Erzählungen aus dem Museum der Scheußlichkeiten

Über Literatur von und zu Ismail Kadare

Von Beat MazenauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Beat Mazenauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Grotesken, Mythen, Historien und Parabeln sind zentrale Elemente des literarischen Repertoires, mit dem der albanische Autor Ismail Kadare seinen bösen, unverstellten Blick auf die Geschichte seines Landes wirft: Albanien ist auch 20 Jahre nach der Wende ein mysteriöses Land geblieben. Chaos und politische Intrigen gehören ebenso zum festen Albanienbild wie eine archaische Kultur, die fasziniert und zugleich abstößt. Im Norden des Landes wird noch heute die Blutrache praktiziert.

Die zwei Jahrzehnte nach der Wende haben die totale Abgeschiedenheit nicht wettzumachen vermocht, unter der das Land während der 40-jährigen Herrschaft des Stalinisten Enver Hoxha litt. Bevor dieser im November 1944 die Unabhängigkeit ausrief, hatte Albanien bis 1912 unter osmanischer Herrschaft gestanden, danach war es nach kurzer Freiheit zuerst von den Italienern, dann von September 1943 bis November 1944 von Nazideutschland besetzt worden. In dieser kurzen Epoche spielt Ismail Kadares jüngster Roman.

In der südalbanischen Stadt Gjirokastra – der Heimatstadt von Ismail Kadare und von Enver Hoxha – kursieren Legenden über zwei Doktoren mit demselben Namen Gurameto, weshalb der eine der große, der andere der kleine Gurameto genannt wird. Im Volk bilden sie Gegensätze, die leidenschaftlich und vergeblich begründet und hinterfragt werden. Dieses Gerede vermischt sich mit Gerüchten und Geschichten, über denen die Nebel alter Legenden liegen.

Im September 1943 geschieht jedoch Eigentümliches. Kaum hat die deutsche Wehrmacht Gjirokastra besetzt, lässt deren Kommandant Oberst Fritz von Schwabe den großen Gurameto zu sich rufen. Wie sich herausstellt, waren die beiden Studienkollegen, weshalb für Gurameto die Gesetze der Gast-Freundschaft gelten. Er lädt den Kommandanten zu sich zum Gastmahl ein.

Auch wenn ein Überfall von Partisanen das Zusammentreffen gefährdet, akzeptiert der Deutsche die Einladung. Sogleich beginnt in der Stadt darüber ein loses Geschwätz. Denn niemand weiß, was im Hause Gurametos genau vor sich geht. Der Champagner soll in Strömen geflossen sein, die Musik spielte die ganze Nacht hindurch – vor allem aber sind am darauffolgenden Morgen alle Geiseln frei, die wegen des Überfalls exekutiert werden sollten. Danach vergehen die Tage wieder ungerührt, bis die Deutschen Albanien verlassen.

Jahre später gerät das legendäre Gastmahl abermals ins Gerede – und in Verdacht. Kurz vor seinem Tod hat sich Stalin in den Kopf gesetzt, dass eine zionistische Verschwörung von Ärzten weltweit am Werk sei, um „die Führer des Weltkommunismus zu ermorden“.

In den Augen der beiden Nachwuchs-Tschekisten Shaqo Mezini und Adrian Ciu muss sich auch der große Gurameto verdächtig gemacht haben. Mag er noch so glaubhaft erzählen, was sich zehn Jahre vorher, 1943, zugetragen habe, er erzählt – wider besseres Wissen – die Unwahrheit. Denn Fritz von Schwabe verstarb in einem ukrainischen Lazarett, bevor er in Albanien hätte eintreffen können. Ein deutscher Freund hatte Gurameto auf Schwabes Wunsch hin besucht. Deshalb wird Guramento aufs Übelste gefoltert – ohne Resultat. Tage später wird mit dem Tod Stalins die Ärzte-Verschwörung als Hirngespinst ad acta gelegt. Gurameto rettet das nicht mehr, ebensowenig wie die beiden Schergen.

Ismail Kadare demonstriert auch in diesem jüngsten Roman, dass es keine Wahrheit gibt, nur Gerede und Gerüchte. Im Nebel der Maskeraden und der Mystifikation sind historische Begebenheite umrisshaft erkennbar – Genaueres zu wissen wäre indes gefährlich. Sein Erzähler weiß, dass sich alles auf vielfache Weise interpretieren lässt. Demnach trachtet er nicht danach, Licht in die Sache zu bringen, sondern hält seinerseits nur verstohlen das mysteriöse Raunen am Laufen. Alles ist möglich, auch wenn er selbst zu erzählen vorgibt, was sich „tatsächlich ereignete“.

