„Errettung der äußeren Wirklichkeit“

Der Sammelband „Denken durch die Dinge“ kontextualisiert das Werk Siegfried Kracauers

Von Sandra MarkewitzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sandra Markewitz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Theodor W. Adorno betrachtete Siegfried Kracauer (1889-1966) als „wunderlichen Realist(en)“. Dieses folgenreiche Diktum degradiert die Eigenheit des Autors auf die Stufe einer nicht ganz gelungenen Abschilderung des Gegebenen. „Wunderlich“ wirkte die Versenkung in die Konkretion nur (die Adorno an Walter Benjamin gerühmt hatte), wo sie impliziert, etwas anderes zu vernachlässigen: Das Allgemeine, um dessentwillen man sich um das Besondere bekümmert. Kracauer ging zu den Sachen selbst als Agent ihrer Ferne, die gerade darin bestand, dass sie zu nah waren und aus dieser Nähe eine nur sekundäre Bedeutung gefolgert wurde: Das Nahe kann der Intuition zufolge, die aus einer räumlichen Anordnung kommt, zunächst nicht das Wichtige sein.

Deswegen ist Kracauers Philosophie indes nicht „unphilosophisch“. Der Begriff von Philosophie muss vielmehr so erweitert werden, dass der Eindrücke sammelnde Autor die von ihm beobachteten Alltagsphänomene in einer deutenden Geste aufschließen und bewahren kann.

Die berühmte Studie „Die Angestellten“ (1929/30), basierend auf eigener Anschauung in Berlin, wird auch mit dem Satz eingeleitet, man gelange „von ihren Extremen her“ zur Erschließung der Wirklichkeit. Es ist Zeichen der Zeit, dass „das Extrem“ wie „die Wirklichkeit“ hier noch Referenzpunkte sind, deren substantivierte Form keine Schwierigkeiten macht: Im begriffsrealistischen Glanz wird die Konkretion beschrieben. Vom Extrem her kommend, das Leben der Angestellten nicht auf einen Mittelwert von vornherein schwächend, der sich in der Übermittlung des Gesehenen durch eine Darstellungsform ohnehin ergibt, scheint das Leben der Angestellten selbst zu sprechen. Mit ihren ablenkenden Freuden, Angestellten-Gewerkschaft, Lüftungspause, Nachbarn wird eine Lebensform besichtigt, die Dinge werden angeschaut, als seien sie fremd. Diese ethnomethodologische Pointe setzt den bis heute mit Kracauers Werk, das sich dem Werkbegriff widersetzt, verbundenen Standard: In der großen Stadt schauen, wie sie aus den Wiederholungen die „Exotik des Alltags“ macht, unbekannter als das Leben „der primitiven Völkerstämme“, den Begriff der „Primitivität“ noch nicht positiv wendend (wie Ludwig Wittgenstein es später in seinen exemplarischen Sprachverwendungssituationen heuristisch tun wird).

Kracauer ist der Unbekannte, dessen Werk nicht zuzurechnen war zu einem Zuständigkeitsbereich; seine Entdeckungen waren die, die der Alltag von allein hervorbringt, doch er half, sie zu sehen. Wie seine Sujets die waren, die alle angingen und niemandem besonders schienen, „scheint sich bis heute keiner so recht für ihn zuständig zu fühlen“ (Inka Mülder-Bach). Der Umgang mit den kleinen Dingen führte zur kleinen Rezeption, die auf den ersten Blick (denen, die den Alltag nicht sahen) wenig Identifikations-Glück versprach. Doch Kracauer sah nicht, um gesehen zu werden, sondern um die Dinge sichtbar zu machen, die schon sichtbar waren, aber nicht gesehen wurden.

Diese Gerechtigkeit den Dingen gegenüber wiederholt der vorliegende Sammelband in der Wahl seines Themas. Kracauers Theorie des Films, die Studie über die Angestellten, sein Wirken in der „Frankfurter Zeitung“ während der Weimarer Republik oder die Überlegungen zu Jacques Offenbach bilden die bekannte geistige Physiognomie, die von multidisziplinären Untersuchungen aufgegriffen und erweitert wird. Wer „durch die Dinge“ denkt, nimmt sie so ernst wie er weiß, dass sie nicht alles sind. Sie zeigen ihre Bewandtnis, wenn man ihre Oberfläche nicht als Grenze achtet, das Phänomen aber umso mehr.

