Es muss nicht immer ein ‚turn‘ sein

Typen und Funktionen kodifizierender Publikationen in der Germanistik 1970-2010

Von Jörg SchönertRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jörg Schönert

Mit meinem Vortrag möchte ich dafür plädieren, dass der „sichere Gang einer Wissenschaft“ (im Sinne Immanuel Kants) zunächst einmal auf die prüfende Pflege von Kontinuität abgestellt sein sollte, auf das kontrollierte Behaupten und Bewahren des guten Alten zur munteren Wiederkehr in Kodifikationen des disziplinspezifischen Wissens. Zwar gilt: ganz ohne Moden und Konjunkturen geht die germanistische Chose nicht, aber nichts wäre schlimmer als von einem ‚turn‘ in den anderen zu stolpern und im Dauerrausch ‚revolutionärer Wissenschaft‘ zu schwindeln.

Mein Plädoyer für einen gehörigen Respekt vor ‚normaler (und darin „sicherer“) Wissenschaft‘ will ich in folgenden Schritten entwickeln: (1) Zunächst skizziere ich kurz den Gang der germanistischen Entwicklungen in den letzten vier Jahrzehnten; den Hauptakzent setze ich dabei für meinen Erfahrungsbereich der Neueren deutschen Literatur. (2) Im zweiten Schritt soll die Aneignung des disziplinär hochreputierlichen Begriffs der ‚Kodifikationen‘ für unsere sogenannte Aschenputtel-Wissenschaft erläutert werden. (3) Darauf folgt – in gebotener Kürze – ein Typenkatalog germanistischer Kodifikationsleistungen in historischer und aktueller Sicht. (4) Schließlich bedenke ich die Funktionen solcher Kodifikationsleistungen für die Wissenschaftsentwicklung – um auch dafür zu werben, dass in der Fachgeschichte der Germanistik die Praxisformen des wissenschaftlichen Geschehens einen wichtigen Forschungsgegenstand darstellen.

Teil 1

Im Titel meines heutigen Vortrags ist ein Erfahrungszeitraum von 1970 bis 2010 genannt; er entspricht mit der Jahreszahl von 1970 ungefähr meinem 1968 erfolgten Eintritt in die ‚akademischen Geschäfte der Germanistik‘. Für eine Phasenbildung zu disziplinären Entwicklungen der Germanistik arbeite ich lieber mit Zehnjahrsphasen, die ihren Beginn 1965 haben und ihr vorläufiges Ende mit der breiten Aufnahme des Bologna-Prozesses seit 2005 finden. Mit diesen Vorgaben will ich die jüngste Fachgeschichte für vier Zehnjahresschritte gliedern.

1.1 Reformphase von 1965 bis 1975

Der Zeitraum von 1965 bis 1975 gilt für die Geschichte der Hochschulen in der seinerzeitigen Bundesrepublik Deutschland und für die Fachgeschichte der geistes- und sozialwissen-schaftlichen Disziplinen als Phase intensiver Reformdiskussionen und folgenreicher Reformmaßnahmen. Diese Prozesse wären möglicherweise auch ohne die Protestbewegungen und Rebellionen, die mit der ‚Chiffre 1968‘ angesprochen sind, vollzogen worden. Im Zuge von ‚1968‘ wurden sie jedoch in entschiedener Weise im öffentlichen Bewusstsein profiliert, erörtert und institutionell beschleunigt. Die Reformpolitik führte in der Germanistik bis 1975 zu unterschiedlich weitgreifenden Fachentwicklungen in einem Spektrum von der Verteidigung des ‚guten Alten‘ bis hin zu radikal-reformistischen Umbaumaßnahmen in der Selbstdefinition des Faches, seinen Forschungsaktivitäten und Studienplänen.

1.2 Überlast- und Stagnationsphase von 1975 bis 1985

Aufs Ganze gesehen sind die Jahre nach 1975 in der Geschichte der Universitäten der Bundesrepublik und in der Fachgeschichte der Philologien durch eine markante Zäsur gekennzeichnet: Aus Finanzierungsgründen wird der zehn Jahre zuvor begonnene Ausbau der Universitäten beendet; wider allen zunächst abgegebenen Prognosen beginnt die Zeit der dauerhaften Überlastung der Hochschulen bei gleichzeitig einsetzenden Sparmaßnahmen. Die um 1970 in Gang gebrachte vehemente Methodendiskussion der Philologien wird aus dem Bereich der ‚Institution Universität‘ in den Bereich der Drittmittelförderung abgedrängt. Die Jahre nach 1975 sind durch eine weitgespannte koexistierende Vielfalt von Forschungsinteressen und Lehrprogrammen im disziplinären Rahmen der Germanistik bestimmt. Germanistik erscheint als eine ‚Disziplin im Wandel‘; ihr Zustand wird kommentiert in der Spannweite von Krisenbefunden („Wozu noch Germanistik?“) bis hin zur Modernisierungseuphorie (insbesondere im Hinblick auf den Ausbau zur Medien- sowie Kulturwissenschaft).

