Coming of Age in an Age of Quarrel

Die Sozialisationsinstanz Punk in drei Graphic Novels

Von Fabian KettnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Fabian Kettner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„The girl next door“, das ist eine der Marketingkategorien im Sex-Business: „Das Mädchen von nebenan“ ist nicht das unerreichbare Luxus-Sex-Starlet, sondern die Frau, die vermeintlich leichter verfügbar ist. Vorgespielte sexuelle Befriedigung wird vom Pool der Luxusvilla oder vom Sonnendeck der Luxusyacht ins Nachbarhaus verpflanzt. Um vom „girl next door“ zu fantasieren, braucht man nicht so viel Vorstellungskraft. Martin Büsser machte aus dieser festen Redewendung als Titel für seine Graphic Novel die männliche Variante: „Der Junge von nebenan“. Und in der Tat lebt in seinem Büchlein die Sex-Businiess-Kategorie in anderer Form fort. Zum einen ist der Junge, um den es geht, ein ganz gewöhnlicher, vielleicht auch x-beliebiger, ein Vertreter einer Gattung; zum anderen geht es um sexuelles Begehren, und zwar um homosexuelles.

„Der Junge von nebenan“ ist weder ein Comic noch eine Graphic Novel, sondren nach den genreüblichen Kategorien gehört Büssers Büchlein zu den Bildererzählungen: Der Text dominiert und die Bilder greifen manche Elemente des Textes auf. Büsser schrieb Anfang der 1990er Jahre im Hardcore-Magazin „ZAP“ die anspruchsvolleren Texte, in denen er die Grenzen der vernagelten Szenemusik gerne überschritt. Sie waren in Acht-Punkt-Schrift gesetzt und lang. Danach publizierte er mehrere Bücher zu verschiedenen Strömungen der Jugendkultur im Ventil-Verlag und dessen Umfeld, von wo aus er sich der Ästhetik im Allgemeinen zuwandte. Gegenwärtig präferiert er die Jugendkultur der Emos, denn der Emo-Mann ist laut Büsser kein Macker, da androgyn gestylt. Die Emos transzendierten die Geschlechterstereotypen, indem sie diese verkehrten und verwirrten.

Und damit sind wir beim Thema seiner Bildererzählung, die sympathischerweise „all jenen“ gewidmet ist, die, „ganz gleich, wie alt sie sein mögen, […] nie Männer werden wollen oder es geschafft haben, nie Männer zu werden“. Gegen Ende bezeichnet er sein Werk als ein „Handbuch für Jungs, sich selbst auf den Weg zu machen, ihre Wünsche und Träume zu erkunden“. Das Büchlein erzählt von der Geburt bis zu einer irrealen Gegenwart die Geschichte eines Menschen offensichtlich männlichen biologischen Geschlechts und integriert die Lebensgeschichte seines Ich-Erzählers (die mit Büssers eigener, wie weit auch immer, identisch sein mag) in die Zeitläufte der Zeitgeschichte.

Die Eltern des Ich-Erzählers sind hochgradig politisiert. Er lebt alleine mit seiner Mutter, die all die theoretischen, politischen und literarischen Bücher konsumiert, die bei kritisch empfindenden Erwachsenen zu jener Zeit angesagt waren. Der Vater ist als Terrorist im Untergrund, kehrt aber eines Tages heim. Sein Sohn kann mit ihm so viel anfangen wie jedes Kind, dessen Vater im Krieg war.