Der Aufsatz von Dagmar Barnouw widmet sich dieser ambivalenten Rolle der Oberfläche als Ausweis einer Polyvalenz, Vielstimmigkeit mit methodischer Pointe: Die „Vermittlung zwischen Begriff und Sinneswahrnehmung“ (Barnouw) geht nicht zuletzt auf die Thematisierung der Erkenntnisvermögen; das Kant’sche Erbe lebt bei Kracauer; nicht: was er sieht, bildet er ab, sondern er sieht, weil er die Dinge auf bestimmte Weise sieht: nicht als Begriff (die Rede über etwas befördernd) und nicht als Sinneswahrnehmung (auf der Seite der Anschauung). Die vielschichtige Oberfläche ist vielmehr das Versprechen auf die umfassende Kenntnis des Phänomens, die die Oberfläche als Versteck entdeckt. Wie in Poes „The Purloined Letter“ verbirgt man das Gesuchte am besten dort, wo es alle sehen. Das ist seit Oscar Wilde auch Gemeinplatz, aber einer, der dem forschenden Zugriff in seiner faustischen Tiefenorientierung lange fremd gewesen war. So tut der Sammelband zweierlei: Er öffnet das von Kracauer Geschriebene („Ich möchte immer schreiben, dichten…“) einer Rezeption, die um das Versteck an der Oberfläche weiß und sieht, was dort geschrieben steht, sie stellt den Rahmen bereit, um solches Gesehene in einen weiteren Zusammenhang einzuordnen. Die Kontextualisierung Kracauers folgt selbst, im Aufbau des Buches, einem Gang „durch die Dinge“, also durch den Untersuchungsgegenstand: „Methodische Optionen (Oberfläche Konkretion, Wahrnehmung)“ bereiten das Nachdenken über die „Objektivität der Dinge (Undurchdringlichkeit, Verfallenheit, Realismus)“ vor, bis „Der Vorrang des Optischen: Bilder und Medien“ wieder auf die sichtbare Oberfläche der Gegenstände zurückführt.

Das Ideal der Konkretion prägt sein Werk und ist zugleich ein Gedanke mit seinen Widerständen; das Verhältnis von Konkretion und Allgemeinem ist als hermeneutische Urfrage in das Werk eingelassen, das den Werkcharakter verneint. „Prinzipieller Skeptiker“ (Modell: Max Weber), „Kurzschluß-Mensch“ (im „bergenden Gehäuse“ aus „metaphysischer Feigheit“), unter Georg Lukács’ „transzendentaler Obdachlosigkeit“ leidend und schließlich der „Wartende“ (sich nicht entscheidend im Blick auf den „Glaubenssprung“) geben die Typen ab, unter denen Kracauer Menschen als Sozialphänomene beurteilt.

Der Aufsatz von Dirk Oschmann führt dies aus. Der berühmte Satz aus „Die Angestellten“: „Die Wirklichkeit ist eine Konstruktion“ ist Dreh- und Angelpunkt der Gedanken zur Konkretion. „Aus dem neuesten Deutschland“ sprechend, erwuchs das Konstruktionsbewusstsein aus einer Krisen- und Umschlagskonstellation; es ist noch etwas anderes als die Gewohnheit gegenwärtiger Theorie, mit Berger/Luckmann die gesellschaftliche Wirklichkeit als Konstruktionsverhältnis zu sehen oder die Diagnose der Konstruktion einem (schon nicht mehr so sehr) gefürchteten Essentialismus entgegenzustellen. Nicht zufällig beginnt der Angestellten-Text mit einem Abschnitt über „unbekanntes Gebiet“. Vordeutend auf jene seit den 1950er- Jahren virulente Methode, die heute Ethnomethodologie heißt (Garfinkel) und soziale Wirklichkeit aus ihren alltagspraktischen Vollzügen verstehen will.

Die Wende zum Alltag in Philosophie und Literatur wird auch durch jene Zeitqualität perspektiviert, in der Kracauer seine Soziologeme entwickelte: die Konkretion ist die Erscheinungsform der Säkularisierung. Wichtig ist der Punkt, auf den Oschmann hinweist, wenn er sagt: „Selbst als Konstruktion ist die Wirklichkeit allein in der Konkretion gegeben.“ Da die Abstraktion „in sich dissoziiert“ sei, wolle die Betonung der Konkretion die Fähigkeit zur Abstraktion nicht aufgeben. Da es kein definitives Antonym gibt, aus dem der in Rede stehende Konkretionsbegriff erschlossen werden kann, zeichnet sich hier das Untersuchungsfeld (an dem Chaos, Einsamkeit und Beschleunigung ihren Anteil haben) auf der begrifflichen Ebene ebenso vielstimmig und kontingent ab wie es die lebensweltlichen Referenzpunkte implizierten.

Gegenpunkt der Konkretion ist nicht die Abstraktion, sondern „die Vernunft als übergeordnete Instanz“ (Oschmann), also eine Verhältnisbeziehung im geistigen Bezirk, die dem reifizierenden Allgemeinbegriff die Oberhand über die mannigfaltigen schwirrenden Phänomene gestattete. Kracauers Vorgehen wird ersichtlich als Befestigung einer begrifflichen Entscheidung (für die Konkretion) in einer Umgebung, der Entscheidungslosigkeit zum Programm geworden ist. Wie der Autor des Aufsatzes schon in seinem Buch „Auszug aus der Innerlichkeit. Das literarische Werk Siegfried Kracauers“ betonte, ist Kracauer in Vitalismus und Lebensphilosophie verankert; Nietzsche, Simmel, Bergson und Dilthey sind ihm Bezugspunkte eines Denkens, das das Erbe von Romantik und Sturm und Drang mit dem Wissen um die Unwiederholbarkeit des präsentischen Einschnitts in das idealtypisch gedachte historische Kontinuum verbindet. Nun ist, bei Kracauer, der Begriff, mit Nietzsche, nicht nur „Begräbnisstätte der Anschauung“. Vielmehr ist die Konkretion der Ort, an dem das Wissen vom Konstruktionscharakter des Wirklichen anschaulich wird. Das Denken durch die Dinge greift auch über deren Materialität hinaus, nimmt sie nicht als Schranke, sondern als Aufschluss der Verhältnisse auch im geistigen Bezirk.

