Dichterische Freiheit im Zeitalter der Regelpoetik

Jörg Wesche konstatiert in seiner Dissertation Diversität statt Normierung in der deutschen Barockpoesie

Von Christoph Schmitt-MaaßRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christoph Schmitt-Maaß

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die beeindruckende Vielfalt literarischer Produktionen des Barock macht diese ungewöhnlich fruchtbare Epoche immer noch zu einer terra incognita. Gleichzeitig herrscht – zumal im akademischen Lehrbetrieb – immer noch die Meinung vor, barocke Dichtung (Poesie zumal) sei konformistisch, normiert und austauschbar. In der jüngeren Barockforschung vollzieht sich jedoch seit längerem ein Wandel: die intersiziplinäre und transkulturelle Ausrichtung der Frühneuzeitforschung hat neue Kontexte eröffnet, die die relative Gestaltungsfreiheit barocker Poesie in den Blick nimmt. Jörg Wesches Göttinger Dissertation knüpft an diese jüngere Tradition an und versucht zwei Fragen zu beantworten: die Frage nach der Variabilität von Barockliteratur soll anhand ausgewählter poetologischer Schriften und Konzentration auf einige poetische Genres erläutert werden; gleichzeitig entwickelt Wesche eine Terminologie, die es erlaubt, einen systematischen Zugang zu Phänomenen der literarischen Diversität zu finden und ein epochenübergreifendes Erklärungsmodell zu liefern.

Diversität versteht Wesche zunächst (in Übernahme biologischer Erklärungsmuster) als Oberbegriff für unterschiedliche Formen literarischer Vielfalt: anhand von Opitz’ „Poetischen Wäldern“ und Gryphius’ Baldanders-Figur aus dem „Simplicius“ (immer im Abgleich und mit Blick auf die vorhandene umfangreiche Forschungsliteratur) entwickelt Wesche das Spannungsfeld von poetischer und poetologischer Ordnungskonformität und Regelverletzung, das barocke Literatur situieren hilft. Unter Rückgriff auf Harald Frickes Überlegungen zur Abweichungspoetik konstituiert Wesche verschiedene textuelle wie generische Normverletzungs-Möglichkeiten, die er zu verbinden versucht. In seiner analytischen Darlegung, die sich auf die Auswertung von generischen Anthologien stützt, gewinnt Wesche ein Raster verschiedener Abweichungsmöglichkeiten, die die Spielraumlizenzen genauer umreißt. So problematisch wie notwenig erscheint hier die katalogartige Aufbereitung poetischer wie poetologischer Abweichungsmöglichkeiten, weil sie den Gegenstand aus rezeptionsgeschichtlicher Perspektive bescheidet, ohne Abgrenzungsstrategien in den Blick nehmen zu können.

Konsequenter Weise konzenrtiert sich Wesche im abschließenden Kapitel auf die Auswertung bisland vernachlässigten Quellen-Materials, statt sich von (selektierenden und restriktierenden) modernen Anthologien leiten zu lassen. Anhand der barocken Reyengestaltung gelingt es Wesche aufzuzeigen, wie eine poetologische Lücke eine vielseitige metrisch-formale Gestaltung geradezu provoziert. Der Schwerpunkt der Analyse der Poetiken liegt um 1700; hier kann Wesche auch einen Verlust von Normierungsansprüchen festmachen: Abweichung wird zur Regel, Regel verkommt zu Beispiel. Das mag nun wenig überraschend erscheinen, aber Wesche zeichnet im besonders gelungenen, da textnah argumentierenden dritten Teil nach, welchen Formen der Differenzierung in der Barockpoetik möglich waren. Es wird Aufgabe der Forschung sein, an die gewinnbringende Fragestellung Wesches anzuknüpfen und sie auf andere Teilbereiche zu übertragen. Nur so, durch eine „Analysis, die nicht mit der Feststellung von Regeln“ (Walter Benjamin: Trauerspielbuch) sich begnügt, läßt sich ein differenzierteres Bild jener Epoche gewinnen, die durch ihre Fülle auch heute noch zu beeindrucken vermag.

Titelbild

Jörg Wesche: Literarische Diversität. Abweichungen, Lizenzen und Spielräume in der deutschen Poesie und Poetik der Barockzeit.
Max Niemeyer Verlag, Tübingen 2004.
325 Seiten, 58,00 EUR.
ISBN-10: 3484181737
ISBN-13: 9783484181731

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