Aber er geht auch sonst auf Distanz zu seinen Eltern, die für ihn politische Protagonisten mit einer sehr erregten Weltsicht sind, strotzend vor einer verbalen Kraftmeierei, in der sich ihr politischer Verstand auch bereits erschöpft. Seine Interessen sind ohnehin andere, vor allem Musik und Sexualität – und bei letzterer die gleichgeschlechtliche. Die sexuellen Bedürfnisse sind teils etwas abseitig; in der pornografischen Populärkultur bezeichnet man sie im Allgemeinen als „Natursekt“ oder „goldene Dusche“. Komplementär dazu ist auch seine künstlerische Betätigung etwas ungewöhnlich und kann Übelkeit erregen: „Landkarten“ aus Wundschorf-Umrissen und Bilder aus Kaugummi und Zigaretten anzufertigen, ist nicht jedermanns Sache. Aber aus der Langeweile können merkwürdige Dinge entstehen. Auch das regelmäßige und gegenseitige Masturbieren mit anderen Jungs geschieht selbstverständlich. Der Ich-Erzähler bezeichnet sich nicht als „schwul“ – aber nicht, weil er nicht dazu stehen könnte, sondern weil diese Klassifizierung einfach nicht verfügbar war. Alle machten es – und er war einer von ihnen. Alle machten es aber nur bis zu einem bestimmten Alter – im Gegensatz zu ihm.

Aber dann ändert sich sein Leben ohnehin: Seine Eltern fallen einer brutalen „Killfahndung“ zum Opfer. Büsser klagt hier nicht mit dem üblichen linksradikalen Pathos an, sondern zeigt, wie zwei bekloppte Parteien aufeinander losgehen. Beide sind Killer, die von Staatsseite nur professioneller. Der Vater stirbt mit einer lächerlichen Parole auf den Lippen, ein anonymer Schütze der polizeilichen Spezialeinheit zerfetzt die Mutter, während er unablässig „Fotze“ intoniert, „wie einen „Rap-Sprechgesang, der damals noch gar nicht erfunden war“. Es sind diese kleinen Bemerkungen und Anspielungen nebenher, die Büssers Büchlein amüsant und interessant machen, denn der Rap des Polizisten ist natürlich nicht nur technisch, sondern auch inhaltlich ein Vorläufer zu den „Bitch“-Gesängen des Hip Hop. Von der zerstückelten Mutter blendet Büsser gleich über zu Picasso und De Kooning, „diesen widerlichen Sexisten. Diesen Kunst-der-Moderne-Faschisten“, die in ihren Bildern Frauen genauso zerlegten wie Polizisten in der Realität.

Waise geworden muss der Ich-Erzähler fortan bei seinen Großeltern auf dem Lande aufwachsen, wo es ruhig und der Opa ein unaggressiver Altnazi ist. Politische Positionen treten ihm also in verschiedenen Personen seines Umfelds entgegen: Zu seiner Mutter, der Linken der sozialen Beziehungen, dem Terroristen-Vater und dem Nazi-Opa kommt dann noch als Tochter von Eltern-Freunden die Feministin hinzu, die der Ich-Erzähler eigentlich ganz gut leiden kann (bereits einfach deshalb, weil sie eine Frau ist), die Feminismus aber mit einer zwanghaften deutschen Schuldhaltung kombiniert. Einmal pinselt sie ihm bei einem dieser typischen mehr oder weniger ,unschuldigen‘ Kinder-Adoleszenz-Spiele eine Karte von Auschwitz auf den Bauch, wobei sein errigierter Penis der Schornstein eines Krematoriums ist, damit er bei jeder Erektion daran denke, dass es ausschließlich Männer gewesen seien, die den Holocaust verübt hätten.

Auf dem Land unter dem Sternenhimmel träumt er von einer Flucht nach Berlin, wohin er dann auch schließlich zieht. Aber auch hier gehört er, wie vorher schon, nirgends dazu: weder zu den gleichaltrigen Jungs, noch zu seinen politischen Eltern, noch zur Schwulenszene Berlins, noch zu den Mädchen/Frauen, die er grundsätzlich sympathischer findet als Jungs/Männer. Er partizipiert nicht am gesellschaftlichen Erfolg, den manche seiner politisch radikalen Alternativszene-Angehörigen schaffen, und auch mit seinen eigenen Ansichten ist er nicht identisch. Gegen Ende amüsiert er sich über sein eigenes Geschwätz.

