Geistesblitze en gros

Drei junge Aphoristiker bringen in einer Anthologie eine alte Kurzform wieder zur Geltung

Von Willi HuntemannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Willi Huntemann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In einer Zeit der elektronischen Kurzmitteilungen wie E-Mail, SMS, Twitter und der Fastfood-Lektüre müsste der literarischen Form des Aphorismus eigentlich eine gewisse Konjunktur beschieden sein. Doch diese Vermutung trügt. Im Bewusstsein der literarischen Öffentlichkeit spielt der Aphorismus praktisch keine Rolle mehr; aus den Feuilletons der deutschsprachigen Zeitungen ist er so gut wie verschwunden, etwas besser sieht es bei den Literatur- und Kulturzeitschriften aus. Er teilt dieses Schicksal übrigens mit dem klassischen Cartoon ohne Worte, der längst von der Witzzeichnung verdrängt worden ist.

Dafür finden sich in Zeitungen und Illustrierten witzige Sprüche und Bonmots von Prominenten ohne literarischen Anspruch. Sein Tiefgang, zumal ohne oberflächlichen Humor, macht den Aphorismus ungeeignet, in nichtliterarischen Kontexten Aufmerksamkeit zu wecken. Man muss freilich einräumen, dass die Grenzen des literarischen Aphorismus zum Bonmot, zum geistreich-witzigen Wortspiel und zum Kalauer fließend sind, was ebenso für den Humor gilt, der sich vom (platten) Witz bis hin zum Humor mit „Tiefgang“ erstreckt. Doch der Aphorismus muss keineswegs notwendig witzig sein, wie das Werk von großen Meistern dieser Form wie Friedrich Nietzsche oder Elias Canetti oder auch die hier zu besprechende Sammlung beweist. Der literarische Aphorismus ist in der Regel an der Wirkung zu erkennen: im Unterschied zum Bonmot, das einen geistreichen Funken freisetzt, der beim Leser ein Schmunzeln auslöst, lebt der Aphorismus vom „Nachglimmen“, das heißt, er regt zu weiterem Nachdenken an, da ein tieferer Gedanke hinter der prägnant-zugespitzten Formulierung steckt.

Thematisch ist der Aphorismus nicht festgelegt, es überwiegen überzeitliche Themen der condition humaine wie Wahrheit – Lüge, Sein – Schein, Macht – Ohnmacht, Dummheit – Klugheit, Leben – Tod, Gott, Literatur und Kunst, die in ihrer gedanklichen Antithetik zum Paradox und zur dialektischen Pointierung Anlass geben.

Das ist auch bei der vorliegenden Sammlung zu erkennen, die 91 ausschließlich noch lebende Aphoristiker(innen), deren Geburtsjahr sich über eine Spanne von rund sechzig Jahren erstreckt, mit insgesamt 1.308 Aphorismen versammelt. Der durchschnittliche Verfasser ist 63 Jahre alt, wie das Nachwort vermerkt, die jüngste Verfasserin 29 Jahre. Diese Spanne schlägt sich jedoch weder inhaltlich noch stilistisch in den Aphorismen nieder. Es scheint so zu sein, dass diese strenge Kurzform literarischer Gedankenpointierung – das „kleinste mögliche Ganze“ (Robert Musil) – die Abstraktion von allem Zeittypischen und „Lebensaltergebundenem“ verlangt; man merkt geradezu auf, wenn beim 1950 geborenen Anselm Vogt die Neurobiologie vorkommt.

„Jeder erstklassige Aphorismus gleicht einem Monolithen, dem Zeit und Zeitgeist nichts anhaben können“, wie die Herausgeber treffend im Nachwort schreiben. Das mag vielleicht auch erklären, weshalb der Aphorismus aus der Mode gekommen ist: er macht es schwer, eine Handschrift auszuprägen, wie sie die großen Aphoristiker der klassischen Moderne wie Karl Kraus oder Canetti noch hatten und wie sie heutzutage auf dem literarischen Markt geboten ist, um als unverwechselbare Stimme gehört zu werden. Der Originalitätsanspruch steht hinter der geglückten Formulierung zurück, weswegen „Doppelgänger“, wie sie die Herausgeber nennen, möglich sind: Gedanken, die sich in mehrfacher Formulierung bei verschiedenen Autoren finden, ohne dass es sich um Plagiate handelte.

