Anarchistisch-dadaistische Flaschenpost

Hugo Balls „Michael Bakunin-Brevier“ erscheint mit 90-jähriger Verspätung

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Man müsse „einen Extrakt aus dem Lebenswerk Bakunins“ zusammenstellen, schrieb Hugo Ball, der Begründer des Dadaismus, im April 1915. Zwischen 1915 und 1919, also just in seinen dadaistischen Jahren, arbeitete der in die neutrale Schweiz emigrierte Lyriker an einem umfangreichen „Bakunin-Brevier“. Es sollte Leben und Ideen des Berufsrevolutionärs einer breiten Leserschaft bekannt machen – libertäres Denken als Gegengift zu dem Nationalismus und Obrigkeitsdenken im wilhelminischen Kaiserreich. Das Werk blieb Fragment. Erst jetzt ist es im Göttinger Wallstein Verlag erschienen. Hans Burkhard Schlichting und Gisela Erbslöh haben diese faszinierende anarchistisch-dadaistische Flaschenpost akribisch kommentiert und seine Entstehungsgeschichte in einem kenntnisreichen Nachwort rekonstruiert.

Balls Bakunin-Brevier ist keine Biografie oder Einführung im üblichen Sinn, sondern eine anspruchsvolle Montage von Dokumenten von und über den russischen Anarchorevolutionär, der heutigen Lesern wohl noch unbekannter sein dürfte, als er es bereits zu Balls Lebzeiten war. Geordnet nach der Lebensgeschichte Bakunins, liefern die Ausschnitte aus Briefen, Reden und Aufsätzen, die Erinnerungen und Tagebucheinträge von Freunden und Weggefährten ein vielschichtiges Lebensbild in Fragmenten – die passende Form für ein zerrissenes, abenteuerliches Revoluzzer-Leben. Ball selbst beschränkt sich zur Erläuterung auf knappe Zwischentexte, die wenig mehr als eine grobe Einordnung der ausgewählten Dokumente ermöglichen: Ihm war das Authentische wichtiger als das Vermittelte, betonen die Herausgeber.

Weshalb die eigentliche Leistung des Dadaisten, seine Sprach-Arbeit an seinen Materialien, erst im Rahmen dieser Edition sichtbar wird: Ball behandelte die ausgewählten Dokumente zunächst wie ein guter Redakteur, glättete und straffte die Textzeugnisse, von denen er etliche erstmals ins Deutsche übersetzte. Vor allem aber arrangierte er sie wie ein Dramaturg und wandelte Bakunins Rhetorik behutsam in Richtung einer dramatischen Rollenprosa.

Der 1814 als Sohn eines reichen russischen Adeligen geborene Bakunin war in der Geschichte des Sozialismus die große Gegenfigur zu Karl Marx. Der Marx’sche Kommunismus sah von Beginn an ein streng hierarchisches Partei- und Staatskonzept vor, in dem der Einzelne nichts, die Gesellschaft alles zählte. Bakunins Utopie dagegen basierte ganz auf der Freiheit des Individuums, dessen Selbstverantwortlichkeit eine soziale Gemeinschaft überhaupt erst ermöglichte. Marx bevorzugte zeitlebens Redaktionsstuben oder den Lesesaal der British Library. Bakunin dagegen war als Antreiber und Organisator überall dort zu finden, wo Menschen begannen, von ihren Herrschern ihre Freiheit zurückzufordern: 1848 bei der Februarrevolution in Paris, im selben Jahr in Breslau, wo die Polen um ihre Unabhängigkeit kämpften; ein Jahr später in Dresden, wo Bakunin Seite an Seite mit Richard Wagner für eine sächsische Republik focht.

Nach seiner Verhaftung und Auslieferung an den Zaren saß Bakunin acht Jahre lang im Kerker, dann wurde er 1857, zahnlos und fettleibig geworden, lebenslang nach Sibirien verbannt. Vier Jahre später überraschte Bakunin seine Freunde und Gegner mit einem Brief aus San Francisco: Er hatte die erste Möglichkeit zur Flucht genutzt und kehrte an Bord eines amerikanischen Klippers über die USA nach Europa zurück – wo er sich sofort wieder in den internationalen Freiheitskampf stürzte.

Es ist dieses paneuropäische Wirken Bakunins, das auf Hugo Ball in den Jahren des entfesselten, völkermordenden Nationalismus so anziehend wirkte. Freie Völker, davon war der romantische Revolutionär überzeugt, würden sich besser verstehen als die bezahlten Diplomaten. Alle Staaten und Monarchien sollten abgeschafft werden, ebenso fremdbestimmende Institutionen wie Militär oder Justiz – das kreative Chaos galt Bakunin als beste Voraussetzung für die Selbstverwirklichung des Einzelnen. Ob Bakunins Anarchismus die Deutschen vom Nationalismus hätte befreien können, sei dahingestellt. Sicher ist, dass das libertäre Denken die dadaistische Revolution der Sprache prägte.

Titelbild

Hugo Ball: Michael Bakunin. Ein Brevier.
Hans Burkhard Schlichtung und Gisela Ersblöh.
Wallstein Verlag, Göttingen 2006.
360 Seiten, 39,00 EUR.
ISBN-10: 3892447780
ISBN-13: 9783892447788

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