1.3 Krisenphase von 1985 bis 1995

Die in der Fachgeschichte nun folgenden ‚Krisenjahre‘ von 1985 bis 1995 haben kein politisches Vorzeichen; sie stehen im Zeichen einer ‚diffusen disziplinären Identität‘ der stark differenzierten Germanistik und der Unsicherheit über ihre Ausbildungsleistungen. So tritt im Laufe der 1980er Jahre an die Stelle der programmatischen Diskussionen (und Kämpfe) zur Neugestaltung des Faches der ‚Methodenpluralismus‘ mit der ihm zugeschriebenen Beliebigkeit des ‚anything goes‘. 1982 zeigte sich auf dem Germanistentag in Aachen mit seinem (an sich unverfänglichen) Thema „Literatur und Sprache im historischen Prozeß“ noch eine erhebliche Konkurrenz von Hermeneutik, Empirischer Literaturwissenschaft, spätmaterialistischen und ideologiekritischen Konzepten sowie ersten poststrukturalistischen und dekonstruktivistischen Ansätzen. Daraus entwickelte sich in der Folgezeit ein – vereinfacht formuliert – konzeptueller Grundkonflikt von ‚Logozentrik‘ gegen ‚wildes und spekulatives Denken‘.

Unter strategischem Aspekt stand ‚Rephilologisierung‘ gegen die entschiedene Ausweitung des Gegenstands- und Interessenbereiches; diese Ausweitung bezog sich zum einen über die ‚kanonisierte Literatur‘ hinausgehend auf die ‚gelesene Literatur’ (unter Einschluss der Text-Bild-Literatur der Comics) bis hin zur sogenannten Trivialliteratur, zum anderen auf die Öffnung der Philologien im Sinne einer Medien- und (weitergehend) einer Kulturwissenschaft. Jenseits der sogenannten Medienphilosophie und mancher Medientheorien waren die medienwissenschaftlichen Orientierungen zumeist eher vom semiotisch-soziologischen Szientismus, die kulturwissenschaftlichen mehr von der ‚Lust‘ am Aneignen neuer Gegenstände und am Entwerfen neuer Zusammenhänge bestimmt.

1.4 Stabilisierungsphase von 1995 bis 2005

Als Konsequenz aus den Erfahrungen der bislang beschriebenen Phasen vollzieht sich in der Fachgeschichte der Germanistik für eine 4. Phase seit 1995 die (an der weiter entwickelten) philologischen Tradition ausgerichtete Konsolidierung des Faches durch Kodifikationen des Grundlagenwissens in Einführungen, Lexika und Handbüchern; davon profitieren auch die bundesweit seit 2005 durchgeführten Umstellungen auf ein modularisiertes und gestuftes Studium nach dem BA / MA-Modell, von dem die jüngsten Fachentwicklungen in den letzten fünf Jahren ebenso bestimmt sind wie von den Orientierungen auf die unterschiedlichen Exzellenz-Programme.

Folgt man jedoch den vielen kritischen Stimmen in den Wissenschaftsfeuilletons und angelegentlichen Aperçus in germanistischen Rezensionen, so lässt sich den (in Verlagsprojekten und Studienordnungen sichtbaren) Konsolidierungen des akademischen Alltags auch ein germanistisches ‚showbiz‘ konfrontieren, das sich bei Podiumsdiskussionen, auf Tagungen oder in Anträgen zu Exzellenzprojekten entfaltet. So zieht etwa Kai Köhler in seiner Rezension zu Rainer Rosenbergs Großessay „Die deutschen Germanisten. Ein Versuch über den Habitus“ (2009) in der jüngsten Ausgabe von „literaturkritik.de“ (Mai 2010) eine bittere Bilanz: „Die ‚totalitären‘ Regimes des 20. Jahrhunderts haben – mal mehr, mal weniger gewollt – der Wissenschaft ein gewisses Maß an Eigenleben belassen. Erst der Markt des frühen 21. Jahrhunderts vernichtet wirklich totalitär die Wissenschaft, indem er methodisch die Anpassung an das jeweils neueste Neue erzwingt, indem er jeden einzelnen Wissenschaftler zum Verkäufer seiner selbst erniedrigt.“ Ein solcher Eindruck wird bestätigt in dem viel beachteten Bericht von Oliver Jungen in der FAZ zur Eröffnung des „Internationalen Kollegs Morphomata“ an der Universität zu Köln am 04. Dezember 2009; das Kolleg wurde im Rahmen der Exzellenzförderung des BMWF für Geisteswissenschaftler/innen eingerichtet und im Feuilleton als symptomatisch für die marktgängigen Kostümierungen des Altbekannten mit Hohn und Spott überschüttet.

Teil 2

Der hier einzubringende Begriff ‚Kodifikationen‘ legt zunächst den assoziativen Bezug auf ‚Kodex‘ nahe: im Sinne einer zielorientierten Sammlung von zu veröffentlichenden Aufzeichnungen oder bereits erfolgten Veröffentlichungen beziehungsweise einer Zusammenfassung von Regeln und Verhaltensweisen – etwa der Normen und Standards literaturwissenschaftlicher Professionalität. Zweck einer literaturwissenschaftlichen Kodifikation wäre es dann, die für den betreffenden Handlungsbereich geltenden Regeln dadurch besser verfügbar und verständlich zu machen, dass sie kompakt zusammengefasst und systematisch aufeinander bezogen werden.

Mit ‚Kodifikationen‘ will ich mich jedoch nur im Vorfeld solcher Regulierungen bewegen. Ich orientiere mich am Begriffsgebrauch in der Rechtsgeschichte und Rechtslehre und stelle der dort geübten Praxis des Bilanzierens und Ordnens das philologische prüfende und strukturierende Anlegen von erhaltenswertem Wissen in Kodifikationen zur Seite. Der umsichtige Gebrauch solcher gut aufbereiteter Wissensbestände sowie überzeugend explizierter Sachverhalte und Begriffe sollte dann auch zur Akzeptanz der disziplinären Regeln und Standards, zu erfolgreichen Aktionen in der ‚scientific community‘ führen.