Büsser resümiert also verschiedene Facetten der linken politischen und polit-kulturellen Szene Westdeutschlands. Er kritisiert sie nicht einfach von der Warte der individuellen (körperlichen, sexuellen) Emanzipation aus, wobei einfach nur beispielsweise die Metaphysik des Klassenkampfs durch die der Geschlechterverhältnisse ausgetauscht würde. Er kritisiert sie auf dem gegenwärtigen Stand der Kritik, die ein feines Ohr hat für den Antisemitismus, der Links und Rechts, ´68er und deren Elterngeneration durchzieht. Die Politik der Linken entlarvt er als Geschwätz und als rationalisierte Verwirrtheit – aber eben auch als konterrevolutionär. Vom Anspruch radikaler Veränderung zu lassen, ist er weit entfernt. Den tradierten Politikformen der Linken hält er seinen Ich-Erzähler mit all seiner Ratlosigkeit entgegen, setzt ihn aber nicht absolut. Mit ihm flüchtet er nicht aus extremer und totaler Politisierung in den privatistischen und hedonistischen Eskapismus.

Sein Problem ist: Die Positionen, die er kennt, sind alle falsch. Er selber hat keine Position – aber nicht, weil er es grundsätzlich ablehnen würde, eine Position zu haben. Denn dass er keine hat, das nervt ihn auch. Sein Ich-Erzähler ist genervt davon, dass er in seiner Geschiche immer nur sich und seine Lust zur Schau stellte. Mit fast 40 Jahren geht ihm auf, „daß Lust eine Ausflucht ist, sich den Kampf für die eigentlichen Dinge zu sparen“. Was mögen die „eigentlichen Dinge“ sein? Vermutlich weiß er es selber nicht, denn sonst würde er nicht zu diesem Deckwort greifen, mit dem man kaschiert (und das von Heidegger bis zu den Antideutschen), dass man das ganz Tolle, das man entdeckt habe, inhaltlich nicht bestimmen kann. Aber am Grab seiner Mutter geht ihm auch auf, „daß Kampf nur zum Ziel haben kann, in dieser Welt die unbedingte Lust für alle zu erkämpfen“. Und das ist die prekäre Situation, in die wir in der Theorie derzeit stehen: Eine äußerst wackelige Balance von Partikulärem und Allgemeinem, Individuum und Gesellschaft, Lust und Politik. Wer den Mangel dieses ungeklärten Verhältnisses zum Vorzug erheben oder ihn einfach nur kaschieren wollte, der könnte es als „dialektisch“ bezeichnen.

Heute ist der letzte Tag vom Rest deines Lebens

„Manche meinen, man solle solle leben, als wär’s der letzte Tag / Das klingt nach Intensivstation, naja, wer so was mag“, singt Funny van Dannen in „Lunchpaket“ („Melody Star“, 2000). Das Ungebändigte und Sorglose, das in dem Motto und Titel von Ulli Lusts dicker autobiografischer Graphic Novel „Heute ist der letzte Tag vom Rest deines Lebens“ verlockend klingen soll, verkehrt sich schnell ins Gegenteil. Die Dialektik des anarchisch klingenden Mottos haben andere schnell erkannt: „Du kannst jeden Tag wie deinen letzten leben / Du musst nur jeden Tag das gleiche tun“ rappen K.I.Z. nur sieben Jahre nach Funny van Dannen in „Wenn es brennt“ („Hahnenkampf“, 2007).

