Alltägliches Grauen

Zu Katarzyna Zentners im ganzen verdienstvoller, in einigen Details jedoch recht bedenklicher Untersuchung „Mensch im Dunkeln“ über die osteuropäischen Opfern des Frauenhandels

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es gibt Bereiche im Leben, in denen ist die praktische Befähigung wichtiger als die theoretische. Im Profifußball gilt dies wohl für die SpielerInnen. Umgekehrt dürfte es jedoch im Fall ihrer TrainerIn sein. Hier sind die praktischen Fertigkeiten eindeutig weniger relevant als die theoretischen Kenntnisse. Fast immer aber ist es von Vorteil, sowohl theoretisch beschlagen wie auch praktisch erfahren zu sein.

Katarzyna Zentner besitzt in ihrem Berufsfeld beide Eigenschaften. Ihr wissenschaftliches Fachgebiet ist die Sozialpsychologie mit dem Schwerpunkt Psychotraumatologie und sie arbeitet seit einem guten Dutzend Jahre bei „Kobra“, einer in Hannover ansässigen Beratungsstelle für Opfer von Menschenhandel. Dort ist sie für die muttersprachliche Traumaberatung von Frauen zuständig, die aus osteuropäischen Ländern als Prostituierte in deutsche Bordelle oder an hier lebende Zuhälter verkauft wurden. Nun hat sie unter dem Titel „Mensch im Dunkeln“ eine „qualitative Fallstudie zu osteuropäischen Opfern von Frauenhandel“, die vor den deutschen Ermittlungsbehörden aussagten, veröffentlicht. Wie der Untertitel verspricht und der Inhalt hält, hat die Autorin mit ihrer an der Universität Hannover als Dissertation zugelassenen Arbeit einen „Beitrag zur Psychotraumatologie“ vorgelegt.

Zentners Studie zeichnet aus psychotraumatologischer Perspektive chronologisch nach, was mit den gehandelten Frauen „passiert“ und „in welcher psychischen Verfassung sie sich befinden“. Dabei arbeitet sie nicht nur deren „komplexe Extremtraumatisierung[en]“ heraus, sondern analysiert zudem die „Schutz- und Verdrängungsmechanismen und die frühere Belastungserfahrung der Opfer im Hinblick auf die aktuell erlebten Traumata“. In diesem Zusammenhang prägt sie den Neologismus „Frauenhandelssyndrom gleich Syndrom der modernen Sklaverei“.

Hier ist nun eine erste Kritik zu üben, denn dieser Terminus impliziert, dass sich Frauenhandel und Sklaverei nicht unterscheiden, womit die spezifisch sexuelle Komponente ausgeblendet wird, die für den Frauenhandel und die Traumatisierung von deren Opfer nicht ganz unwesentlich sein dürfte. Doch weiß natürlich auch Zentner um die besondere Bedeutung des sowohl geschlechtsspezifischen wie auch sexuellen Moments des Frauenhandels und so auch der Traumatisierung seiner Opfer. So unterstreicht sie etwa selbst die zentrale Rolle, welche die erlittene „Überschreitung der intimsten Körpergrenzen“ bei der Traumatisierung von zum Zwecke der (Zwangs-)Prostitution gehandelter Frauen spielt. Dabei zeigt sie, dass und wie die Traumatisierungen in den Heimatländern der betroffenen Frauen beginnen und in der deutschen Bordell-, Zuhälter- und Freierszene fortgeführt werden. Mehr noch als hierauf fokussiert die vorliegende Arbeit jedoch auf „retraumatisiernde Situationen“, denen die Frauen nach ihrer Befreiung in Deutschland als Opferzeuginnen bei der Polizei und vor Gericht, aber auch schon bei ‚normalen‘ Behördengängen ausgesetzt sind. Wenn sie dort wiederum als Objekte behandelt werden, werden die Traumata „vertieft und reaktiviert“.

Mithilfe ihrer theoretischen Ausführungen und anhand von neun „biographischen Falldarstellungen“ belegt die Autorin in ihrer gründlich recherchierten Untersuchung detailliert die Retraumatisierung, die viele Opfer des ebenso schrecklichen wie in Deutschland „alltäglichen[n] Geschäfts“ des Frauenhandels als Opferzeuginnen in den oft jahrelangen Gerichtsverfahren erleiden. Zu den gravierendsten „Symptombereichen“ der „posttraumatischen Belastungsstörungen“, unter denen die Frauen nach ihrer Befreiung noch Jahre und oft sogar ihr ganzes Leben lang leiden, zählen anhaltende Schlafstörungen, Unsicherheit, Albträume und Todesängste sowie Störungen der Affektregulation, Veränderungen des Bewusstseins, Depersonalisation/Derealisation, gestörte Selbstwahrnehmung, Veränderung in der Wahrnehmung des Täters, Veränderungen sozialer Beziehungen, Veränderungen von Stimmungslagen und Einstellungen und nicht zuletzt ganz grundsätzliche andauernde Persönlichkeitsveränderungen.