Die Pointe dieser polyvalenten Rolle des Dings in Kracauers Vorstellungswelt ist, wie Oschmann sehr gut herausstellt, daß „die Blickwendung vom Subjekt aufs Objekt, vom Ich zum Ding, vom Allgemeinen zum Konkreten […] ohne eine Transformation der Darstellungsformen nicht zu erreichen“ ist. So ist die Welt der Angestellten und Operetten, der Arbeitsnachweise und der Liebe der Ladenmädchen zum Kino, im Aufmerken auf das Wie vor dem Was der eigentlich moderne Ort, der Ort des Wissens darum, dass die Bedeutung der Wissensinhalte mit der Ausdifferenzierung moderner Interaktionsformen und Denkgewohnheiten abnimmt.

Die Konkretion zerstört den Oberflächenzusammenhang der Dinge. Ihr konstruktiver Charakter durchkreuzt auch die Absicht zur Mimesis – die in gegenwärtiger Zeit ohnehin nicht mehr das ist, wozu man sich bekennt. Zu Kracauers Zeit war die Scheinkonkretheit der Romanreportage (Erzählen, als sei man dabeigewesen, die Fakten um Stimmungswerte anreichern) Gegenwartsausdruck; dass die Konkretion erst zu erzeugen sei, ließ die Vorstellungskraft der Beobachter zum bestimmenden Element ihrer Herstellung werden. Die Darstellung für die Oberfläche richtete sich gegen die Oberfläche, um im Anwenden einer Darstellungsform „Tiefenstrukturen in die Gegenstände einzuziehen“.

Kracauers „Wandel der Darstellungen“ hat dabei drei Aspekte: Ablösung des Symbols durch die Allegorie, Ersetzung der Ähnlichkeit einer Sache durch ihre Geschichte und der Übergang von kontinuierlichen zu diskontinuierlichen Repräsentationsformen. Wieder zeigt sich Kracauers Werk als eines, in dem Darstellungsmodi auf Inhaltsformen einwirken. Wo es nicht mehr um Ähnlichkeit, similitudo, geht, die in der Reportage als falsche Authentizität vorkommt, sondern um Geschichte, erscheinen die Formen der Darstellung als Konstituenten der Historizität, die unter der Oberfläche vermutet wird, im geschichtlichen Tableau, das durch eine „gestaltsprengende“ Vernunft gerade hervorgebracht wird. Darin besteht ihre konstruktive Kraft. Eine Wirklichkeit, die man, mit dem Untertitel von Kracauers Filmtheorie, „erretten“ möchte, zeigt ihr Gesicht nicht auf den ersten Blick, man muss es durch Konstruktionsarbeit freilegen. Zudem ist es die „äußere Wirklichkeit“, eine, die sich an Oberfläche und erstem Eindruck befestigt – so ist die Unternehmung der Errettung dieser Wirklichkeit auch ein Programm der Rettung einer Körperlichkeit. „The Redemption of Physical Reality“, so der Untertitel der Originalausgabe, versteht Wirklichkeit explizit als eine der Verflechtungen physischer Gegebenheiten. Der Gedanke, dass es noch eine andere non-physical reality gebe, geht in die Arbeit an den Konkretionen ein.

Dass dieses konkretistische Denken sich den Dingen „anschmiege“, ist der Punkt im Aufsatz von Helmut Stalder. Es ist ein Denken jenseits der Systematisierung, die schon lebensgeschichtlich bei Kracauer nicht zu haben sei, wie Adorno im Kracauer-Text betonte: „Dem, der an der Universität nicht Philosophie als Hauptfach studiert hatte, blieb die Gewalt ihrer großen Konstruktionen, die so gern in Lobpreisung ausarten, fremd, Hegel vor allem.“

Nun ist Philosophie mehr als das große abstrakte Denkgebäude, zumal im 20. Jahrhundert, ist die systematische Fragestellung, durch die Jahrhunderte gehend, mit der Pointe der Wendung auf die Sprache. Man muss nicht die Großimago Hegel anführen, um den Systemgedanken in einer Person gleichsam inhäriert zu sehen (der nicht immer weltfern war, sondern in der Realität des damaligen preußischen Staatswesens zu sich kommen sollte.) Diese empirische Pointe des abstrakten Denkens ist indes anders als bei Kracauer gelagert. Seine Empirie ist, wie der Sammelband in mannigfaltiger Perspektive vorstellt, eine der Einzelphänomene, in deren Betrachtung, wie oben gesagt, Konkretion und Abstraktion nicht als planes Gegensatzpaar auftreten: Die Gegenstände, jeder für sich, sollen zum Sprechen gebracht werden.