Und davon ist die 16-jährige Punkerin Ulli nicht weit entfernt. Die lebt nämlich im Jahre 1984 allein mit ihrer Schwester in Wien und genießt das laisser faire und das fare niente mit ihrer Punk-Clique, die sich mit Schnorren so eben über Wasser hält. An der Schwelle zu ihrem 17. Geburtstag fährt sie mit ihrer Freundin Edi nach Italien. Sie trampen und gehen ein gutes Stück auch zu Fuß. Schnell merken sie, dass sie überall sofort zum besonderen Objekt der Begierde italienischer Männer werden. Was anfangs auch schmeicheln kann, amüsiert oder nervt schließlich und wird immer schlimmer, vor allem je weiter sie in den Süden fahren. Im Gegensatz zu Ulli hat deren nymphomane Freundin Edi kein Problem damit. In Rom erklärt der erfahrene Andreas es ihnen: Die Italiener seien alle „notgeil“, denn in ihrem Land regiere der Mythos der Jungfräulichkeit. Die Frau sei heilig, weswegen den Italienern das Sperma schon aus Augen, Ohren und Nasenlöchern herausquelle und sie sich auf die Touristinnen stüzten, „um billig einen Fick zu bekommen“. Die Graphic Novel wurde in den Feuilletons, für diese Darstellung der Belästigung mit Blicken, Gesten, Worten und Körpereinsatz zu recht gelobt. Arme und Hände wachsen aus den Augen und betatschen den Körper, aufdringliche Männer verwandeln sich in amöbenhafte Wesen, wenn sie Ulli umarmen und sich nicht abwimmeln lassen. Lust transformiert Ullis Gestalt unter den permanenten und massiven Grenzüberschreitungen. Symbolisch und physisch verändert sie sich unter der Gewalt, bis sie nur noch aus zitternden Linien besteht.

Schließlich wird Ulli von einem Bekannten vergewaltigt, der „Tiefpunkt“ von Ullis Reise, so meint die „Neue Zürcher Zeitung“ (15. November 2009). Nach ihrer Vergewaltigung, in die sie sich nach einem körperlichen Kampf schließlich fügte, steht sie dem Fakt des erlittenen Verbrechens gegenüber. Sie wirkt eher erstaunt, als wollte sie sagen: „Aha, so ist das also“. Lust spielt mit den Stereotypen, wie eine Frau sich nach einer Vergewaltigung verhalte, und Ulli kann mit diesem Verhalten und den dazu gehörigen Narrativen, die ihr vertraut sind, nichts anfangen: „Vergewaltigt. / Eigentlich sollte ich unter Schock stehen. / Traumatisiert sein oder so etwas.“ Frauen, die vergewaltigt wurden, so erinnert sie sich, müssten sich immerzu waschen, weil sie sich beschmutzt fühlten. Während sie darüber nachdenkt, steht sie auf dem Strand vor dem Meer. Sie bräuchte sich nur hineinzustürzen, stellt dann aber fest, dass sie „eine Stinkwut“ hat und die Klischees bei ihr nicht passen.

Das Feuilleton stürzt sich immer auf diese Vergewaltigung, dabei ist Ullis seelische und körperliche Verfassung erst gut 30 Seiten nach der Vergewaltigung vollkommen zerrüttet. Ruth Klüger empört sich in ihrer autobiografischen Schrift „weiter leben“ über die Art und Weise, wie Freunde und Bekannte in New York sie und ihre Geschlechtsgenossinnen wegen der Vergewaltigungsgefahr davor warnten, durch den Central Park zu gehen. „Mir mißfiel der schmatzend vertrauliche Ton, mit dem über den gefährdeten Status junger Mädchen geredet wurde […]. Diese Männer erörterten diese geschlechsspezifischen Gefahren mit einem gewissen Stolz auf den Überschuß an eigener Männlichkeit (,auch ich könnte …’,ich weiß, wie leicht…‘)“. Auch der (männliche) Rezensent in der „Jungle World“ partizipiert auf diese Weise an der Gewalt seiner weniger zimperlichen Geschlechtsgenossen, wenn auch ex negativo: „Längst fühlt man sich als männlicher Leser nicht mehr wohl in seiner Haut“ (20. Juni 2010), vermerkt er seine Gefühle zu Lusts Graphic Novel, noch bevor die Vergewaltigungsszene kam. Was ihn mit seinen vergewaltigenden Geschlechtsgenossen verbindet, das muss er wissen. Wer sich unbedingt „als Mann“ empfinden muss, der ist selbst schuld, so wie die, die sich unbedingt „als Deutsche“ empfinden müssen. Nur leider müssen nachher andere diese Dummheit ausbaden, wenn die Identität nicht nur postuliert, sondern auch erfahren werden soll.

