Die tiefste Erniedrigung

Stig Dagerman schildert eine „schwedische Hochzeitsnacht“, doch der deutsche Titel führt ein wenig in die Irre

Von Volker HeigenmooserRSS-Newsfeed neuer Artikel von Volker Heigenmooser

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In Deutschland ist er einem größeren Publikum durch die beeindruckenden Reportagen seiner Reise ins vom Krieg zerstörte Deutschland 1945 bekannt geworden, die den Titel „Deutscher Herbst“ tragen: Die Rede ist von Stig Dagerman, der als Stig Halvad Andersson am 5. Oktober 1923 in Älvkarleby in Schweden geboren wurde. Aufgewachsen in einer vermeintlich ländlichen Idylle, die Abschied nehmen musste von der traditionellen Landwirtschaft, weil auch dort das neue technische Zeitalter Einzug hielt, machte Dagerman sein Abitur 1942 in Stockholm. Schon während seiner Schulzeit war er erst gelegentlicher Mitarbeiter der Tageszeitung „Arbetaren“, des Zentralorgans der schwedischen Syndikalisten. Im syndikalistischen Jugendverband war Stig Dagerman an führender Stelle engagiert. 1945 debütierte er als Romancier mit dem Text „Die Schlange“, dem bis 1949 noch drei weitere Bücher folgten, „Die Insel der Verdammten“, „Gebranntes Kind“, und „Schwedische Hochzeitsnacht“. Außerdem schrieb er in dieser Zeit eine Novellensammlung mit dem Titel „Spiele der Nacht“, vier Dramen und das schon erwähnte Reportagebuch „Deutscher Herbst“.

Am 3. November 1954 starb Dagerman von eigener Hand. Nun ist Dagermans letzter Roman unter dem immer noch unglücklichen Titel „Schwedische Hochzeitsnacht“ neu in der Anderen Bibliothek des Eichborn Verlags herausgekommen. Der schwedische Originaltitel des Romans von Stig Dagerman lautet Bröllopsbesvär, was übersetzt heißen könnte: „Eine Hochzeit mit Schwierigkeiten“. Tatsächlich hat der Limes Verlag, in dem das Buch 1965 zum ersten Mal auf Deutsch erschien, wohl ganz bewusst den frivol anmutenden Titel „Schwedische Hochzeitsnacht“ gewählt. Ein Missverständnis für denjenigen, der auf angeblich typische skandinavische freizügige Libertinage spekuliert. Es geht zwar derb zu in diesem modernistischen Roman, doch anders als es der Leser, der bestimmte Stellen sucht, erwartet.

Stig Dagerman beschreibt, nein, er taucht hinein in eine Hochzeit auf dem Land. Die Braut Hildur heiratet aus Vernunftgründen den Schlachter Westlund, einen Mann, der für dörfliche Verhältnisse etwas darstellt. Allerdings ist er ein Gescheiterter, der auf der Suche nach materiellem Glück in die USA ausgewandert war und glücklos zurückgekommen ist. Hildur liebt einen anderen, der nur als Schatten auftaucht. Sie lebt in einem Kleinbauernhaushalt, in dem längst vieles aus dem Lot geraten ist. Der Vater lebt zurückgezogen in der ersten Etage des Anwesens, die Schwester hat ein uneheliches Kind, die Knechte und Mägde sind auf der Suche nach bescheidenem Glück, das oft nur aus flüchtigen Liebschaften besteht, die jedoch nicht immer ohne Folgen bleiben. In dieser ländlichen Gegend gibt es viel, nur eines ganz bestimmt nicht: Idylle. Als die Braut Hildur zu ihrem Vater hinaufsteigt, um ihn zu überreden, zur Hochzeit zu kommen, wird deutlich, dass in dieser Gegend Emotionen selten sind: „Hier herauf kommt niemand und weint. Hierherauf kommt man nur und sagt: Jetzt wird das und das getan. Und ein Abfalleimer kommt herauf und hinunter. Und eine Schüssel wird auf den Tisch geschleudert. Aber nie ist jemand hier, der weint. Er hat wohl vergessen, was man mit einem Menschen tut, der weint.“

Der Bräutigam sitzt währenddessen in seinem lächerlich überdimensionierten Kontor und lädt den kleineren Schlachterkonkurrenten zu seiner Hochzeit ein. Sie begießen das bevorstehende Ereignis und Westlund möchte zeigen, dass er auch nach acht Schnäpsen noch in der Lage ist, gerade zu gehen. Die Hochzeitsvorbereitungen geraten hier wie dort zur Groteske. Die Hochzeit selbst beschreibt Dagerman nur skizzenhaft als den Einzug in die Kirche: „Das Pfarrhaus hat eine Weißdornhecke, es hat eine Pforte aus Eisen. Hildur schiebt sich langsam auf, sie quietscht, alle sind still. Das Pfarrhaus hat einen Kiesweg, Hildur geht ihn als Erste, als ob sie allein sei, der Hund schaut aus der Hundehütte. Westlund holt sie ein.“