Siegfried Kracauer „unter die erotischen Autoren einreihen zu wollen“, ist in der Tat „etwas kühn“ (Stalder). Die Prägnanz der aufgesprengten Oberflächen erinnert nur von Ferne an die Erschütterungen zeitlicher Ekstasis. Dabei ist Kracauer gewiss nicht „blutleer“, aber die Lebendigkeit seiner Sujets erwächst gerade aus dem Zurückdrängen organischer Bedingtheit in den Konstruktionsentwurf. Das „volle(n), bittersüße(n), gegenwärtige(n) Leben – ja, aber nicht als Verortung innerhalb des Gegensatzes von Leere und Fülle. Sentiment klingt in diesem Aufsatz an; Kracauer, der Produktive, beschreibt seine Welt, die nicht nur in der expliziten Ausprägung ein „Asyl für Obdachlose“ (so ein Kapitel in „Die Angestellten“) ist. Die Dinge selbst sind fast heimatlos geworden, man kann durch sie hindurchgehen.

Die transzendentale Obdachlosigkeit entsteht, wo das „göttliche Gebäude“ fern ist. Aber kann man sagen, dass „die Erscheinungen […] ihren Sinn nicht mehr einem überpersonalen Prinzip (verdanken), sondern dem normierenden Ich anheimgegeben“ seien? Normsetzung steht nicht in den Händen eines Individuums. Bei den substantivierten Erscheinungen sollte man misstrauisch werden, gemeint ist wohl eher: was es gibt. Der ontologische Status hat seine Pointe nicht in dem Moment, in dem etwas erscheint, sondern es geht hier um das, was schon erschienen ist und daher mit einem Substantiv zu belegen ist. Die „Normierungsmacht des autonomen Ich“, die einsetze, wenn der Geist vom Glauben befreit sei, sieht sich ja den Normierungsformen der Vergesellschaftung durchaus gegenüber, das heißt Autonomie wird sichtbar nur als kooperationsbasierte Abstimmung einer Gruppe, deren Mitglieder sich kraft Gruppenteilnahme als autonome Subjekte fühlen können. Auch das formalistische Denken, von Kracauer als Komplement des Geistes gesehen, der sich zum „reinen Geist“ verenge, hat diese Gruppenpointe: das Kantische Vernunftsubjekt ist auch ein Traum von der Beherrschbarkeit der gegebenen Gegenstände, die Hoffnung auf eine „Satzungsmacht“ (die im 20. Jahrhundert gewohnheitsmäßig erschüttert wurde).

Erfahrungen des Heimwehs und Exils überlagern die Erotisierungslesart. Ein Verlust, nicht eine Erhöhung, trifft das beschleunigte Ich der großen Stadt. Dass sich jemand „ins Feinstoffliche einsenkt“, diesem, nicht „dem Analytiker“ sich das Wesen der Stadt offenbare, hat etwas Raunendes und zugleich Konkretes: In die Dinge der Stadt versenkt sieht man sich, wenn man ihre Oberfläche nicht achtet, also ist die Methode der Versenkung die der Anwendung einer bestimmten Beschreibungsweise. Die Oberfläche der Stadt ist „ein Traumbild voller Zeichen und Botschaften, die der Deutung harren“. Diese Deutung bleibt nicht bei den Inhaltswerten stehen, denn Inhalt wäre genügsame Oberfläche. Richtig zu sagen, dass der „absichtslos entstandene Raum […] unmittelbar Auskunft“ gebe (Stalder). Wie der Traumdeuter holt der Deutende, dessen Sujet die Stadt ist, die Dinge aus einer Latenz, in der gerade der Kult der Oberflächen sie festhielt. „Überall bildliche Mitteilungen“ auf den Gängen durch die Stadt; Schlüssel zu einem Sinn, der noch nicht bekannt ist und im Wie, in einer Darstellungs- und Untersuchungsform (etwa der, Dinge aus der Latenz zu befreien) zu sich kommt. Hat man das rechte Wie, verlischt die Suche nach dem Sinn.

Wie Kracauer, wiederum in den „Angestellten“, sagte, sei der „Hunger nach Unmittelbarkeit“ eine Folge der „Unterernährung durch den deutschen Idealismus“. Noch gegenwärtiges Betonen von Präsenzeffekten und glückhafter Evidenz ließe sich darauf zurückführen, auch hierin besteht Kracauers Aktualität.

Und, zu Ehren Ernst Blochs, der Satz, dass „einer, der nicht verstrickt ins Hier ist, niemals in ein Dort gelangen könne“. Er hat eine weitreichende Bedeutung, rechnet er doch die Verstrickung ein, die aus dem erotischen Kontext bekannt ist – Wirklichkeitsverstrickung als Voraussetzung, an einen anderen Ort zu gehen, der sich vom „Hier“ absetzt. Das Ende dieser (einen) Verstrickung wäre der Anfang einer neuen, an einem anderen Ort, der zu neuer Gegenwart werden kann. Eine Darstellung (!), die sich dem Material anschmiegt, weiß um diesen Zusammenhang. So kann der Untersuchende zu eigenen Ideen kommen; aufgezwungene Ideen sind, nicht nur nach Kracauer, nicht einflussreich, ihr Einfluss verdankte sich einer Verzerrung hin zur adaptiven Präferenz. Dieser Autor, der sein Geburtsjahr 1889 mit Wittgenstein und Martin Heidegger teilt, wählte den dritten Weg neben grammatischer Erläuterung (Wittgensteins Spätwerk) und Seinsemphase (Heidegger); die Hinwendung zu den Dingen möchte durch sie zu etwas finden, was dem verlorenen Obdach des transzendenten Gehäuses gleichkommt.