Nach der Vergewaltigung ist Ullis gezeichnete Gestalt nur noch ein transparenter Umriss, weil Ulli sich unsichtbar machen möchte: Wenn kein Mann sie sieht, dann kann keiner sie belästigen. Nach der Vergewaltigung bleibt sie mit den beiden Männern zusammen, von denen einer sie schändete. Einige Tage später muss sie eines Morgens erkennen, dass in der Nacht zuvor ein ihr unbekannter Mann sich an ihr befriedigte. Sie ließ ihn resigniert gewähren, weil sie dachte, es wäre ihr Vergewaltiger-Freund. Man muss wie sie davon ausgehen, dass ihre Bekannten sie hinter ihrem Rücken für ein Abendessen an diesen Mann verkauft hatten. Und hier ist dann der Tiefpunkt erreicht. Zunächst brennt Ulli vor Wut und verbrennt (als Comic-Figur) dann nach und nach, bis nur noch ein zerstörtes Häufchen Mensch übrig ist, das um einiges schlimmer aussieht als die ,unsichtbare‘ Ulli nach der Vergewaltigung.

Das Feuilleton sieht den Tiefpunkt nach der Vergewaltigung, weil man ihn dort erwartet. Lust spielt aber mit genau dieser Sicht und konterkariert sie. Es handelt sich bei ihrer Geschichte um eine wütende, verächtliche Darstellung von Männern, die Frauen dafür verachten, dass sie ihnen geben, was sie verlangen, und gleichzeitig ist diese Graphic Novel eine äußerst differenzierte Darstellung des Verhältnisses einer jungen Frau zu Männern und zum Sex. Dies gilt sowohl für das Thema sexuelle Avancen/Belästigung wie auch für den Aspekt der Prostitution im wörtlichen wie im übertragenen Sinne. Und mancher Feministin dürfte Lusts Graphic Novel zu differenziert sein, denn die Grenzen verwischen ständig.

Der Punk, der sie gleich auf der ersten Seite fragt, ob sie ihn oral befriedigen würde (natürlich nicht in diesem Ton) und sein Ansinnen nach einer schlagfertigen Antwort schnell auf Masturbation (natürlich auch nicht in diesem Ton) reduziert, er wirkt noch lächerlich-harmlos, denn er sieht nicht so aus, als hätte er die Macht oder auch nur die Absicht, sein Begehren auch durchzusetzen. Und ein respektlos-schnoddriger Umgang mit Tabuthemen gehört in Punk-Kreisen ja zum guten Ton. Die Wiener Nazi-Skins, die Ulli und Edi am Bahnhof als „Fotzen“ anpöbeln und meinen, sie seien „doch sonst nicht so zimperlich“, sind allerdings gefährlich. Bei ihnen ist die Provokation nur sexuell formuliert, um zu erniedrigen. Doch geht es ihnen nicht um die Durchsetzung von Trieben, sondern nur um eine Ouvertüre für eine Schlägerei.

Bei einer ihrer ersten Reise-Stationen, im italienischen Pescara, genießt Ulli es noch, von vorbeifahrenden Männern angehupt zu werden. In Messina versucht sie, die permanente Belästigung durch stierende Blicke, Gesten und Worte einfach zu ignorieren. Das Gefühl der Bedrohung ist ihr anzusehen. In Cattania fühlt sie, wie Blicke ihren Körper am Hintern und an den Brüsten betatschen. Sie schaut nicht mehr auf, damit ihr aufrechter Blick nicht von jemand anderem aufgenommen und als Anlass genommen wird, sie anzusprechen. Absichtlich macht sie sich hässlich. Als sie in Palermo des Nachts alleine unterwegs ist, weiß sie sicher: „… und alle wollen mich ficken“.