Wie aber muss ein solches Wissen unter den genannten Zweckbestimmungen beschaffen sein? Ich orientiere mich an Überlegungen zu Kodifikationen, die in unserem wissenschaftsgeschichtlichen Projekt der DFG-Forschergruppe Narratologie von 2001 bis 2006 für eine elektronische Publikation im Portal des Interdiszplinären Centrums für Narratologie entwickelt wurden. Wilhelm Schernus hat sie in seinem Beitrag „Narratology in the Mirror of Codifying Texts“ für eine noch zu erwartende Veröffentlichung der Fludernik-Gruppe an der Universität Freiburg i.Br. weiter ausgearbeitet

Ich definiere also: In ‚kodifizierenden Publikationen‘ der Philologien werden disziplinspezifische Wissensbestände mit dem Anspruch auf ‚gründlich geprüft und weithin akzeptiert‘ ausgewiesen, das heißt die problematisierenden Diskussionen zum Gewinnen und Anwenden eines solchen Wissensbestandes gelten als überschaubar und abgeschlossen: das entsprechende Wissen wird weithin ‚entproblematisiert‘. Die Präsentation dieses Wissens wird so organisiert, dass seine Rezeption fachintern und gegebenenfalls auch über Fachgrenzen hinaus ohne Mühen zu vollziehen ist. Folgende wichtige Publikationstypen sind zu nennen: der kompakte bibliografische Katalog (die Literaturliste), das Handbuch in der übersichtlichen alphabetisch-lexikalischen oder in der systematischen Anordnung von Einzelbeiträgen (für den leicht zu erreichenden, ersten informierenden Zugang), die kommentierte Sammlung von ‚Mustertexten‘ zu einem bestimmten Thema oder Dokumentationsaspekt, das sachbezogen-zielorientierte Studien- oder Lehrbuch (für grundlegende Informationen), das bilanzierende Referat zu einem bestimmten Forschungsstand, der sogenannte Forschungsbericht für wissenschaftliche Zwecke im engeren Sinn.

Mit solchen Kodifikationsleistungen werden – in unterschiedlicher Intensität – aktuelle ‚Problem-Formulierungen‘ einer Disziplin auf mögliche ‚Problem-Lösungen‘ (vergleiche dazu die Diskussionen in „Scientia Poetica“ 2009ff.) aus dem ‚Gedächtnis der Fachgeschichte‘ bedient und somit ‚entproblematisiert‘ oder sie werden zu ‚entdramatisierten‘, also veränderten Formulierungen des zukünftig noch zu lösenden Problems geführt. Alle diese Aktionen erfolgen in der Regel in der ‚academia‘ und primär für akademische Adressatenkreise; die Möglichkeit ‚popularisierender Informationsleistungen‘ ist nachgeordnet.

Teil 3

Im 3. Teil meines Vortrags will ich mich mit der Skizze eines Typen-Spektrums kurz auf exemplarische Kodifikationen der Germanistik und insbesondere der germanistischen Literaturwissenschaft beziehen.

Ich erweitere die zuvor benannten Positionen noch um den Typus der kritischen und kommentierten Edition literarischer Texte als der traditionsreichen Kodifikationsleistung der Philologien. Im editorischen Vorgehen wird in der Regel allgemein anerkannten Normen der Disziplin gefolgt und im Kommentar entproblematisiertes Wissen zusammengefasst. Der Vortrag von Hans-Harald Müller für diese Ringvorlesung hat wichtige Informationen zum disziplinären Status und zur Leistungsgeschichte der germanistischen Editionsphilologie vom 19. Jahrhundert bis heute zusammengefasst sowie auf ihre „theoretische und methodische Diginität“ und ihre integrative Funktion für die ausdifferenzierten Arbeitsfelder der Philologien verwiesen (vergleiche auch Hans-Haralds Müllers Beitrag „Wissenschaftsgeschichte und neugermanistische Editionsphilologie“ in „editio“ 23, erschienen 2009). Wie in keinem anderen dieser Arbeitsfelder ist in der Editionsphilologie Fortschritt mit dem Kontinuitätsprinzip der Wissenschaftsentwicklung verbunden – mit dem Bewahren, Prüfen und Verfeinern von editorischen Regeln, so dass eigentlich jede kritische oder gar historisch-kritische Edition als Kodifikation für den jeweils aktuellen Leistungsstand der verantwortlichen Disziplin anzusehen ist. Das schließt nicht aus, dass auch in der Geschichte der Editionsphilologie Innovationen oder gar ‚Revolutionen‘ verzeichnet sind; sie haben jedoch nie zur totalen Negation von aktuell geltendem disziplinären Wissen und editionsphilologischen Standards geführt – wie sie etwa das methodologische Programm der Dekonstruktion für die Interpretation literarischer Texte beanspruchte. So lautete Hans-Harald Müllers Fazit für die „Editionstechnik“: „der gesamte Bereich […] ist kumulativ, hier gibt es Standards, hinter die es kein Zurück gibt.“ Kennzeichnend für die starke Tendenz zur kontinuierlichen Entwicklung in der Editionsphilologie ist die weiterführende Integration gut begründeter Innovationen und/oder neuer repräsentationstechnischer Möglichkeiten. So werden heute die vor 50 Jahren erschlossenen Verfahren zur faksimilierenden Repräsentation von Handschriften durch komplexe elektronische Wiedergaben ergänzt und vermutlich bald abgelöst. Und ob in Zukunft inhaltsbezogene Erläuterungen, der sogenannten Stellenkommentar, noch ausgedruckt werden sollen, wäre in Frage zu stellen zugunsten des Prinzips eines ständig zu korrigierenden und zu erweiternden Bestands an elektronischen Kommentardateien in einer der Edition zugeordneten Datenbank.

