Individuelle Schicksale zwischen Politik und Bürokratie

Norbert Frei, José Brunner und Constantin Goschler haben einen Band über die politische „Praxis der Wiedergutmachung“ herausgegeben

Von Norbert KugeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Norbert Kuge

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als die Verbrechen der Deutschen nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges in ihrem ganzen Ausmaß bekannt wurden, ging es zuerst darum, die Gesetze und Verordnungen der Nazis außer Kraft zu setzen und die Schuldigen vor Gericht zu stellen. Also kümmerte man sich erst um die Täter. So unzulänglich dies auch durchgeführt wurde, die Opfer und die Einsicht beziehungsweise Bereitschaft zu einer möglichen „Kompensation“ kamen erst später in den Fokus der Politik. Als 1952 das deutsch-israelische Luxemburger Abkommen unterzeichnet und ein Jahr später durch das Bundesergänzungsgesetz (BEG) und 1956 durch das Bundesentschädigungsgesetz (BG) ergänzt wurden, ging man noch von einer kurzen Zeitspanne dieser „Wiedergutmachung“ aus.

Als man diese Gesetze und Abkommen beschloss, dachte man, dass man nur wenige Jahre damit zu tun haben werde. Dieses schwierige Thema für eine interessierte Öffentlichkeit in seinen vielfältigen Facetten aufgearbeitet zu haben, ohne dass Vollständigkeit angestrebt und erreicht wurde, ist das Verdienst des Bandes, den Norbert Frei, José Brunner und Constantin Goschler herausgegeben haben. Es ist für heutige Leser kaum noch vorstellbar, welche Auseinandersetzungen in den 1950er- und 1960er- Jahren die Wiedergutmachungsleistungen der BRD insbesondere in Israel, aber auch in der Bundesrepublik auslösten. Auch darüber ist in der Einleitung des Buches viel nachzulesen. In vier Abschnitten sind die insgesamt 24 Aufsätze thematisch gegliedert. Im ersten Abschnitt mit dem Titel „Geschichte und Geschichten“ wird über Einzelschicksale und Famlientragödien, über Entschädigungen für ein Kibbuz und für Kölner Juden bis hin zu der Geschichte der SPD und Ausgrenzung der Kommunisten berichtet. In den anderen Kapiteln geht es um die Anerkennung von Opfergruppen und ihre Ausgrenzungen, um psychisches Leid, dessen Entschädigung sowie im letzten Kapitel um Recht und Gerechtigkeit.

Der Schwerpunkt des Bandes liegt auf den 1950er- und 1960er- Jahren. Wie von den Autoren aufgezeigt wird, ging es in den Gesetzen und Vereinbarungen der Intention nach um rassisch, politisch und religiös Verfolgte, die einen Antrag auf Entschädigung stellen durften. Die Entschädigung zielte zunächst aber nur auf einen eingeschränkten Personenkreis, nämlich deutsche Verfolgte, was aus heutiger Sicht sicherlich falsch war. Hier wurde im Lauf der Jahre nachgebessert, insbesondere nach der Auflösung des Ostblocks nach 1989.

Bis dahin erhielten Verfolgte aus diesen Ländern keinerlei individuelle Entschädigungen. Auch bei Entschädigungen für Zwangsarbeiter des „Dritten Reiches“ wurde bekanntlich eine Vereinbarung getroffen. Die Vereinbarung mit Israel über die Wiedergutmachung war als Globalabkommen zwischen den beiden Saaten ausgehandelt worden und schloss damit individuelle Ansprüche einzelner aus. Wer als Verfolgter eine Entschädigung beantragen wollte, hatte es nicht nur wegen der Globalabkommen, die auch mit anderen Staaten geschlossen worden waren, schwer, zu seinem Recht zu kommen. Das Selbstbild der ehemals Verfolgten kollidierte häufig mit der Konstruktion der Wiedergutmachungsbürokratie, zumal deren Grundprinzip auf Einzelfallgerechtigkeit und auf Wiederherstellung der sozialen Position angelegt war. Wie an vielen Beispielen gezeigt werden konnte, war eine weitere Schwierigkeit die Tatsache, dass materielle Schäden gegenüber dem Leid der Verfolgten, der erlittenen Gewalt und dem Terror privilegiert worden waren. Man könnte sogar überspitzt sagen, „dass das BEG jenen NS-Opfern, die in geringerem Ausmaß unter der Verfolgung gelitten hatten, grundsätzlich mehr Entschädigung zukommen ließ als jenen, die schwere Gefahren, schlimmste Erniedrigungen und größere Leiden durchgemacht hatten“.

So wurden etwa für einen Tag Haft gerade einmal 5 DM gezahlt. Dass es unter diesen Umständen für viele Antragsteller, es waren von 1953 an circa 4,5 Millionen Anträge, von denen etwa die Hälfte abgelehnt wurden, eine enorme psychische Belastung darstellte, ihre Ansprüche zu verfechten, dürfte begreiflich sein. Denn es bedeutete, stets wieder an das erlittene Unrecht, an das Verlorene und an die Verlorenen denken zu müssen. Ebenso grotesk war es für viele Antragsteller, dass zum Teil dieselben Bürokraten und Juristen über ihre Anträge entschieden, die im „Dritten Reich“ für das ihnen zugefügte Unrecht verantwortlich waren. So ist es auch paradox, dass bis 2007 circa 65 Milliarden Euro an Wiedergutmachung geleistet wurden, dass aber die meisten Opfer entweder überhaupt keine oder nur reichlich verspätet eine symbolische Leistung erhielten. Als Gesamtbetrag hört sich die Summe relativ hoch an, und sie ist sogar noch deutlich höher, würde man die Inflation beziehungsweise Kaufkraft berücksichtigen.

Aber stark belastet hat diese Summe die Bundesrepublik trotzdem nicht, da sie jährlich nie mehr als 1% des Bruttosozialprodukts und weniger als 4% der staatlichen Gesamtausgaben betrug. Da es keine Vorbilder für solche Entschädigungsleistungen gab, war es ein Learning by Doing, wie dies der israelische Botschafter Shimon Stein charakterisierte. Sicher ist die Geschichte der Wiedergutmachung, schon die Bezeichnung ist sehr problematisch, da man keine Toten oder immaterielle Schäden „wiedergutmachen“ kann, kein Patentrezept für künftiges Handeln, aber dass die Bundesrepublik wenigstens versucht hat, etwas für die Opfer und deren Angehörigen zu leisten und Not zu lindern, verdient doch eine gewisse Anerkennung, denn die DDR oder Österreich haben sich niemals dieser Verpflichtung gestellt.

Dass diese Wiedergutmachung allerdings eine Voraussetzung für die schnelle Rückkehr der Bundesrepublik in den Kreis der demokratischen Völker war, sei hier ausdrücklich erwähnt. Wer sich einen Überblick über die komplizierte Geschichte und Praxis der Wiedergutmachung verschaffen will, ist mit diesem Buch sehr gut bedient, denn er erfährt viel Neues und Grundsätzliches zu diesem düsteren Kapitel der deutschen Geschichte.

Titelbild

Norbert Frei / José Brunner (Hg.) / Constantin Goschler: Die Praxis der Wiedergutmachung. Geschichte, Erfahrung und Wirkung in Deutschland und Israel.
Wallstein Verlag, Göttingen 2009.
773 Seiten, 52,00 EUR.
ISBN-13: 9783835301689

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