Blick auf ein fremdes, bekanntes Land

James Crump hat für das Cincinatti Art Museum eine beeindruckende Walker-Evans-Retrospektive zusammengestellt

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Kein Zweifel, Walker Evans (1903-1975) gehört zu den ganz Großen der amerikanischen Fotografie der 20. Jahrhunderts. Sein Einfluss auf die sozialkritische Fotoreportage ist immens. Basis dieses Ruhms und dieses Einflusses sind seine Fotografien aus den von der Rezession geplagten Vereinigten Staaten, die zwischen 1935 und 1938 entstanden und die er 1938 in seiner ersten großen Werkschau vorstellen konnte: Die Ausstellung im New Yorker Museum of Modern Art, „American Photographs“ betitelt, gehört zu den Meilensteinen der sozialkritischen Fotografie, die damit zugleich als Kunst gewürdigt wurde. Der gleichnamige Katalog, der seitdem immer wieder aufgelegt wurde, ist einer der Klassiker des Fotobuchs des 20. Jahrhunderts, in Deutschland vielleicht vergleichbar mit August Sanders’ Bestandsaufnahme deutscher Gesichter „Antlitz der Zeit“. Die 1941 gemeinsam mit James Agee herausgebrachte Fotoreportage „Let us now praise famous men: three tenant families“ (auf deutsch mit dem Titel „Preisen will ich die großen Männer“) ist gleichfalls als Klassiker in die Geschichte der Fotoreportage eingegangen.

Berühmte Bilder hat Evans geschossen, Ikonen des amerikanischen Westens und des kollektiven amerikanischen Bewusstseins, die aber nur teilweise im vorliegenden, von James Crump verantworteten Begleitband zu einer Evans-Retrospektive in Cincinatti berücksichtigt worden sind. Es fehlt die „Mutter mit dem Kind“, das wohl berühmteste Bild Evans’, zu finden sind aber zahlreiche Werke aus dem Umkreis der großen Reportagen: Die Fotografien aus New Orleans, die dokumentarisch auftretenden Aufnahmen von Häusern von Minenarbeitern neben anachronistischen Nachbauten klassischer Baustile, wie das zu Geld gekommene Amerika sie liebt.

Nicht also nur der „klassische“ Walker Evans ist hier zu sehen: James Crump und das Cinicinatti Art Museum haben ein viel weiter gehendes Projekt gewagt. Sie zeigen nämlich nicht nur die Fotos seiner berühmten Periode, also den 1930er- und 1940er-Jahren. Stattdessen versuchen sie sich an einer Gesamtschau seines Werks, auch mit dem Hinweis darauf, dass Evans nach dem Krieg ein zwar bekannter, aber zugleich auch vernachlässigter, beinah schon vergessener Fotograf war. Seine Jahre für die US-amerikanische Zeitschrift „Fortune“, zwischen 1945 und 1961, waren auch Jahre, in denen seine Bedeutung eben nicht beachtet wurde. Produktiv waren sie allemal.

Allerdings ist das Gros in jenem typischen Ton gehalten, der Evans’ Frühwerk kennzeichnet. Bis auf das Spätwerk schwarzweiß, sind es Aufnahmen jenes Amerika, das eben nicht blendend und machtvoll dasteht, sondern das seine Bürger allein lässt. Die Armut ist im Überfluss zu sehen. Selbst Fotografien der 1960er- und 1970er-Jahre könnten – wenn nicht wenige Ausstattungen auf ihre Entstehungszeit verweisen würden – aus den 1930er- und 1940er-Jahren stammen. Evans’ Werk ist damit durchgängig von der großen Depression geprägt, und das eben nicht nur, weil er einer der Großen der Schwarzweiß-Fotografie ist.

Denn auch das schmale Spätwerk, zumindest soweit es Crump zeigt, ist diesem Erbe und diesem spezifischen Zugriff, der Evans auszeichnet, verpflichtet. Bemerkenswerterweise hat Evans für diese späten Fotografien aus den frühen 1970er-Jahren die damals avancierteste Fototechnik verwandt, nämlich Polaroids. Ein schnelles Medium und ein kleines zugleich, das zudem nur Originale produziert und keine Abzüge ermöglicht wie die konventionelle Negativ-Fotografie.

Für diese Arbeiten konzentrierte sich Evans auf die markanten Symbole einer industrialisierten Gesellschaft, auf Fahrbahnmarkierungen, auf Hausinschriften oder Gebäudedetails. Allesamt Motive, die dem Verfall gewidmet sind, der imperfekten Oberfläche, die sich spätestens mit der Zeit herstellt.

Auch diese Fotos weisen jenen wehmütig aufgeladenen Ton der frühen Arbeiten auf, zeigen den ruhigen, dabei intensiven Blick des Fotografen auf sein Sujet und die bittere Wehmut, die darin verborgen zu sein scheint.

Das Frühwerk hingegen, das vor seinen bekannten Amerika-Arbeiten entstanden ist, zeigt allerdings einen Fotografen, der noch auf der Suche nach seinem Gegenstand, seiner Technik und seinem Zugriff ist. Crump zeigt Porträts neben Innenaufnahmen, die Bilder zeigen einen Fotografen, der sich, wie die meisten seiner zeitgenössischen Kollegen, für Strukturen interessiert, dabei aber einer von vielen bleibt.

Aber auch die ersten Architekturfotos, die eine klare Handschrift Evans aufweisen, entstehen in den 1920er- und frühen 1930er-Jahren. Frontal, klar abgegrenzt, für sich stehend – diese Gebäudefotos sind frühe Zeugnisse für einen kritischen Blick auf ein Land, das voller Widersprüche war und ist.

Ein wenig befremdlich ist jedoch Crumps Essay über Walker Evans und John Szarkowski, dem Nachfolger des berühmten Edward Steichen als Leiter der Fotoabteilung des Museums of Modern Art, der sich auf ertragreiche Spurensuche begibt. Zwar transportiert der Essay auch einiges zur Biografie Evans’, und er zeigt eben auch seine schwierigen Jahre in den 1950er-Jahren, als er in Vergessenheit zu geraten drohte. Aber als zentraler Beitrag zu einer ansonsten als Überblick über Walker Evans’ Werk angelegte Publikation wirkt das Essay eher deplatziert.

Titelbild

James Crump: Walker Evans. Decade by Decade.
Hatje Cantz Verlag, Ostfildern 2010.
254 Seiten, 49,80 EUR.
ISBN-13: 9783775724913

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