Ebenso wie wichtige Standards zu Verfahrensweisen in der Edition literarischer Texte im ausgehenden 19. Jahrhundert entwickelt wurden, hat in diesem Zeitraum in der Germanistik ein weiterer Kodifikationstyp sein Profil erhalten: der sogenannte Grundriß (oder Aufriß) zur Fachsystematik. Der Begriff wurde in metaphorischer Übertragung aus der Praxis des Architekturwesens gewonnen: Nur auf einem wohlbedachten Grundriss kann ein stabiles Gebäude entwickelt werden. Dieser Aufgabe unterzog sich Hermann Paul als Herausgeber in seinem „Grundriß der germanischen Philologie“, der zunächst in 2 Bänden von 1891 bis 1893 erschien. Die 2. Auflage, 1901 bis 1909 veröffentlicht, umfasste dann 4 Bände. Ein halbes Jahrhundert später erneuerte und aktualisierte Wolfgang Stammler die Kodifikationsleistung mit „Deutsche Philologie im Aufriß“, ebenfalls in 4 Bänden, die von 1952 bis 1959 erschienen (vergleiche als neuere, nunmehr kompaktere Publikation zum Beispiel den UTB-Band 2477 von Stefan Neuhaus „Grundriß der Literaturwissenschaft“ aus dem Jahr 2003).

Für weitere Prototypen verweise ich in diesem Bereich der Kodifikationen auf das germanistische Teilgebiet der Literaturwissenschaft; hier wird in der Regel der praxisbezogene Begriff des Handbuchs eingesetzt. Das prominente Beispiel ist vom Umfang her gesehen zugleich ein besonders monströses. Von 1923 bis 1934 erschien in der Herausgeberschaft von Oskar Walzel das „Handbuch der Literaturwissenschaft“ in 20 Bänden, wobei der 1. Band – mit dem Titel „Gehalt und Gestalt im Kunstwerk des Dichters“ – sozusagen den Aufriss für eine geistes- und stilgeschichtlich modernisierte Literaturwissenschaft bot. Zu Walzels Handbuch-Reihe wurde die aktualisierende Erneuerung wiederum nach gut 50 Jahren begonnen, aber erst 2002 abgeschlossen; die Rede ist vom „Neuen Handbuch der Literaturwissenschaft“, das Klaus von See als Herausgeber für 24 Bände begründete. Der furchteinflößende Umfang dieser Handbücher ist vor allem dadurch bestimmt, dass sie sich auch um die Kodifikation des literaturgeschichtlichen Geschehens in allen wichtigen europäischen Nationalkulturen bemühen.

Auf diese praktische Umsetzung der philologischen Arbeitsaufgabe ‚Literaturgeschichtsschreibung‘ verzichtet das jüngst erschienene „Handbuch Literaturwissenschaft“, das in der Herausgeberschaft des Germanisten Thomas Anz mit drei Bänden 2007 veröffentlicht wurde und Autoren aus den unterschiedlichen Nationalphilologien für die Einzelbeiträge versammelt – mit dem Ziel, einen umfassenden und systematisch ausdifferen-zierten ‚Aufriss‘ zu den Arbeitsfeldern und Verfahrensweisen im wissenschaftlichen Umgang mit Literatur in einer integrativen Zusammenschau zu erstellen.

Der Herausgeber Thomas Anz verweist in seinem Vorwort (Band 1, Seite IX) auf Entwicklungslinien in der jüngsten Geschichte der Literaturwissenschaft, wie ich sie für die Germanistik hier zum Eingang meines Vortrags herausgestellt hatte: „Seit gut einem Jahrzehnt ist in der Literaturwissenschaft ein deutlich zunehmendes Bemühen zu beobachten, das eigene Wissen in Form von Einführungen, Handbüchern, lexikalischen Großkompendien und analytischen Rekonstruktionen von Grundbegriffen zu stabilisieren.“ In der Zeit zuvor, in den Jahrzehnten von 1965 bis 1995, „war die Literaturwissenschaft geprägt von heftigen und zuweilen verbissen geführten Auseinandersetzungen um divergierende wissenschaftliche Positionen, von Abgrenzungskämpfen und Profilbildungen diverser Fraktionen im akademischen Kräftefeld.“ Für die neuen Bemühungen sei dagegen „kennzeichnend […] nicht die Disqualifizierung der jüngeren Geschichte des eigenen Faches als Geschichte rasch vorübergehender, eigentlich überflüssiger oder sogar schädlicher Moden, sondern die Rekonstruktion, womit diese ‚Moden‘ zur Modernisierung der Literaturwissenschaft beigetragen haben.“ Damit wäre für die Wissenschaftsentwicklung vom dominierenden Prinzip der Diskontinuität auf Kontinuität umgestellt worden, vom ausschließlichen Geltungsanspruch der Innovationen und Revolutionen auf den anerkennenden Einschluss von Kodifikationsleistungen.