Konstruktionen als eigentlich realistische Akte geben die Definitions- und Zeigemacht an die Subjekte zurück, sofern sie sich in die Dinge versenken können. Konstruktivismus sei „mit Realien zu durchdringen“ (so Kracauer in einem Brief an Bloch aus dem Jahr 1926). Die „große Liebe“ Wirklichkeit antwortet zuweilen dem, der sie liebt und sprechen lässt.

Dorothee Kimmich fasst im letzten Aufsatz der Abteilung, die sich der Methode widmet, Kracauers „Ästhetik der Aufmerksamkeit“ als „praktische Phänomenologie“. Hans Blumenberg („Zu den Sachen und zurück), Bernhard Waldenfels („Phänomenologie der Aufmerksamkeit“) und Martin Seel („Ästhetik des Erscheinens“) bilden mit ihren Arbeiten die Referenzen des Texts. In elaborierter Form wird der Zusammenhang von phänomenologischer Vorgehensweise, Ästhetik und Subjektkonstitution behandelt. Es ist eine der Stärken des Buches, die Eigenart von Kracauers Werk allmählich zu entfalten und immer mehr mit Erläuterungen anzureichern. So vertieft Kimmich das zuvor über Oberfläche und Konstruktionspointe Gesagte mit den obigen rezenten Themen. Dennoch wird hier nicht Anschlussfähigkeit um jeden Preis hergestellt. Die Durchdringung von Lebenswelt weiß um die Grenzen der Konstruktion; Kracauer warf etwa Husserl vor, immer mehr einem „konstruktiven Idealismus“ zu verfallen. Die Leistungen der Phänomenologie als „wider den Idealismus“ nicht bei „Oberbegriffen“ anzusetzen, verblassen in ihrer radikalen Form. Dieser Gedanke ist auch wissenschaftstheoretisch interessant: ins Extrem getrieben, richten sich theoretische Entwürfe gegen sich selbst. Dass sich die Extreme berühren, ist ein Punkt, an dem man weiterdenken kann (wie Wittgenstein, der sagt, dass der Solipsismus, streng durchgeführt, mit dem reinen Realismus zusammenfällt). Die „reinen“ Formen des Konstruktivismus wie des Realismus werden dem diversen Charakter der zu untersuchenden weltlichen Valeurs nicht gerecht. So wird hier deutlich, dass Kracauer theoretische Vermittlungsarbeit betreibt: Phänomenalistische Methode ist, die Erfassbarkeit von Welt nicht restlos zu bejahen. Jenseits der „disziplinären Imperative“ (Kimmich) kommt bei Kracauer das Subjekt zu sich. Auf diese nicht (ganz) zu hören, ermöglicht die neuen Sichtweisen auf die Gegenstände. Schon methodisch wird hier gleichsam ein Durchgang gebahnt durch das, was undurchdringliche Grenze schien – die Grenzen der Einzelwissenschaften im etablierten Gefüge. Kracauers Werk ist so vor allem, dies geht konform mit dem im 20. Jahrhundert herausgebildeten Vorrang des Wie vor dem Was, eine Anleitung, wie die Welt zu betrachten sei.

Dass man nurmehr Fragment oder Atom ist, ist so geläufig wie das Reden darüber; mit Kracauer bekommt die Diskussion etwas Frisches zugeführt, an das man sich nur erinnern muss. Nicht nur die Ähnlichkeit von Umbruchsituationen begünstigt das Verständnis bestimmter Umgebungen, in denen ein Subjekt konstituiert wird, auch die Unterschiede von Kracauers Leben mit dem Erstem Weltkrieg, der Arbeit bei der „Frankfurter Zeitung“ und der Simmel-Verehrung zu heutigen Biografien erklären die Verlagerung methodischer Gewohnheiten. Dabei stets Kernpunkt (und daher wichtiger Status des phänomenologischen Vorgehens): Isolieren, Ausblenden, mit Sklovskij verfremdende Verlängerung und Verlangsamung des Wahrnehmungsprozesses. Es sind Schranken, Hindernisse, die der Wahrnehmung gesetzt werden, damit sie etwas Neues sieht, sie wird produktiv gestört, weil jeder Teil dessen, was in der Welt ist, wichtig ist. Die Hindernisse greifen die gegebenen Hierarchien an, stehen im Weg jener Wahrnehmungen, die sich mit ihren beruhigenden Vor-Urteilen nicht stören lassen wollen (deren beruhigende Seite auch im Zaum zu halten ist, da sie Anderes verhindert).

Kracauers „Hinderniskunst“ ist die Fähigkeit, Dinge so zu sehen, wie die anderen sie nicht sehen und damit neue Wahrnehmungsweisen zu ermöglichen. Kracauers Rettung der Wirklichkeit ist, wie richtig ausgeführt wird, epochéisch. Der „aufmerksame Blick […] begrenzt“, in der Formulierung Martin Seels, „ohne zu definieren“.