Es gibt höfliche, aber eindeutige Anfragen, mit ihr schlafen zu wollen, wie von ihrem vorübergehenden Reisegefährten, dem asketischen Buddhisten Dieter („Wir könnten Sex haben“), ihrem Bekannten Carlos („It’s a pity that you want to sleep alone“) und ihrem besseren Bekannten Andreas, mit dem zusammen sie den Süden wieder verlässt („Hast du es mal im Zug getrieben?“).

Ulli kann aber nicht sicher sein, dass die Anfragen den verbalen Rahmen nicht verlassen. In Rom hat sie Ciccio als ihren Liebhaber für eine Nacht erwählt, doch akzeptiert er ihre eindeutigen ablehnenden Worte nicht, und die Situation droht in eine Vergewaltigung zu eskalieren. Aber auch ihr Bekannter Andreas hält sich nicht an die Grenze, die sie ihm eindeutig setzte. Jeden Morgen berührte er „die geheime Stelle, an der ich berührbar war“, und die wortlos bleibende visuelle Tropfen- und Wasser-Metaphorik legt nahe, dass er ihr erfolgreich Lust bereitete. Im Nachwort bekennt sie, dass er ihr die Masturbation beibrachte. Kann und soll sie ihm also dankbar sein für einen sexuellen Übergriff? Es gibt verschiedene Möglichkeiten, wie eine Frau mit dieser Aufdringlichkeit umgeht, so lange diese noch nicht zum Übergriff wird. Auch hier verschwimmen die Grenzen zwischen Selbstbewusstsein, Prostitution und Vergewaltigung.

In Wien ist die Triebabfuhr institutionalisiert. Ulli geht mit Edi in eine Bar mit Separée, wo sie die Bedürfnisse reichlich frustriert aussehender Männer finanziell benutzt.

Im norditalienischen Verona ist sie anfangs noch so naiv, die Einladung eines älteren Mannes zum Essen anzunehmen und danach zu sehr überrumpelt, als dass sie sich weigern könnte, ihn in einem dunklen Hausdurchgang zu masturbieren. Diesmal findet sie es ekelhaft und verheimlicht Edi, woher sie Essen und Geld hat. Beim nächsten Mal ist sie nicht sonderlich überrascht, als einer der Männer, die sie und Edi in ein Hotel einladen, zu ihr ins Bett kommt. Sie verübelt es ihm nicht, da sie ihn recht attraktiv findet, ist vom Sex mit ihm aber schnell gelangweilt und lässt es über sich ergehen. Bei der nächsten Gelegenheit ist sie bereits abgebrühter und bringt den Sex hinter sich, um ihre Ruhe zu haben sowie Kost und Logis zu ,erarbeiten‘ . Dieses Arrangement wiederholt sich. Rasch hat sich ein Muster konstituiert: Um etwas zu bekommen, gewähre ich Männern Sex. Dies bedeutet aber nicht immer Zwang und Überwindung: In Pescara sucht sie sich ihre „Schlafgelegenheit / sehr genau aus“. Ulli findet einen „traumhaft attraktiven Posterboy“. Und wenn sie hinzufügt, dass so einer wie er „sich in Österreich nie an meine Seite verirrt hätte“, gibt sie dann nicht zu, den sexuellen Notstand der italienischen Männer auszunutzen wie in der Gegenwart deutsche beleibte und unattraktive Frauen den materiellen Notstand junger schwarzer schlanker und attraktiver Einwanderer? Zunächst ist Ulli von ihrem „Latin Lover“ hingerissen, doch nach dem Sex desillusioniert.

Die Möglichkeit, sich nach der eigenen Neigung auszusuchen, wer einen aushält, ist aber nicht immer gegeben; auch nicht, dass die Regeln des gewaltfreien Tauschs – wenn er auch unter dem Zwang materieller Not vollzogen wird – eingehalten werden. In Neapel wird sie von ihrem ,Gastgeber‘ heimtückisch von Edi und Andreas isoliert, um sie sich auszuliefern, und in Messina werden sie und Dieter fast vergewaltigt, weil die sexuelle Gegenleistung für Kost und Logis äußerst energisch eingefordert wird. Ihr Vergewaltiger Guido ist der Freund von Massimo, der ihr – wie üblich – eine Übernachtungsmöglichkeit bietet. „Mit einem werde ich schlafen, dann habe ich meine Ruhe“, denkt Ulli sich, doch als sie sich nach dem Akt mit Massimo Guido verweigert, vergewaltigt dieser sie.