Die Balance zwischen Realismus und Mystifikation gelingt Kadare in diesem Buch freilich nur zaghaft. Insbesondere der Einstieg wirkt umständlich und schwerfällig, indem alles Geschehen gleichsam in ein archetypisches Korsett gezwängt wird. Erst wie er dieses lockert und sich stärker aufs Erzählen verlegt, wird auch seine Prosa geschmeidiger, ohne dass sie ihre Kanten verliert. Allmählich entfaltet der Diskurs der Macht seine finstere Absurdität. Wahrheit und Legende vermengen sich, der Mythos vom Toten, der einer Einladung zum Gastmahl folgte, die auf seinem Grab gelandet war, legt sich sanft über Gurametos Schicksal. Nur Vehip, der Blinde scheint alles zu wissen, wie seine Verse verraten – doch er vermöchte nicht zu sagen, woher er es hat.

 

„Ein folgenschwerer Abend“ stellt sich nahtlos in die Reihe von Kadares Romanen, in denen er seine albanische Heimat zwischen Mythos und Realität, archaischen Bräuchen und moderner Welt beschreibt. Die spröde, lakonische Sprache oszilliert zwischen Realismus und Mythos respektive Parabel. Eine brillante Verquickung dieser Elemente ist Kadare in der Erzählung „Agamemnons Tochter“ gelungen, die den Band „Der Raub des königlichen Schlafs“ abschließt. Auf 70 Seiten beschwört er das ganze „Museum der Scheußlichkeiten“ mit sprachlicher Macht herauf. Der Ich-Erzähler hat eine Einladung zur 1. Mai-Parade erhalten – auf der Tribüne, was eigentlich verdienten Kadern vorbehalten ist. Womit hat er sich solche Ehre erkauft? Darauf weiß er keine Antwort. Hat es mit seiner Geliebten zu tun, der Tochter eines hohen Parteibonzen? Auf dem Weg zum Fest schwankt er zwischen Sorglosigkeit und trüben Gedanken. Im stummen Selbstgespräch rekapituliert er die schrecklichen Säuberungen der jüngsten Zeit, die nach einem eingespielten Schema ablaufen: Aus nichtigem Anlass entsteht eine Atmosphäre der totalen Verdächtigung, eine „Maschinerie des Hasses“, der niemand entkommt. In jedem einzelnen brodeln insgeheim widerstreitende Gefühle: „Roheit, Mitleid, Reue, die nicht ungetrübte Freude, davongekommen zu sein, verbunden mit der abergläubischen Angst, dafür eines Tages büßen zu müssen. Fatalismus und der Verlust des seelischen Gleichgewichts wurden dadurch verstärkt, dass in den Maßnahmen kein System mehr zu erkennen war.“

Und wer der Schuld zum Opfer fiel, konnte sich nur retten, wenn er dafür mit dem eigenen Leben bezahlte – so wie der mythische Qeros, der der Hölle entrann, indem er den ihn rettenden Adler mit dem eigenen Fleisch fütterte und in der Welt als Skelett ankam.

In dieser finsteren Erzählung hat Kadare selbst einen verklausulierten Auftritt in Gestalt des Malers Th. D., der als Künstler einige Privilegien genießt, weil seine Bilder dem Führer schmeicheln. Kadare selbst genoss zu Hoxhas Zeiten Freiheiten, wie ein Essay von Piet de Moor beschreibt. In den 1970er- Jahren zeichnete er im Roman „ Der große Winter“ ein nicht unschmeichelhaftes Porträt des albanischen Despoten, das ihm künstlerische Freiheit zumindest im Gewand der literarischen Parabel gestattete. Enver Hoxha konnte danach, so de Moor, „den Schriftsteller nicht eliminieren, ohne Mörder an seinem positiven alter ego zu werden“.