Aber der wahrnehmende Blick findet auch an den Gegenständen eine Grenze. Joachim Jacob schreibt über ihre „Undurchdringlichkeit“, Gérard Raulet über die „Verfallenheit ans Objekt“. Mit der Grenze, die das Objekt darstellt, wird die Interpretationsweise eine andere. Die „zart ergebene Dingangst“ (Carl Einstein in der Propyläen-Kunstgeschichte zur „Kunst des 20. Jahrhunderts“, zitiert von Jacob) fürchtet, das Innere in der Beschäftigung mit dem Ding zu banalisieren. Ein Formerlebnis, das „in Gegenstände münde(t)“ und davor Angst hat, sieht in der Berührung mit dem Gegenstand nicht zuletzt ein Versprechen der Form zerstört – hier geht es formal nicht weiter, hier ist die Grenze, durch die Materie gesetzt. Kracauer rechnet mit dem Widerstand, den der Gegenstand leistet. Ob Seelen in den Steinen sind, ist eine Frage Rilkes; dieser Bezugspunkt der Dingästhetik hilft, Kracauers Verhältnis zu den Dingen weiter zu klären. In einer Hierarchieumkehrung: Ding tritt vor Mensch. Diese Anordnung weist auf einen Zug in Kracauers Vorgehen hin, Dinge zu behandeln als solche, die etwas zu sagen haben, die nicht still sind und ohne Äußerungsorgan. Jacob führt dies weiter aus im Blick auf Rehm, Bloch, Simmel und Scheler. Sein Ergebnis ist, dass für Kracauer die Vermittlung, zentraler Modus seines Werks, nicht zu erzwingen sei. Raumbilder als „Träume der Gesellschaft“ (Kracauer, zitiert von Raulet), legen in den Vermittlungsvorgang die Note der Imagination.

Die ambivalente Konstitution des Modernebegriffs setzt die Wirklichkeit aus: Urteilen, Zuschreibungen, Verkennungen, einem Verständnis. Stephanie Waldow geht diesen Verflechtungen nach, die sich aus der Eigenschaft eines Begriffs, ambivalent zu sein, ergeben. Ihr Aufsatz schließt den zweiten Teil des Buches, „Die Objektivität der Dinge“ ab. Wie der Realismus sagt, was ist, sagt er dies oft um den Preis, Dinge als Dinge zu behandeln, die keine Dinge sind. Realismus von Verdinglichung trennen zu können, bedarf zunächst einer Untersuchung der Dingwahrnehmung bei Kracauer. Worin besteht deren Besonderheit? Sie sei verbunden mit Bilddenken (fotografischer Blick) und dem „Anspruch, die Materialität der Dinge hervorzubringen“. So wäre Kracauers Variante des Dingbegriffs eine Fähigkeit, etwas zuvor nicht Gesehenes hervorzubringen. Wie man das Ding „an sich“ hervorbringen können soll (und hier wird nicht auf Kant referiert), ist eine schwierige Frage, die als Frage nicht gestellt wird, sondern als Beobachtung daherkommt. Es geht mit Waldow um die Herstellung einer „zweiten Gegenwart“ der Sprache im poetischen Text. Dazu brauche man die „reine Sprache“ oder „Namenssprache“ (Benjamin). Also: Kracauers spezifische Redeweise als Allegorese. Und: Kracauers Rekurs auf die Einzelphänomene präsentiere die Materialität der Dinge. Will sagen: die Dinge, insofern es materielle Dinge sind. Der Vorrang dieser Qualität ist wichtig, um ein „Denken durch die Dinge“ herzustellen. Der abstrakte Vorgang nimmt die Konkretion ernst; gesehen werden ihre abstrahierbaren Anteile, die darin bestehen, dass man das jeweils Konkrete wieder verlassen kann.

Mit Benjamin, Cassirer und Blumenberg wird kontextualisiert. Die Allegorie sei die Unsicherheit, das Letzte darstellen zu können – „Reflexionsmedium für das Nachdenken über zeichenhafte Repräsentation“ (Waldow). Die Allegorie wird in ihrer Erinnerungsqualität aufgerufen; sie verbindet Vergangenheit und Zukunft. Bilder, von Benjamin „unter dem Aspekt der Schrift betrachtet“, Bildlichkeit sei Dimension der Sprache (auch hierin liegt ein Punkt des von Sybille Krämer gegenwärtig untersuchten Musters „Schriftbildlichkeit“). Benjamins „reine Sprache“, die im Bild aufblitze, ist aber auch Phantasma, ist Kondensat eines Erinnern das das Niegehörte finden will, und: das Niegesehene. Die Erinnerungsqualität der Allegorie ermöglicht die Reinheit, die darin liegt, dass etwas zuvor nicht gesagt wurde. Das Bild wird zum Prinzip, zu dem, woraus anderes seinen Ursprung hat.

Allegorisieren: Sprache ins Bild überführen. Diese Gestimmtheit wird sehr gut mit der Gestalt des Flaneurs verknüpft. Der Blick des Flaneurs hole „die Gegenständlichkeit aus ihren alten Zusammenhängen“; Allegorisieren ist Dekontextualisierungskompetenz auch jenseits der Rede von „Schnittstellen“. Der Band, der Kracauer kontextualisiert, wird so immer wieder auf eine Isolierung verwiesen, die hermeneutisch wirksam wird. Die phänomenologische epoché ist das große Muster. Sehr richtig wird gesagt, dass sprachliche Darstellung im Modus der Allegorie „Meta-Reflexion über die Darstellbarkeit selbst ist“. Dieses Bekenntnis zum Wie liegt besonders nahe, wenn, wie bei Kracauer, der Focus auf Konkreta liegt, die zum Abstrakten eben keinen Gegensatz bilden. Mit Cassirer ist, wie gezeigt wird, Benjamins „reine Sprache“ Mythos. Realismus ohne Verdinglichung nimmt das Einzelphänomen ernst, ohne dass es dafür bezahlen muss und stillgestellt wird.