Das hat mit dem „Gespräch der Ideen“ zu tun, das Canetti in einem viel zitierten Aphorismus auf den Punkt brachte: „Die großen Aphoristiker lesen sich so, als ob sie alle einander gut gekannt hätten“. Im Nachwort gehen die Herausgeber diesen Mehrfachversionen und Querbezügen auf reizvolle Weise nach, indem sie dabei auch auf Wertungen nicht verzichten. Dennoch lassen sich hier und da Autorenprofile erkennen: die durchweg sprach- und erkenntnistheoretischen Reflexionen eines Franz Josef Czernin oder die eher kryptischen poetologischen Notate eines Peter Handke, die sich nur im Kontext des ganzen Werkes erschließen.

Philosophische Aphoristik im eigentlichen Sinne ist nicht vertreten, dabei ist das eine der Quellen europäischer Aphoristik (französische Moralistik, Georg Christoph Lichtenberg, Friedrich Nietzsche) – zeitgenössische deutsche Philosophen tun sich schwer mit literarischen Formen. Dass unter den 91 Beiträgern nicht einmal zehn zu den literarisch etablierten Autoren zählen – am bekanntesten Martin Walser, Peter Handke und der jüdische Aphoristiker Elazar Benyoëtz – löst das Versprechen des Titels ein und macht die Sammlung, anders als andere ihrer Art, die größtenteils nur wieder die altbekannten Klassiker des Genres abdrucken, wirklich zu einem neuen, unverbrauchten Fundus.

Es verwundert etwas, dass ein zeitdiagnostisch so eminenter Autor wie Botho Strauß im Band fehlt (und nicht einmal erwähnt wird), dessen zahlreiche Bände mit Gedankenprosa wohl mehr aphoristisches Format verraten als Peter Handke. Überhaupt hat man den Eindruck, dass die Herausgeber um weltanschaulich-tendenziöse Aphoristik einen Bogen machen: neben Strauß fehlt auch ein Karlheinz Deschner, dessen Aphorismen eine Art kirchenkritisches Gegenstück zum umfangreichen Aphorismenwerk des in den letzten Jahren auch bei uns bekannt gewordenen kolumbianischen Katholiken Nicolás Gómez Dávila darstellen.

Das Material der Anthologie ist zum überwiegenden Teil aus Publikationen in Kleinverlagen und unveröffentlichten Manuskripten geschöpft. Die drei Herausgeber, alle um die dreißig Jahre alt, sind selbst aphoristisch tätig und haben eigene Proben beigesteuert. Kennengelernt haben sie sich auf dem seit 2004 regelmäßig in Hattingen stattfindenden Aphoristikertreffen – was verrät, dass die Gattung offenbar doch noch nicht ganz ausgestorben ist. Wie gründlich die Herausgeber ihre Materie kennen, zeigt sich nicht zuletzt in einem sorgfältigen bio-bibliografischen Anhang, dem instruktiven Nachwort mit Bemerkungen zur Gattungspoetik sowie einer akribischen, auch die Auswahlprinzipien reflektierenden Dokumentation ihres Korpus, das vor der zweijährigen Sichtungsarbeit aus nicht weniger als 160.000 Aphorismen bestand. Das Stichwortverzeichnis am Schluss des Bandes macht ihn, der die Gedankenblitze nach dem Lebensalter der Verfasser anordnet, auch als Zitatsammlung bestens geeignet. Diese „neuen deutschen Aphorismen“ sind gewiss mehr als „Abfälle, des Aufhebens wert“, wie es die Mitherausgeberin Eva Annabelle Blume einmal aphoristisch formuliert.

Titelbild

Tobias Grüterich / Alexander Eilers / Eva Annabelle Blume (Hg.): Neue deutsche Aphorismen. Eine Anthologie.
edition AZUR, Dresden 2010.
287 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783981280449

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