Das Verdienst, das sich die Autorin damit erworben hat, Licht ins Dunkel des furchtbaren Verbrechens Frauenhandel und dessen finstersten Ecken – die Traumatisierungen der betroffenen Frauen zu bringen – ist kaum hoch genug zu veranschlagen. Doch können einige Schwächen ihrer Arbeit nicht stillschweigend übergangen werden.

Verwirrend ist etwa, wenn Zentner erklärt, zum „Victimisierungssyndrom“ zähle die „angemessene Bagatellisierung von zugefügten Verletzungen“. Ganz offenbar ist da nicht nur ein „un“ verloren gegangen, sondern es stellt sich auch die schwerlich zu beantwortende Frage, was denn überhaupt eine angemessene Bagatellisierung sein könnte.

Doch das ist kaum mehr als eine fast zu vernachlässigende Quisquilie. Geradezu erschütternd ist hingegen, dass Zentner glaubt, „freiwillige Prostitution und Menschenhandel zum Zweck der sexuellen Ausbeutung [seien] klar zu trennen“. Zu zahlreich und zu bekannt sind die Beispiele für menschengehandelte Frauen und Zwangsprostituierte, deren Persönlichkeit durch ständige Vergewaltigungen und den anhaltenden Zwang sich prostituieren zu müssen, derart zerstört wurde, dass sie sich nach ihrer Befreiung wieder ‚freiwillig‘ der Prostitution unterwerfen. Ganz abgesehen davon ist es auch fraglich, ob überhaupt von freiwilliger Prostitution gesprochen werden kann, da doch zumindest immer die Notwendigkeit, den Lebensunterhalt bestreiten zu müssen, im Hintergrund stehen dürfte.

Des weiteren ist der von Zentner benutzte Ausdruck „Sexarbeiterinnen“ zu monieren. Denn aufgrund seiner legitimierenden Konnotation verfüllt er – gewollt oder ungewollt – eine verharmlosende Funktion. Und der Begriff der „sexuelle[n] Ausbeutung“ klingt sogar gerade so, als seien die Frauen nur unterbezahlt. Mit diesem letzten Ausdruck macht sich die Autorin im Übrigen den Sprachgebrauch der Paragraphen 232 und 233 des Strafgesetzbuches zu eigen, welche die Vorstellung der früheren rotgrünen Bundesregierung widerspiegeln, die das sogenannte „Prostitutionsgesetz“ verabschiedete, mit dem die Integration der Prostitution legalisiert und legitimiert werden sollte.

Auch dass Zentner H. Feldmanns „[s]oziale Definition der Vergewaltigung“ übernimmt, ist kritikwürdig. Dieser Definition zufolge ist „[d]as gewaltsame Eindringen in den persönlichen Innenraum des Körpers“ zwar der „schwerstmögliche Angriff auf das intimste Selbst der Frau“, doch sei „[s]exuelle Befriedigung für den Vergewaltiger“ dabei nur „zweitrangig“, denn die Sexualität sei ihm nicht „Selbstzweck“. Vielmehr stelle er sie „instrumentell in den Dienst von Gewalt- und Machtausübung“. Kritikwürdig ist diese mit dem ebenfalls zu hinterfragenden Begriff der sexualisierten Gewalt korrespondierende Definition, weil sie impliziert, dass es gewaltsame Handlungen – mit oder ohne Penetration der Frau –, bei denen es dem Täter in erster Linie um seine sexuelle Befriedigung geht, entweder nicht gibt, oder aber, dass sie – falls es sie doch geben sollte – keine Vergewaltigungen sind.

Titelbild

Katarzyna Zentner: Mensch im Dunkel. Eine qualitative Fallstudie zu osteuropäischen Opfern von Frauenhandel ; ein Beitrag zur Psychotraumatologie.
Peter Lang Verlag, Frankfurt/M. 2009.
357 Seiten, 56,80 EUR.
ISBN-13: 9783631595541

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