Die prominenteste Position unter den disziplinspezifischen Kodifikationen nehmen Lexika ein. In der Literaturwissenschaft sind ihre wichtigsten Vertreter bekanntlich die Autoren-, Werk- und Sach- oder auch Begriffslexika, die sich durch ihr jeweiliges Erfassungsspektrum sowie die Anzahl und den Umfang ihrer Einträge und Artikel unterscheiden. Sie werden heute zumeist als Gemeinschaftswerke produziert und die Beiträge mit Verfassernamen ausgewiesen. Im Arbeitsgebiet der Literaturwissenschaft ist das „Reallexikon“ ein Leuchtturm – zumal in seiner jüngsten, der 3., „von Grund auf neu erarbeiteten“ Auflage. Das Titelelement „Real“ soll nicht auf ein empirisch gesättigtes Vorgehen verweisen, sondern auf „Realien“, auf Sachen und Begriffe. Die Herausgeber Paul Merker und Wolfgang Stammler begründeten in den 1920er-Jahren etwa zeitgleich zu Walzels „Handbuch der Literaturwissenschaft“ das „Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte“; seine fünf Bände erschienen von 1926 bis 1931. Auch für das „Reallexikon“ wurde nach 1945 eine Neu-Bearbeitung vorgesehen; sie erstreckte sich für die einzelnen Bände über den langen Zeitraum von 1958 bis 1984 und führte trotz mancher Verbesserungen und vieler Erweiterungen zu einem wenig befriedigenden Ergebnis. In einem vergleichsweise kurzen Zeitraum – von 1997 bis 2003 – erschienen die drei vorzüglichen Bände der 3. Auflage unter dem veränderten Titel „Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft“, der eigentlich „Reallexikon der germanistischen Literaturwissenschaft“ heißen müsste oder „Reallexikon der deutschsprachigen Literaturwissenschaft“. Begründet wurde das neue kodifizierende Konzept für die Ausarbeitung der einzelnen Beiträge durch die germanistischen Herausgeber Harald Fricke, Klaus Grubmüller, Jan-Dirk Müller und Klaus Weimar; für die Arbeit am 2. und 3. Band wurde die Herausgebergruppe um Georg Braungart und Friedrich Vollhardt ergänzt. Der Kodifizierungsprozess ist in der Selbstkennzeichnung des Lexikons deutlich herausgestellt: Die wichtigen Sachbegriffe der literaturwissenschaftlichen Praxis sollen in den Artikeln nach einem wiederkehrenden Schema der Betrachtungs- und Darstellungsweise (ihrer Bedeutung gemäß) in unterschiedlichen Umfängen mit Bezug auf die Wort- und Begriffsgeschichte expliziert und präzisiert sowie mit Bezug auf die Sach- und Forschungsgeschichte erörtert werden – mit dem Ziel einer überzeugenden Einordnung in das terminologische System der Literaturwissenschaft und zugunsten einer besser kontrollierbaren terminologischen Praxis. Der hier gewonnene, deutlich sichtbare ‚disziplinäre Fortschritt‘ verdankt sich der ständigen Zusammenarbeit der Herausgeber, die jeden der etwa 900 Artikel miteinander diskutierten, und ihrer vielfach intensiven Kommunikation mit den Autoren der Artikel. Eine Kodifikationsleistung dieses Zuschnitts ist angesichts der weit ausdifferenzierten Praxis der Literaturwissenschaft nur noch in einem gemeinschaftlichen Vorgehen zu erreichen.

Am Kodifizierungskonzept des „Reallexikons“ orientiert sich auch das spezialisierende einbändige (alphabetisch geordnete) „Handbook of Narratology“, das – herausgegeben von Peter Hühn und anderen – 2009 in der Reihe ‚Narratologia‘ erschien. Es folgt nicht dem Lexikon-Typus, sondern hat eher den Zuschnitt dessen, was in angelsächsischen Publikationen als „Companion“ bezeichnet wird. Die rund 30 ausführlicheren Artikel konzentrieren sich auf die Schlüsselbegriffe im aktuellen Stand der internationalen narratologischen Diskussionen. Alle Beiträge werden mit einem Abschnitt zu „Topics for further investigation“ abgeschlossen. Damit soll der zeit- und positionsgebundene Charakter von Kodifikationen signalisiert werden: in veränderten Forschungskonstellationen können sie mit veränderter Inhalten und in veränderter Zusammenstellung vollzogen werden. Diesem Umstand soll auch dadurch Rechnung getragen werden, dass die Print-Edition des Handbuchs zum 1. Juli 2010 im World Wide Web in ‚open access‘ als „Living Handbook of Narratology“ präsentiert wird und mit Hilfe der Wiki-Technik registrierte Benutzer Bearbeitungs- und Ergänzungsvorschläge formulieren können. Die Autoren der Artikel werden ihre Texte in bestimmten Zeitabständen überarbeiten; der Gesamtbestand der Artikel kann jederzeit durch neue Beiträge ergänzt werden. Der für die Print-Edition zuständige Verlag de Gruyter entscheidet, wann im Hinblick auf die Entwicklung des „Living Handbook“ ein bearbeiteter und erweiterter Neudruck erscheinen soll.