Schön im Aufsatz von Günter Butzer, der die Abteilung „Der Vorrang des Optischen“ eröffnet: Dass er einen Traum-Diskurs sieht (in den 1920er- und 1930er- Jahren), um den es gehe, wenn Medien in ihrer Eigenschaft, revolutionäres Potential zu haben, thematisiert werden. Auch der Körper der Medien darf nicht verdinglicht werden; er verweist auf Dinge der Imagination. Things of the night im theoretischen Diskurs. Richtig auch die Ablehnung von Norbert Bolz’ These, „Benjamin nehme im Unterschied zu Adorno keine melancholische, sondern eine trauernde Haltung ein“.

Die Befreiung vom toten Liebesobjekt (mit Freud) gelingt auch nicht im instantanen Bild. Benjamins Texte leben nicht von der Befreiung vom Liebesobjekt, sondern vom Nachklingen einer Bindung, die es vielleicht nie gab, und die den Erinnerungsraum größer macht. Medien sind bei Butzer nicht Modethema; indes korreliert die Suche nach den utopischen Elementen in Kracauers und Benjamins Theorien mit gegenwärtigen Rückstoßbewegungen hin zu begrifflich differenzierbaren utopischen Gehalten (Judith Leiß). „Von der Belichtung zur Erleuchtung“ stelle sich die „Schaltstelle von Benjamins Konzept der Medienrevolution“ dar. „Revolution“ ist ein großes Wort, das eine Umschlägigkeit zum großen Vorher und Nachher für eine große Zahl macht. Und: Die „Zersprengung des geschichtlichen Kontinuums ist nicht vollständig zu provozieren“. Dass sie zu „provozieren“ sei, schreibt nicht nur den Mythos individueller Verursachung fort. Die „schwache messianische Kraft“ ist der Explosivstoff! Die Suche nach dem „pyrotechnischen Punkt“ wiederum scheint fast eine Verdinglichung, Lokalisierung des prozessual Gehaltenen als ein punktuell Angebbares. (Hier kommt auch die Frage nach dem Raum und verschiedenen Verortungsmechanismen auf.) Mit Benjamin (Sürrealismus-Aufsatz) liegt der pyrotechnische Punkt in der „Dingwelt“ – wie Kracauer sind ihm die Dinge nicht ruhender Endpunkt von Entwicklungen, sondern eröffnen Darstellungs- und Untersuchungsweisen – im Traum-Diskurs. Die beschriebenen Orte in Kracauers im Vergleich zu Benjamin „kühleren“ Diskurs haben Teil an diesem Traum.

Markus Schroer, ausgewiesen durch seine Forschungen zum Raumbegriff in der Soziologie, widmet sich dem in der Luft liegenden Thema der Visualisierung. Sichtbares und Unsichtbares sind das große Thema einer Zeit, in der alles daran gesetzt wird, die Wunder zu bannen und das Offenkundige zur Grundlage theoretischer Erläuterungen zu machen. Das nothing is hidden des Philosophen ist bei Kracauer „Strategie“: die Vorbehalte gegen seinen Lehrer Simmel wiederholen sich bis in den Modus der Analyse hinein, gleichsam doppeltes Außenseitertum qua Filiationsverhältnis. Aktuell sei „sein spezifischer Zugang zum Sozialen“: In Zeiten der Diversifizierung von Sinn und Bedeutung, der Medialisierung von Erkenntnisprozessen (im Zugriff auf sie wird das Medium der Übermittlung thematisiert) gebe es einen ähnlichen „Hunger nach Unmittelbarkeit“ wie zu Zeiten Kracauers. Das Übergewicht des Idealismus bezog sich nicht nur auf das, was Menschen sich wünschten (wie sie in einem Text vorkommen wollten), sondern auch, die sich durch die Beiträge des Buches hindurchziehende Pointe, auf die Darstellungsformen selbst.

Der Soziologe in „Zonen der Erfahrung“ (Peter L. Berger) bewegt sich im Vertrauten. Dieses nötigt ihm ein Staunen ab. Es geht darum, dieses Staunen über etwas in einen Anspruch zu verwandeln, der durchzusetzen ist: jener der Dinge, „um ihretwillen“ anerkannt zu werden. Die Großvokabel „Anerkennung“ des theoretischen Diskurses wird hier gleichsam romantisch gewendet. Es gilt wieder, dem Bekannten die Würde des Unbekannten zurückzugeben, es anzuschauen, als habe es etwas zu sagen, das über seine regelmäßige Gewohnheitsqualität hinausginge. Die soziologische Betrachtung (der Text Schroers erschien zuerst 2007 in einer soziologischen Zeitschrift) addiert Überlegungen aus der Heimat des Konstruktionsgedankens. Sozialität bedeutet indes etwas anderes als etwa bei der Kritischen Theorie, wie ausgeführt wird: KT als vom „Thron der Philosophie“ gemacht, „zu fein“ für die kleinen Dinge – das Diktum „wunderlich“ sprach hier deutlich die Wahrnehmung eines Abseitig-Schrulligen aus, das den kleinsten Dingen zuviel Aufmerksamkeit schenkte (und auf eine kritisierbare Weise). Gelegentlich wiederholen sich die Beobachtungen der Texte (Invektiven gegen die Reportage, die es sich zu leicht mache als erschlichene Unmittelbarkeit, Konstruktionsgedanke, Wendung gegen den deutschen Idealismus, Raumbilder als Träume der Gesellschaft).

