Von lärmenden Inselbewohnern und Flugmaschinen

Philippe Despoix über die Kartografierung des Unbekannten im 18. Jahrhundert

Von Karen StruveRSS-Newsfeed neuer Artikel von Karen Struve

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Le monde mesuré“ heißt das Buch des Kultur- und Literaturwissenschaftlers Philippe Despoix im Original. Die „vermessene Welt“ also – diese etwas holprige Übersetzung hat es zurecht nicht auf den Titel des Buches geschafft, wirft aber einen Blick auf den Fragehorizont der Studie: Wird hier die Welt einfach vermessen, ausgemessen, oder handelt es sich um ein vermessenes Unterfangen? Wer erfasst hier wen oder was und mit welchen Hilfsmitteln? Ein historisches Projekt von „Länder, Menschen, Abenteuer?“ Wie und wo werden schließlich diese Ergebnisse dann festgehalten: Wie vermessen sind die Menschen, die sich in Reiseberichten und Tagebüchern als Entdecker gerieren?

Tatsächlich wird man in dem Buch „[ke]ine Geschichte der großen Namen der wissenschaftlichen Erkundungen im 18. Jahrhundert“ finden – keine biografische Aufarbeitung also von Cook, Bougainville und Co. Vielmehr geht es Despoix darum zu zeigen, wie im Zeitalter der Aufklärung „die physikalische Erklärung des Universums und die Beobachtung des Menschen noch dicht beieinanderliegen“ ,und zwar als diskursive Praxis. Konkret bedeutet dies, dass die natur- und kulturwissenschaftliche Erfassung der Welt unter die Lupe genommen wird: Mathematik und Geografie neben Literatur und Ästhetik, Uhrmacher und Astronom neben Welteroberer und Eingeborenem. Damit stellt Despoix die Techniken der Vermessung, Kartografierung und Berechnungen neben die der schriftlichen Beschreibung, der Fiktionalisierung. Also Schiffsuhr neben Reisetagebuch. Die Konstruiertheit von geografischen wie anthropologischen Fakten wird damit ins Zentrum gerückt, das „Entdecker-Subjekt“ mit dem „entdeckten Objekt“ verquickt. Was in der „Writing Culture“-Debatte in der Ethnologie schon einige Zeit praktiziert wird, wird hier also nicht nur auf einen historischen Gegenstand angewendet – auf europäische Entdeckungsreisen im 18. Jahrhundert mit Beispielen aus Frankreich, Großbritannien, Spanien und den deutschen Staaten –, sondern auch auf naturwissenschaftliche Erkenntnisproduktionen.

In Despoixs Worten, die explizit Michel Foucaults Duktus übernehmen: „Ich versuche zu zeigen, in welchem Maße die Wahrheitsdispositive und die Formen der Imagination miteinander verschränkt sind und dass die Fiktion nicht nur der Literatur angehört und das Wissen nicht allein den Naturwissenschaften.“ Foucaults Einfluss findet sich ebenfalls in der Berücksichtigung macht-politischer Aspekte, denn er reflektiert kritisch, ob da etwa. ein kleiner, vereinzelter Uhrmacher oder ein königlicher Astronom als Repräsentant einer Gemeinschaft von Gelehrten sich als erster im Wettstreit um die Längengradvermessung durchsetzt.

In seinem Kapitel zu den Welterkundungen nimmt Despoix nicht nur die Verfahren der unterschiedlichen europäischen Akteure in den Blick, sondern achtet besonders auf die spezifischen „Autorentypen im Wettlauf um die Publikation ihrer Zeugnisse“. Die Wettfahrt der Entdeckungsschiffe wird also erweitert durch den Wettlauf der Druckermaschinen, die die Reiseberichte und -tagebücher in der europäischen Heimat in Umlauf bringen. Und vor den alten Gelehrten tritt der neue Typus des Entdecker-Autors.

Im dritten Kapitel wird diese Betrachtungsweise dann nochmals zugespitzt auf die Untersuchung der „semantische[n] Seite des Entdeckungsdiskurses“, also die disparaten Benennungen des Indigenen. Die Tagebuchaufzeichnungen über den besonderen Moment des „first contact“ werden dabei oftmals redigiert und ihr unkontrollierbares Geschrei oder ihr Lachen aus den Texten gestrichen oder modifiziert. Das Bild des Fremden wird in einem vierten Kapitel detaillierter ausgeführt, in dem Despoix wissenschaftliche und künstlerische Imaginationen nebeneinanderstellt. Die Untersuchungen der literarischen und dramatischen Texte über die Südsee zeigen, „wie durchlässig die Grenze zwischen gesichertem Wissen und fiktionaler Phantasie bleibt“. In den Texten werden dabei häufiger antike Topoi bedient als die ‚authentischen Aufzeichnungen‘ auf den ersten Blick vermuten lassen; diese werden jedoch kunstvoll mit den anthropologischen wie technischen Diskursen der Zeit verwoben. So ist etwa die „Découverte de la terre australe par un Homme-volant“ von Rétif de la Bretonne nicht nur eine Neuschreibung des Ikarus-Mythos, sondern zugleich die Erzählung über die Entdeckung der letzten noch nicht von Cook kartografierten Insel der Südsee und die Literarisierung der zeitgenössischen ersten Flugversuche mit Flugmaschinen.

Despoixs Studie ist eine lesenswerte Zeitreise, die nicht nur sehr anschaulich die Entdeckungsfahrten im Zeitalter der Aufklärung zu beschreiben und in ihren Vermessungstechniken kritisch zu beleuchten versteht, sondern die literarischen Imaginationen und vermeintlich wissenschaftlich fundierte Bilder des Fremden – die durch emblematische (wenn auch zum Teil bekannte) Abbildungen ergänzt und veranschaulicht werden – gekonnt nebeneinander stellt. Die Analyse ist jedoch keinesfalls eine rein historische Quellenhuberei, die bei der Rekonstruktion von Vermessungstechniken und literarischen Zeugnissen der Zeit stehen bleibt. Vielmehr zeigt sie auf, in welcher Hinsicht das Projekt der Aufklärung vermessen ist: wenn europäische Machtansprüche und Wissenskonstruktionen unter dem Deckmantel von Aufklärung und Wissenschaft Hand in Hand gehen.

Titelbild

Philippe Despoix: Die Welt vermessen. Dispositive der Entdeckungsreise im Zeitalter der Aufklärung.
Wallstein Verlag, Göttingen 2009.
278 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-13: 9783835304857

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