Entleerung durch Verschriftlichung

Ein Sammelband über den Poeta doctus Hermann Burger

Von Michael OstheimerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michael Ostheimer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Nachlass zu Todeszeiten – Hermann Burger 1942-1989“, unter diesem Titel wurde anlässlich des zwanzigsten Todestages des Schriftstellers in Zürich eine Ausstellung gezeigt, zu deren Rahmenprogramm auch eine Tagung gehörte. Nun liegt der diesbezügliche Sammelband vor. Nachdem auf zunächst vorwiegend biografisch orientierte Annäherungen in den 1990er -Jahren einige die artistischen Schreibtechniken reflektierende Untersuchungen folgten, liefert er einen guten Überblick über die Ansätze und den Stand der Burger-Forschung. Vor allem zwei Schauplätze kehren in dem Band, dessen Beiträger gegenüber jeglichem Bio- wie Hagiografismus einen ausreichenden Sicherheitsabstand wahren, immer wieder: Der Nachlass, als der Ort, der aufschlussreiche Einblicke in die Schreibwerkstatt des Autors gewährt, und die unterschiedlichen Fachsprachen, deren intime Kenntnis sich Burger aneignete, um die ihn begeisternden Themen (wie etwa die Zauberei und die Thanatologie) in produktive Schreibverfahren zu überführen.

Die Vielfalt des in der Schweizerischen Nationalbibliothek aufbewahrten und 250 Archivschachteln mit Werkmanuskripten, Skizzen, Materialiensammlungen und der nahezu vollständigen Korrespondenz umfassenden Nachlasses (exemplarische Einblicke gewährt der Beitrag von Franziska Kolp) bietet den Ausgangspunkt für vielfältige philologische Spurensuchen und poetologische Reflexionen. So lässt sich beispielsweise anhand der Textgenese der „Kirchberger Idyllen“ (1980) minutiös der Selbstinszenierungsprozess eines lyrischen Dichter-Ichs rekonstruieren (Irmgard Wirtz), eignet sich der Burger’sche Neologismus „Autobiographeske“ (aus einem Brief an die Tagesschau-Sprecherin Dagmar Berghoff) als Terminus, um über die autofiktionalen Strategien eines radikal sich selbst ausbeutenden Schriftstellers nachzudenken (Sonja Osterwalder). Die Impulse, die von dem Nachlass auszugehen vermögen, sind – das zeigten auch die auf der Tagung geführten Diskussionen – zahlreich und dürften sich wohl auch nicht so schnell erschöpfen.

Auf eines freilich laufen die unterschiedlichen Beiträge, mögen sie sich nun vom Nachlass inspirieren lassen oder dem Autor eine „literarische Chromatik“ (Sabine Mainberger), eine „mythische Phänomenologie des Weiblichen“ (Heinz-Peter Preußer) oder eine „cloacistische“ Obsession (Magnus Wieland) attestieren, hinaus: Auf den Autor als Poeta doctus. Daher ist es nicht weniger als stimmig, dass in dem Band auch erstmals Hermann Burgers „St. Galler Vortrag: Poetische und wissenschaftliche Sprache“ (1983) abgedruckt wird. „Es mag“, notiert Burger hier zumal in eigener Sache, „als Formenspielerei anmuten, doch mir schien immer, die Suffix-Inkongruenz von poeta doctus – Masculinum trotz weiblicher Endung – verweise auf die spezifische Mischung von bildhafter Intellektualität und abstraktionsfähiger Intuition beim gelehrten Dichter.“ Es ist diese Polarität, die für Hermann Burgers poetologisches Selbstverständnis zentral war, und an der er sich zeit seines Lebens abarbeitete.

Es macht die Stärke des Bandes aus, dass er eine Reihe von sich wechselseitig ergänzenden Aufsätzen enthält, die der existentiell grundierten Poetik eines Schriftstellers nachspüren, dessen Wortakrobatik nichts weniger als die Kehrseite einer Sehnsucht nach Verständigung und Todesaufschub ausmacht. Zwar vermitteln sowohl seine „Sterblichkeitsübertreibungskunst“ (Andreas Urs Sommer), die noch den Tod durch unentwegtes von ihm Reden zu überbieten versucht, als auch seine illusionistische Artistik, wie sie der poetologische Text „Diabelli“ entwirft, „keine begrifflich explizierbare Poetik“ (Monika Schmitz-Emans). Und doch zieht sich durch Burgers Werk eine Denkfigur, die für sein „ganzes Schreiben konstitutiv ist: die Denkfigur einer vollständigen – körperlichen und existenziellen – Versprachlichung bzw. Verschriftlichung“ (Thomas Strässle). Bereits in dem frühen Text „Das Märchen von der Sprachsalbe“ (um 1963; als Typoskript ebenfalls in dem Band abgedruckt) lässt sich der unheilvolle Dreiklang aus der Sehnsucht, verstanden zu werden, der Wortentäußerung und dem sukzessiven Verstummen nachvollziehen: „Es war einmal ein Mann, der konnte alles sagen, was man sagen kann.“ Doch niemand verstand ihn, weshalb er eine Salbe erfand, in die er alle seine Wörter hineingab. Mit der Salbe nun verhalf er zwar seinen Mitmenschen zur Sprachmächtigkeit, er selbst aber endete als stummer Hausierer, über den nun die anderen urteilten – „helfen“, heißt es zum Schluss, „konnten sie ihm nicht“.

„Das Märchen von der Sprachsalbe“, das „das Prinzip Burger modellhaft präsentiert“ (Jürgen Wertheimer), veranschaulicht das Paradox, dass die Maßnahmen zur Beförderung eines Gesprächs zugleich die Verminderung der eigenen Kommunikationsfähigkeit bedeuten können. Schon frühzeitig muss Burger geahnt haben, auf welche fatale Logik er sich mit der Schriftstellerei als Ausdruck einer Sehnsucht nach Dialog und Verständnis einlässt. Und trotzdem, ungeachtet der selbstzerstörerischen Wirkungen, stellte er sein Leben in den Dienst des Mediums der Schrift.

Das Motiv einer Entäußerung durch Schreiben, um zwischen den Menschen zu vermitteln, ähnelt der theologischen Denkfigur der Kenosis, wonach Christus seine göttlichen Attribute preisgibt, um im Stand der Selbstentäußerung eine geschichtliche Existenz führen zu können. Burgers gleichsam kenotische Poetik dagegen basiert auf der (existentiellen) Entleerung durch Verschriftlichung. Dies demonstriert der vorliegende – nicht zuletzt sorgsam redigierte und überdies mit einer wertvollen Bibliografie versehene – Sammelband, an dessen hohen Maßstäben sich die künftige Burger-Philologie wird messen lassen müssen.

Titelbild

Magnus Wieland / Simon Zumsteg (Hg.): Hermann Burger. Zur zwanzigsten Wiederkehr seines Todestages.
Springer Verlag Berlin, Wien 2010.
322 Seiten, 32,95 EUR.
ISBN-13: 9783709100493

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