Warum bleibt sie dennoch bei den beiden? Aus Neigung? Aus Verliebtheit? Weil sie keine Wahl hat? Weil sie einen Beschützer braucht? Aus Ullis Sicht sehen wir, wie die Männer am Strand von Sizilien sie begaffen und wie sich dann sukzessive Guidos Gesicht dazwischenschiebt. Ein Vergewaltiger, ein Mann, der ihre Welt bestimmt, der ihren Gesichtskreis ausfüllt – aber eben auch jemand, der die anderen gierigen Männer ausblendet. Sie wird Guidos Freundin, und in ihren eigenen Worten wurde sie „wieder vom Objekt zum Subjekt“. Autonome Prostitution. Doch der Subjektstatus ist fragil. Zwar teilt Guido sie nicht mit Massimo, aber sie benötigt Massimos Schutz gegen Guido, der sie verprügeln (und/oder vergewaltigen?) will, weil sie zu viele Widerworte gibt. Edi praktiziert dies später auf höherem Niveau, wenn sie einem höheren Tier von der Mafia sexuell zur Verfügung steht, und dafür dessen Schutz genießt. Als Ulli mit einem Mann aus dem Kreis der Mafia ins Bett geht, ist sie zuerst aufgeregt und bereut ihre Entscheidung, doch dann fällt ihr sein schöner Penis auf und genießt sogar den Sex mit ihm. Aber ist es auch Prostitution, wenn sie sich zu den Straßenmalern Frankie und Heinz setzt, weil die Menschen dann mehr Geld für die Bilder geben? Hier lacht sie innerlich mit Genugtuung – und anscheinend ohne Bitternis – über „die geheime Macht der Frauen“.

Wann also prostituiert Ulli sich? Wann wird sie vergewaltigt und wann vergewaltigt sie sich selbst? Da sie sich nahezu immer in Abhängigkeit befindet, könnte man sagen, dass sie sich ,eigentlich immer‘ prostituiere; – so wie in den 1970er-Jahren die Ehe als permanente Prostitution kritisiert wurde. Ulli selbst empfindet es aber anders. Gesteht man (und frau) auch in diesem Fall der betroffenen Frau alle „Definitionsmacht“ zu?

Punkrock Heartland

War Punk jemals so attraktiv wie in „Punkrock Heartland“? Alle personae dramatis sind ungeheuer gut aussehend: Die Gesichter sind groß, kantig und flach, sind je nach Bedarf männlich, aufregend oder niedlich, die Münder sind groß und die Lippen voll, die Gesichtspartien stehen im perfekten Verhältnis zueinander. Die Körper sind groß und schlank, muskulös, alles ist knackig und fest, ihre Haut ist rein und unbehaart; an ihnen ist Kleidung, die all dies unterstreicht. Wie sich dies mit einem exzessiven Lebenswandel vereinbaren lässt, das bleibt das Geheimnis des Zeichners, auch, wie eine Frau, wenn sie mit dem dritten Kind schwanger ist, immer noch aussieht, wie eine Manga-Amazone.