Dass Publikationen mit Titeln wie Einführung in die Literaturwissenschaft und Untertiteln wie ein Studienbuch, ein Arbeitsbuch, ein Grundkurs, ein Basismodul in der Regel das Ergebnis von Kodifikationsleistungen mit didaktischer Orientierung sind (und dass sie bei Neuauflagen nach längeren Zeiträumen in diesem Status überarbeitet werden), wird von den Autoren zumeist nicht eigens ausgewiesen. Seit gut 40 Jahren ist dieser Publikationstyp für das Studium der Germanistik an deutschsprachigen Universitäten eingeführt und konkurriert in zahlreichen unterschiedlichen Ausarbeitungen. Einige der ersten Studienbücher dieser Art waren allerdings auch mit deutlich innovativen Ansprüchen verbunden und wollten zu Veränderungen in der systematischen Organisation der Disziplin – wie etwa in ihrem Gegenstandsbereich – und in der Reflektiertheit ihrer Praxis sowie in ihrer Studienorganisation führen. Diese Ziele wurden in der Folgezeit zumeist verwirklicht, so dass sich in den letzten zwei Jahrzehnten mit Studienbüchern dieser Art nur in Ausnahmefällen innovative Absichten verbinden.

Ein solcher Befund gilt auch für einen ‚steady seller‘ der Studienbücher, der in seinen letzten Auflagen von seinem Verlag als ein „Standardwerk“ gepriesen wird: Dieter Gutzen und andere hatten erstmals 1976 ihre „Einführung in die neuere deutsche Literaturwissenschaft. Ein Arbeitsbuch“ publiziert. In den jüngeren Bearbeitungen wird es herausgegeben von Jürgen Petersen und Martina Wagner-Eglhaaf; die vorerst letzte – und nunmehr 8. Auflage – erschien 2009. Die Kodifikation von disziplinärem Wissen verfolgte das Arbeitsbuch nach einem Konzept, das sich nicht nur in dieser Publikation bis heute weithin erhalten hat: einzuführen war in die Analyse literarischer Texte und in Methoden der „Literaturbetrachtung“ – mit dem Ziel, solche Texte in wissenschaftlicher Weise unter reflektierter Anwendung eines methodischen Vorgehens zu erschließen. Drei Arbeitsfelder der Literaturwissenschaft wurden vorgestellt: als erstes Arbeitsfeld (1) Textinterpretation – zunächst in methodologisch unabhängigen Verfahrensweisen, aber nach Gattungen differenziert; dann doch methodologisch spezifiziert im Hinblick auf den Teilaspekt der Stilanalyse und ‚global‘ auf die sogenannte werkimmanente Methode; als zweites Arbeitsfeld – abgekoppelt von der leitenden Vorgabe ‚Textanalyse‘ – (2) die Theorie und Praxis der Edition und als drittes Arbeitsfeld (3) ‚Methodologie‘ nach dem Verfahren der sogenannten Methodenrevue. Das Defilé der Methoden wurde in den Folge-Auflagen gemäß den aktuellen Entwicklungen bearbeitet und ergänzt. Keinen Platz in diesem Arbeitsbuch erhielten – im Gegensatz zu konkurrierenden Publikationen – Aspekte der Theorie des Gegenstandes (‚Was ist Literatur?‘) sowie der Ziel- und Funktionsbestimmungen für die wissenschaftliche Praxis (‚Was will Literaturwissenschaft?‘). In den nächstfolgenden Auflagen – nach acht Jahren (1984) erschien bereits die 5. Auflage – wurde am Arbeitsbuch konzeptionell kaum etwas verändert, jedoch wurden inhaltliche Details und Begriffe präzisiert sowie Neufassungen für die Beschreibung einzelner Methoden erstellt.

Konkurrierende Publikationen weichen unter verschiedenen Aspekten von dem sich so bezeichnenden ‚Standardwerk‘ ab – etwa durch systematisch angelegte Informationen zu den Inventaren für Textproduktion und Textbeschreibung in Metrik, Rhetorik und historischer Poetik beziehungsweise Ästhetik sowie in der reflektierten Auseinandersetzung mit Schlüsselbegriffen wie ‚Autor‘ oder ‚Literarischer Kanon‘ und mit literaturbezogenen Institutionen. In einzelnen Fällen wird die Vermittlung von disziplinspezifischen Begriffen und Verfahrensweisen ergänzt durch Abrisse zum literaturgeschichtlichem Prozess und der Kennzeichnung seiner Epochen.

Studienbücher werden auch als Einführungen in Teilgebiete der Literaturwissenschaft konzipiert – insbesondere für ‚Literaturinterpretation‘ oder ‚Methodologie und Literaturtheorie‘ (gegebenenfalls auch in „Theorie und Praxis der Edition“ oder „Theorie und Praxis der Literaturkritik“); gut gelungen ist die Einführung von Tilman Köppe und Simone Winko in „neuere Literaturtheorien“, erschienen 2008.

In den 1970er-Jahren erfreuten sich die sogenannten Reader als Sammlungen von wichtigen Texten für Arbeitsgebiete der Literaturwissenschaft erheblicher Beliebtheit – insbesondere zur Veranschaulichung bestimmter Methoden, aber auch im Sinne von musterhaften Textinterpretationen. Diese kanonisierenden Kompilationen waren als Vorstufe zur kodifizierenden Auswertung (gegebenenfalls vorbereitet durch Kommentartexte) anzusehen; sie sind mittlerweile weithin vom Buchmarkt verschwunden und können heutzutage durch digitale Zusammenstellungen problemlos ersetzt werden; in Studienprogrammen der angelsächsischen Ausbildung für die Philologien haben dagegen solche Zusammenstellungen als „Anthologien“ einen festen Stellenwert.