Das Gesagte wird aus verschiedenen Perspektiven vertieft. Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit stehen in einem umschlägigen Verhältnis, das man früher Dialektik nannte: gerade ihre große Sichtbarkeit führte dazu, dass die Angestellten unsichtbar lebten. Ihre Zahl ist groß, aber nicht der zugeschriebene Wert; so erweist sich Sozialität einmal mehr als Distributionsort von Relevanz. Das allzu Sichtbare ist durch diese allzu große, unbefragte Sichtbarkeit alltäglich – und damit wie unsichtbar. Der interpretative Zugriff der Mehrheit entscheidet über die Sichtbarkeit im Raum, der nicht mehr absolut ist. Wenn die Phänomene nicht mehr angefüllt sind in einen Behälter wirkt Spezifik vor Anordnung. Sichtbarkeit ist bei Kracauer verbunden mit einer Relativierung absoluter Raumkonzepte. Die unsichtbar-animistische Beobachterposition Kracauers (wie eine „versteckte, mobile Kamera“ (Schroer)) will nicht gesehen werden, wie nicht gesehen wurde, was sie sieht. Sach- und Selbstaussage gehen ineinander über. Die Visualisierungsanstrengung betrifft auch das visualisierende Subjekt. Mit Schroer hat das Gegensatzpaar Sichtbarkeit/Unsichtbarkeit deshalb eine erkenntnistheoretische Pointe.

Das nothing is hidden ist Kracauers dringende Empfehlung im Blick auf die Erkenntnisvermögen. Was allzu offen zutageliegt, können wir nicht erkennen, was auch an Kracauers Filmtheorie verdeutlicht wird. Auch die Leinwand hat die „Mission“, das Ungesehene zu zeigen und es mit der Dignität des eindeutig Exponierten zu versehen; im Kino zahlen die Menschen für eine Sichtbarwerdung des Ungesehenen, die sie als Zuschauer einschließt. Klar wird, dass man einer Sache, von der man spricht, seine Gedanken gönnt. Über etwas nachzudenken ist ein Vorgang des Gebens. Die Objekte haben, mit der Zäsur Kracauer, lange genug darauf gewartet, die Blicke und Gedanken zu empfangen, und wenn der deutende Blick „durch die Dinge“ geht, haben sie am Erkenntnisvorgang teil. Das „Zeitalter der Vergleichung“ (Scheler), eine mögliche Benennung des Globalisierungstrends, hat das Bewusstsein einer polyvalenten Perspektive als Aufgabe der Interpretierenden erkennbar werden lassen. So hat Kracauer auch als „einer der Pioniere der qualitativen Forschung“ in der Wissenschaftslandschaft seinen Platz.

Nach einem Text von Claus Volkenandt, der sich einem sehr spezifischen Sujet (dem Gruppenporträt) widmet und besonders Kunsthistoriker (Kracauer studierte Architektur und Kunstgeschichte) anspricht, beschließt Detlev Schöttker den Band mit einem Ausblick zu Kracauer und dem Warburg-Kreis. Abschließend werden „Bild, Kultur und Theorie“ in einen Zusammenhang gebracht, der nicht nur die Aktualität Kracauers betont (das wäre, als einziges, ein zu geläufiges Kriterium), sondern die Entstehung kulturwissenschaftlicher Positionen beleuchtet: hier noch unverflochten mit den Klischees einer vorgefertigten Rolle, sondern verbunden mit der Frische des gerade eben in einem historisch konstellativ einmaligen Punkt Erkannten.

Der Sammelband „Denken durch die Dinge“ stellt ein empfehlenswertes Konglomerat an Perspektiven dar, die helfen, Kracauers Werk neu zu erläutern; der Anspruch der Kontextualisierung wird eingelöst. Manche Wiederholung ist der Aufsatzform geschuldet, wird aber kaum je redundant. Zusammen mit der rororo-Monografie über Kracauer von Momme Brodersen ist der Band ein gutes Einführungspaket. Kracauers Ideen sind für uns aktuell, weil sie es einmal in höherem Maße waren; der Abschied von diesem Kriterium zugunsten des Wissens um die kontinuierliche Wachheit eines Gegenstandsbereiches zeigt das „Denken durch die Dinge“ als konkretes Tun, dessen metaphysischer Anklang durch die Arbeit an den Dingen mit Sichtbarkeit belohnt wird.

Titelbild

Frank Grunert / Dorothee Kimmich (Hg.): Denken durch die Dinge. Siegfried Kracauer im Kontext.
Wilhelm Fink Verlag, München 2009.
229 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-13: 9783770546213

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