslage eine besondere Erklärung, sondern viel eher der sich allen Realitäten widersetzende vehemente Illusionismus Hitlers, der seine bis zuletzt nicht erlahmende Suggestivkraft vor allem auch aus seiner Authentizität gewann.

So bietet Zelles elargierte Studie allenfalls neue Deutungen für Einzelheiten. Wesentlich weiter trägt auch sein psychologisierender Ansatz nicht. Aber rechtfertigt dies tatsächlich die Niederschrift noch eines weiteren Buchs über das Dritte Reich und seine zentralen Protagonisten?

Titelbild

Karl-Günter Zelle: Hitlers zweifelnde Elite. Goebbels - Göring - Himmler - Speer.
Schöningh Verlag, Paderborn 2010.
504 Seiten, 39,90 EUR.
ISBN-13: 9783506769091

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