Ein groß dimensionierter Sektor im Angebot literaturwissenschaftlicher Publikationen der hiesigen Germanistik gilt dagegen kodifizierenden Handbüchern zu Autoren – etwa zu Lessing, Goethe oder Thomas Mann – und sogenannten Arbeitsbüchern zur Einführung in das wissenschaftliche Erschließen des Werkzusammenhangs eines Autors – der Prototyp dieser Kodifikationen ist „Lessing: Epoche, Werk, Wirkung. Ein Arbeitsbuch für den literatur-geschichtlichen Unterricht“, das Wilfried Barner zusammen mit anderen Germanisten 1975 in der 1. Auflage herausgegeben hatte.

Als Reihe für kodifizierende Darstellungen insbesondere zu Epochen, Gattungen, Autoren und Inventaren wissenschaftlichen Arbeitens wurden die „Realienbücher für Germanisten. Sammlung Metzler“ im Jahr 1969 mit verschiedenen Abteilungen begründet; als erster Band erschien von Paul Raabe „Einführung in die Bücherkunde zur deutschen Literaturwissenschaft“ (Sammlung Metzler M1). Realien sind hier als Propädeutika und Hilfsmittel für das wissenschaftliche Arbeiten zu verstehen. Auch außerhalb der ständig wachsenden Sammlung Metzler findet sich ein reiches Angebot von Verlagsproduktionen dieser Art, auf das ich hier nicht im Einzelnen eingehen kann.

Stattdessen soll abschließend zu meiner Musterung des Typenspektrums von Kodifikationen eine Vorgehensweise angesprochen werden, die einen Grenzbereich zwischen der Bestandsaufnahme von bereits erreichten Forschungsergebnissen und zukünftig notwendigen Unternehmungen erschließt. Der Göttinger Germanist Albrecht Schöne begründete 1974 die Reihe der (in der Regel) alljährlich von der DFG geförderten Germanistischen Symposien; sie wurden zudem bis 1989 von der DFG-Senatskommission für Germanistische Forschung betreut. Als die Tätigkeit der Kommission endete, trat Wilfried Barner in die Funktion eines ‚spiritus rector‘ für die weiterzuführenden Germanistischen Symposien ein. Sie folgten dem Verfahren, dass ein Wissenschaftler oder eine Wissenschaftlerin dazu aufgefordert wurde, für eine viertägige Konferenz ein Thema vorzuschlagen, das sich auf ein aktuelles Forschungsgebiet bezog, dem in den vorausgegangenen Jahren besondere Aufmerksamkeit gegolten hatte. Dieses Thema sollte unter mehreren Aspekten auf der Basis von vorab eingereichten Referaten von den etwa 25 bis 30 Teilnehmern des Symposiums so diskutiert werden, das sowohl zu sichernde Forschungsergebnisse als auch weiterhin offene Fragen deutlich wurden. Die Referate und die Resultate der ausführlichen Diskussionen wurden in sogenannten ‚Berichtsbänden‘ dokumentiert. Diese Bände vermittelten also zum einen im Sinne von Kodifikationsleistungen geprüfte und weithin akzeptierte Verfahrensweisen sowie Wissensbestände zu einem Themenkomplex, zum anderen einen Aufriss von noch zu lösenden Problemen und möglichen Forschungsplanungen. Die dafür kennzeichnende Formulierung des Titels für den Berichtsband zu einem solchen Symposion findet sich z.B. bei „Autorschaft. Positionen und Revisionen“, 2002 herausgegeben von Heinrich Detering.

Nach dem Muster dieser Germanistischen Symposien, aber unabhängig von der DFG veranstalten und projektieren seit dem Jahr 2001 Simone Winko, Fotis Jannidis, Gerhard Lauer und Matias Martinez Tagungen zu „Grundbegriffen der Literaturtheorie“, deren Ergebnisse für die Buchreihe „Revisionen“ im Verlag de Gruyter genutzt werden sollen. Der 1. Band dieser zunächst auf acht Bände angelegten Reihe („Regeln der Bedeutung“) erschien 2003 zum Problembereich der theoretischen Begründungen für ‚Textbedeutung und Bedeutungszuschreibungen’ für literarische Texte in der Praxis der literaturwissenschaftlichen Interpretation. Das programmatische Schlagwort der „Revision“ verweist auf ein Konzept von Wissenschaftsentwicklung, in dem – anders als bei Revolutionen – vor allem das Kontinuitätsprinzip gelten soll. Kontinuität heißt dann aber nicht bedingungsloser Anschluss an Traditionen, sondern – nach eingehender Prüfung – Bewahren des zu Erhaltenden und Planen des zukünftig zu Erschließenden.

Anspruchsvolle Kodifikationen setzen also Revisionen voraus, doch geben sie in der Regel der Forschungsplanung keinen oder nur wenig Raum. Der 1. Band der Reihe „Revisionen“ zielt dagegen weniger auf Kodifikation zur Bedeutungs- und Interpretationstheorie; die dort dokumentierten Vorträge und Diskussionen problematisieren in ihrem wechselseitigen Bezug vielmehr die dem Leitthema zugehörigen Wissenspositionen; „Grundbegriffe der Literaturtheorie“ werden verhandelt, aber nicht im Sinne einer entproblematisierten terminologischen Grundlegung, sondern zum Verdeutlichen ihres Problempotentials.