Lirium erzält die mehr oder minder autobiografische Geschichte des Punks Bass zwischen 1993 und 2000, als Bass also 13 respektive 20 Jahre alt ist. Die Handlung ist geschickt verflochten, mit einigen Rückblenden, die sukzessive den Charakter der Protagonisten und ihr Verhalten auffächern. Bass ist schwul und verliebt in Zottel, der vier Jahre älter ist. Nach einem gemeinsamen Urlaub, der sich zunächst zum Liebestrip entwickelt und dann mit einer bitteren und schmerzhaften Enttäuschung für Bass endet, lässt dieser seinen Frust wenigstens am richtigen Ziel – am lokalen Nazi-Führer – ab, wofür er zwei Jahre Gefängnis bekommt. Dort lernt er den Russland-Deutschen Jannik kennen und lieben. Nach seiner Entlassung trifft Bass Zottel wieder, der inzwischen verheiratet ist und zwei Kinder hat; das dritte ist unterwegs. Die alte Leidenschaft flammt wieder auf, und so steht Bass zwischen Zottel und Jannik, der wenig später auch entlassen wird.

„Punkrock Heartland“ ist eine Liebesgeschichte, eine Szene-Geschichte und eine coming-of-age-Geschichte mit Tempo und Dynamik. Sie funktioniert rein immanent nur aus diesen drei Genrekategorien heraus. Die familiären Hintergründe, die in Aus- und Absteiger-Geschichten gerne thematisiert und als Grund für die Charakterentwicklung herangezogen werden, spielen fast gar keine Rolle. Die gesamte Geschichte wird den sozialen Beziehungen der Protagonisten und deren Dynamik untergeordnet. Die einzigen Verwandten, die auftauchen, sind Bass’ Mutter und Tante sowie Spikes Vater. Die Tante ist aber nur deshalb relevant, weil Bass zu ihr nach Frankreich geht und dort Zottel kennenlernt. Spikes Vater sieht man nur in den wenigen Szenen, in denen er von seinem Sohn abgeschlachtet wird. Warum? Man weiß es nicht genau. Lirium ist glücklicherweise ein guter Erzähler und kein Erklärer. Davon profitieren sowohl seine Charaktere wie auch seine Story. Er weiß nicht nur, wie man mit Andeutungen Bedeutung produziert, sondern auch, wie man seelische Zustände graphisch ausdrückt, in Handlungen, Bewegungen und Gesichtern. Lirium denkt visuell, ist ein richtiger Comic-Regisseur: Er setzt Einstellungen und deren Wechsel immer auf den Punkt genau richtig ein, kann Kontrapunkte setzen und die Tempi wechseln. „Mindestens zweimal lesen!“ steht auf einem Straßenschild, das inmitten des ,Familienbildes‘ auf dem Cover hervorragt – und das sollte man tatsächlich, weil sonst der erste Eindruck bestehen bleibt, dass hier jemand einfach nur seine Masturbationsfantasien in seiner Fetischkategorie (Punk + schwul) ausgebreitet und dann im passenden Nischenverlag publiziert hätte.

Diese Graphic Novel vereinigt das, was am Fantasma ,Mann’ äußerlich attraktiv ist, mit den seelischen Eigenschaften, die denen fehlen, dieses Phantasma in der Realität äußerlich erfüllen: Herzensbildung, Einfühlungsvermögen, Sensibilität und Hingabe. „Punkrock Heartland“ ist eine Wunschgeschichte, ein Idealbild – aber immerhin ein gelungenes und dabei eines, das seine Attraktion und Attraktivität nicht ausschließlich aus idealisierenden Bildern zieht, sondern aus einer funktionierenden Geschichte. Im Vergleich zu dieser Graphic Novel ist Büssers Büchlein verklemmt (was Büsser wahrscheinlich nicht leugnen würde) und im Vergleich zu Lusts umfangreicher Autobiografie hart und schnell

Titelbild

Martin Büsser: Der Junge von nebenan. Graphic Novel.
Verbrecher Verlag, Berlin 2009.
120 Seiten, 14,00 EUR.
ISBN-13: 9783940426406

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Titelbild

Ulli Lust: Heute ist der letzte Tag vom Rest deines Lebens.
avant-verlag, Berlin 2009.
463 Seiten, 29,95 EUR.
ISBN-13: 9783939080367

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Titelbild

Andi Lirium: Punkrock Heartland.
MännerschwarmSkript Verlag, Hamburg 2010.
174 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783939542926

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