Die kleinen Romane und Erzählungen in „Der Raub des königlichen Schlafs“ beschwören das ganze albanische Schreckenspanorama von der osmanischen Frühzeit bis zur Hoxha-Diktatur herauf: in Form von Grotesken („Die Abschaffung des Berufsstands der Verwünscher“), von mythischen Erzählungen („Die große Mauer“) oder von historischen Geschichten wie in „Der Blendferman“. Darin schildert er abermals die Hölle des Verdachts und der Gerüchte. Ein Dekret des Sultans ruft zu allgemeiner Wachsamkeit gegen den „Bösäugelei“ auf und fordert die Bevölkerung zur Denunziation auf. Gerade weil sich der inkriminierte „böse Blick“ nicht definieren lässt, erzeugt er eine kollektive Paranoia, die niemanden ungeschoren lässt. Wie in „Agamemnons Tochter“ gibt es auch hier kein Mittel gegen das ungreifbare Dekret, weil sich jedes Argument in ein Verdachtsmoment verkehren lässt. „Jeder verdächtigt jeden, niemand lebt mehr ohne Angst, alle fangen an, Schuldgefühle zu entwickeln.“

Kadare kleidet seine Geschichten in mythologisch-historische Stoffe, verleiht ihnen parabelhafte Züge und lässt doch immer durchscheinen, dass sie im Grunde auf Beobachtungen und Recherchen beruhen. Macht, Verdacht und Gerede bilden auch die zentralen Ingredienzien im Roman „Der Nachfolger“, der das albanische Herrschaftssystem ins Zwielicht taucht und zugleich mit grellsten Farben schildert. Die Geschichte erinnert an ein politisches Ereignis von 1981, als der albanische Ministerpräsident Mehmed Shehu unter mysteriösen Umständen verstarb. Mangels Gewissheiten jagten sich die Gerüchte und verbreiteten Angst und Schrecken.

In „Der Nachfolger“ seziert Kadare brillant und bissig diesen Furor der Fama. In der Nacht vom 13. auf den 14. Dezember stirbt der Nachfolger und ruft eine breite Spur von Mutmaßungen und Thesen hervor. Die Frage nach der Täterschaft bleibt unerheblich, denn wichtiger ist die Botschaft, dass der Führer die Zügel fest in Händen hält, ohne dass jemand Einblick in sein Inneres erhielte. „Seine Zweifel waren das Rudel Hunde, mit dem er in einsamen Stunden spielte. Wehe, dem, der es mit dieser Meute zu tun bekam!“

Vielmehr gerät die Familie des Nachfolgers selbst in Verdacht. Auch auf den Innenminister fällt ein trüber Schaffen. Und schließlich bezichtigt sich auch ein Architekt insgeheim des Mordes. Weil er für den Nachfolger ein herrschaftliches Haus gebaut habe, das schöner als das des Führers sei, habe er Argwohn und Neid auf den Nachfolger gelenkt. Was immer daran wahr ist, sein Tun rettet in diesem alptraumhaften Gebräu aus Legenden und Vermutungen am Ende immerhin die Ehre der Kunst.

In der Figur des Architekten begegnet uns nochmals, wie im erwähnten Maler Th.D., Kadare selbst – auf dem schmalen Grat zwischen Opportunismus und Kunst balancierend. Wie der Architekt, könnte gemunkelt werden, bediente sich einst auch Kadare der Ästhetik, weniger um das Regime zu stürzen, als den eigenen Kopf zu retten. Seine großartigen Bücher rechtfertigen diese List ohne jeden Zweifel.

Titelbild

Ismail Kadare: Der Nachfolger. Roman.
Übersetzt aus dem Albanischen von Joachim Röhm.
Ammann Verlag, Zürich 2006.
174 Seiten, 18,90 EUR.
ISBN-10: 3250600466
ISBN-13: 9783250600466

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Piet de Moor: Eine Maske für die Macht. Ismail Kadaré - Schriftsteller einer Diktatur.
Ammann Verlag, Zürich 2006.
94 Seiten, 12,00 EUR.
ISBN-10: 3250600458
ISBN-13: 9783250600459

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Ismail Kadare: Der Raub des königlichen Schlafs. Kleine Romane und Erzählungen.
Übersetzt aus dem Albanischen von Joachim Röhm.
Ammann Verlag, Zürich 2008.
480 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783250600480

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Ismail Kadare: Ein folgenschwerer Abend. Roman.
Übersetzt aus dem Albanischen von Joachim Röhm.
Ammann Verlag, Zürich 2010.
204 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783250600497

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