Wie auch immer: ich zweifle grundsätzlich daran, dass es gelingen könnte, für die literaturwissenschaftlichen Praxisbereiche der Textinterpretation und der Literaturgeschichtsschreibung – hinausgehend über die Verständigung zu nützlichen Verfahrensweisen – in Hinsicht auf die dort darzustellenden Ergebnisse Kodifikationsleistungen anzustreben, da Bedeutungszuschreibungen und literaturgeschichtliche Konstruktionen von spezifischen Interessen, Auswahlentscheidungen und Kontextbildungen abhängig sind. Eine solche Behauptung zu begründen, wäre allerdings die Vorgabe zu einem weiteren Vortrag.

Teil 4

Für den 4. Teil meines Vortrags brauche ich zunächst nur noch zusammenzufassen, was ich in Teil 3 im Hinblick auf das oft gering geschätzte Prinzip von Kontinuität in der Wissenschaftsentwicklung erläutert habe. Innovationen und Revolutionen sind notwendige Faktoren für den Fortgang von Entwicklungen; der Auftrag zum Prüfen, kritischen Bewahren und gezielten Ergänzen von bereits Erreichtem muss jedoch ebenso formuliert und erfüllt werden. Das breite Spektrum von Typen kodifizierender Publikation, das ich hier skizziert habe, verweist darauf, dass ein solcher Auftrag durchaus die Praxis des akademischen Alltags bestimmt, vielfach kooperatives Vorgehen fordert und fördert, also die Kompetenz ‚Teamfähigkeit‘ stärkt. Dabei werden allerdings nicht die Öffentlichkeitswirkungen von wissenschaftlichen Innovationen oder gar Revolutionen erreicht, die in den Geisteswissenschaften zumeist auch der sogenannten Individualforschung zugeschrieben werden. Auf die Probleme dieser vermeintlichen Alternativentscheidung zwischen kooperativer Wissenschaftspraxis und Individualforschung kann ich hier nicht eingehen. Ich beschließe mein Plädoyer, dem Kontinuitätsprinzip in der Wissenschaftsentwicklung mehr Beachtung zu schenken, mit einer Reminiszenz zu wissenschaftspolitischen Konstellationen. Als in den frühen 1990er-Jahren dem seinerzeitigen Berliner „Zentrum für Literaturforschung“ als einer der Nachfolge-Institutionen der ehemaligen Ostberliner Akademie der Wissenschaften ein zentraler Aufgabenbereich zugewiesen werden sollte, hatte ich vorgeschlagen, dort ein Programm der kontinuierlichen Beobachtung von Entwicklungen in der Literaturwissenschaft mit Unternehmungen zu Bilanzierungen, Revisionen und Projekten für notwendige Anschlussforschungen vorzusehen. Dieser Vorschlag fand keine Gegenliebe (wohl auch aus Besorgnis einer Nähe zu ‚Aufsichtsbehörden‘ der DDR-Prägung). Ob das heutige Erscheinungsbild des nunmehrigen „Zentrums für Literatur- und Kulturforschung“ als Wiese, auf der kunterbunte Projekt-Blumen blühen, die bessere Lösung war, bliebe zu prüfen.

Wo es gilt, fachgeschichtliche Forschungsprojekte zu entwerfen und zu betreiben, sollten – so meine ich – die bislang verfolgten Untersuchungsinteressen für wissenschaftliche Programme und Konzepte, für die sie tragenden Personen und Institutionen, für signifikante Ereignisse im Wissenschaftsgeschehen auch auf Konstellationen und Entwicklungen für die einer Disziplin eigenen Praxisformen (in Forschung, Lehre und Transfer der akademischen Ausbildung in die Berufspraxis) aktiviert werden. Für den Bereich der Literaturwissenschaft können solche Fragen in einem umfangreichen „Praxeologie“-Projekt formuliert und beantwortet werden, das Lutz Danneberg, Michael Kämper van den Boogart, Steffen Martus, Stephan Porombka, Carlos Spoerhase und ich in den kommenden Jahren als Gesamtentwurf für die Praxis der literaturwissenschaftlichen Forschung, der literaturwissenschaftlichen Ausbildung und den Transfer von literaturwissenschaftlichem Wissen aus der Universität in Berufsbereiche (sowie für Einzelaspekte) erarbeiten wollen. Erste Hinweise dazu haben 2009 Steffen Martus und Carlos Spoerhase mit ihrem Beitrag „Praxeologie der Literaturwissenschaft“ in der Zeitschrift „Geschichte der Germanistik. Mitteilungen“ (Band 35/36) gegeben. In Erkundung und Reflexion des akademischen Alltags der Literaturwissenschaft sei unter anderem zu fragen nach den „Wissensordnungen“, nach „der Validierung und Darstellung von Wissensansprüchen, die den literaturwissenschaftlichen Disziplinen ihr spezifisches Gepräge verleihen“ (Seite 89). Entscheidende Antworten auf diese Frage – das sollte mein Vortrag zeigen – sind aus dem wichtigen Publikations- und Anwendungsbereich der Kodifikationen zu gewinnen.

Anmerkung der Redaktion: Der Beitrag ist die gekürzte Fassung des Vortrags am 09. Juni 2010 in der Ringvorlesung „,Die ewige Wiederkehr des Neuen’? Zur Wissenschaftsgeschichte der Germanistik“ an der Universität Göttingen (SoSe 2010).