Damit endet der erste Teil des Romans. Er setzt erst wieder ein, als die Hochzeitsfeierlichkeiten schon weit fortgeschritten sind. Und das heißt vor allem: fast alle sind schwer betrunken. Nach mehr oder weniger wüsten Ereignissen, vom Pokerspiel, bei dem der Bräutigam bis auf die Unterhose alles verliert, auch die Eheringe, über Verführungen, Erzählungen von Landstreichern, die in der Scheune übernachten, Autorennen und anderen Dummheiten bis hin zum Selbstmord des Geliebten der Braut sinkt die Hochzeitsgesellschaft in den Schlaf. Da tritt am Schluss der Erzähler auf und stellt seine Fragen. „Irgendetwas bewegt uns, die größte Erniedrigung der kleineren vorzuziehen. Aber dieses Nachuntensinken ist nur eine Etappe, eine Station auf dem Wege. Das am meisten zu beachtende Phänomen ist das steigende Verlangen, die totale Niederlage zu suchen, die vollständige Invalidität, die tiefste Erniedrigung.“ Diese Erkenntnis ist zutiefst pessimistisch, der Erzähler resigniert mit einer verzweifelt-zynischen Feststellung: „Ich glaube, Erlösung ist der Prozess, der es uns plötzlich ertragen lässt, dass dieses Leben sinnlos, leer, kalt und gleichgültig ist, in sich selbst ein Nichts.“

Stig Dagerman hat seinen furiosen Roman über eine schwedische Hochzeit fast wie ein Drehbuch geschrieben. Mit harten Schnitten und ständigem Perspektivwechsel beschreibt er auf bis dahin ungekannte Weise von der Härte des Lebens in der modernen Gesellschaft – das ist großartige Literatur.

Man könnte dankbar sein, dass dieses im deutschsprachigen Raum lange verschollene Buch in der Anderen Bibliothek im Eichborn Verlag wieder zugänglich ist. Doch leider hat sich der Verlag nicht dazu durchringen können, eine dringend notwendige Neuübersetzung in Auftrag zu geben. Denn die Übersetzung von Herbert Hegedo aus den 1960er-Jahren ist skandalös schlecht. Sie trifft den schlichten Ton mit dialektalen Einschüben des Originals an keiner Stelle, sondern überhöht ihn im Deutschen, indem fast kein Skandinavismus ausgelassen wird. Abgesehen davon unterlaufen diesem Übersetzer haarsträubende Fehler. So weiß er nicht, dass solros keine „Sonnenrose“, sondern eine Sonnenblume ist, oder dass man zwar Achselschweiß, aber keinen Armschweiß („armsvett“) haben kann, sondern fällt auf jeden „falschen Freund“ herein, dem er begegnet. Wenn er ein Wort nicht kennt, wählt er ganz offensichtlich immer die erste im Wörterbuch aufgeführte Bedeutung. So wird aus brygga bei ihm eine Brücke, wo ein Steg gemeint ist. Ein Knecht „kriecht aus den Hosen“, tatsächlich müsste es heißen „schlüpft aus der Hose“. Er erkennt nicht, dass man einen Begriff, der im Schwedischen mit Bedacht immer der Gleiche ist, auch im Deutschen jeweils gleich übersetzen müsste, er erkennt Eigennamen von Orten nicht, sondern übersetzt sie und merkt nicht, dass das keinen Sinn ergibt („Tanzlokal an der Schnelle“).

In dieser Übersetzung sieht Irma, Hildurs Schwester, „in den Kaffeegrund“, der Übersetzer weiß nicht, dass es hier um Kaffeesatzleserei geht und so weiter. Diese Übersetzung ist eine Katastrophe, die auch nicht durch verschlimmbessernde Eingriffe des Lektors gemildert wird. Mit dieser Übersetzung tut der Verlag dem großen Schriftsteller Stig Dagerman keinen Gefallen. Wenn der Herausgeber der Anderen Bibliothek Michael Naumann schreibt, mit diesem Werk sei große Literatur zu lesen, dann muss man ihm im Prinzip zustimmen. Nur leider nicht in der von ihm herausgegebenen Ausgabe. Dagerman schreibt große Literatur. Dass der Verlag es nicht schaffte, die sicher nicht leichte Übersetzung neu zu beauftragen, ist dagegen ein intellektuelles Armutszeugnis.

Titelbild

Stig Dagerman: Schwedische Hochzeitsnacht. Roman.
Mit einem Nachwort von Per Olov Enquist.
Übersetzt aus dem Schwedischen von Herbert G. Hegedo.
Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 2010.
300 Seiten, 32,00 EUR.
ISBN-13: 9783821862309

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