Das alte Lied

Zu Ulrike Kolbs neuem Roman „Yoram“.

Von Olga MartynovaRSS-Newsfeed neuer Artikel von Olga Martynova

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Bei aller offiziell gepflegten Betroffenheit scheint das Thema Holocaust ein Nischendasein zu fristen. Das „breite Publikum“ fühlt sich genug unterrichtet und horcht nur dann auf, wenn es vom „eigenen“, deutschen Leiden hört: von den Bombardierungen, von den Vertriebenen, vom Benehmen der Rotarmisten im besiegten Deutschland. Niemand, zumindest in anständigen Kreisen, sagt, dass das Eine mit dem Anderen aufgewogen sei. Doch man spürt buchstäblich die „therapeutische Wirkung“ des „Anderen“. Denn: Wenn man das Eine mit dem Anderen aufwiegt, kann man beides ad acta legen und „unbelastet leben“. „Diese alte Geschichte“, so heißt das immer häufiger.

Was soll ein deutscher Gegenwartsautor tun, wenn er sich heute, im 21. Jahrhundert, nicht über diese „alte Geschichte“ hinwegsetzen kann, aber auch die gebetsmühlenartige Betroffenheit vermeiden will? Die 1942 geborene Ulrike Kolb, die zur Nachkriegsgeneration gehört, und damit auch zu den in so vieler Hinsicht von der „alten Geschichte“ geprägten 68ern, hat eine scheinbar einfache, aber wirksame Lösung gewählt: Sie hat ihrer Protagonistin kein allgemeines, sondern ein persönliches Interesse gegeben.

Die Ich-Erzählerin Carla, eine junge Deutsche, kommt etwa 1970 nach Israel, um in einem Kibbuz „antiautoritäre Erziehungsmethoden“ zu erforschen. Sofort wird sie von einem Kibbuzbewohner mit ihrem Deutschtum konfrontiert: „Weil immer wieder Leute aus Deutschland hierherkommen, die meinen, die Juden müssten wie Engel sein, nach allem, was sie doch durchgemacht haben“. Noch bevor seine Suada zu Ende ist, verliebt sie sich in ihren künftigen Mann Yoram, einen Freund dieses Kibbuzniks, der zwischen Deutschland und Israel pendelt. Nachdem er sich, nicht zuletzt wegen Carla, für Deutschland entschieden hat, beginnt er an seinem Entschluss zu zweifeln. In Yoram existieren mehrere Persönlichkeiten: Ein Sohn der Überlebenden mit allen dazu gehörenden traumatischen Komplexen; ein deutscher Architekt, der seinen Beruf liebt; ein gebürtiger Israeli, in der Überzeugung aufgewachsen, dass seine Generation sich nicht würde abschlachten lassen.

Als Carla Yoram von den Worten ihrer geliebten Großmutter erzählt: „Ach, die Juden, von denen gibt’s immer noch zu viel“, ist er erstaunt, aber nicht besonders beeindruckt. Sie haben ausgemacht, „diese Dinge“ aus ihrer Beziehung auszuklammern.

Aber Carla stellt fest: Wenn dich „diese Dinge“ persönlich angehen, rücken sie von allen Seiten an dich heran. Mal fliehen Carla und Yoram von einer Hochzeit, bei der stolz von einem Onkel gesprochen wurde, der in seinem Gestüt sogar den Kommandanten von Auschwitz hatte begrüßen dürfen, und überhaupt: „es war einfach toll damals, soll man da lügen?“ Mal sind sie bei einem sympathischen Künstlerpaar in Charlottenburg eingeladen, eine zahlreiche Gesellschaft, man spricht über Kunst, Bücher, Kinder, bis das Gespräch auf den 11. September kommt: „Alle Juden, die normalerweise im World Trade Center gearbeitet hätten, seien vorher gewarnt worden“.

Parallel wird die Geschichte von Yorams Mutter, Aliza, erzählt, die Mitte der 1930er-Jahre aus Berlin nach Palästina ging. Ihre Eltern, die sie 1938 besuchten, kehrten aus diesem wilden Land (schreckliches Klima, keine Kultur – Orient!) ins zivilisierte Berlin zurück. 1938! Sie und Alizas kleiner Bruder wurden deportiert und umgebracht. Alizas Tragödie wird für Carla zu einer fixen Idee, besonders nachdem sie einige Einzelheiten aus der Kriegsvergangenheit ihres eigenen Vaters erfährt. Das treibt sie zum Nervenzusammenbruch, fast zum Wahnsinn. Je konzentrierter sie darüber nachzudenken versucht – und sie ist eine gebildete und in Sachen intellektuelle Spekulationen 1968 geschulte Frau –, desto auswegloser sieht sie die Situation. Das Problem „Kinder der Täter – Kinder der Opfer“ gibt es in diesem Buch allerdings nicht. Ulrike Kolb – und das ist sehr wichtig – grenzt ihre deutsche Protagonistin von den deutschen Juden nicht ab. Es geht um ein gemeinsames Problem: das Leben nach der Shoa. Und es gibt keine Lösung, die die innere Ruhe eines Europäers wiederherstellen könnte, eines Menschen, der an Fortschritt und Aufklärung glaubt (Alizas Familie wurde letztendlich zu Opfern dieses Glaubens).

Josef Brodsky wurde in einem Interview gefragt, was er von dem berühmten Adorno-Satz hält, dass das Gedicht nach Auschwitz unmöglich sei. Er fragte gereizt zurück, ob man nach Auschwitz die Toilette benutzen darf. Das heißt, man kann sich dem Leben nicht entziehen, aber das bedeutet nicht, dass man sich dem Problem entziehen darf. Nachdem Carlas innere Verfassung und teilweise ihre Beziehung zu Yoram in eine Sackgasse geraten, wird die Ich-Erzähler-Funktion an die nächste Generation übergegeben: an die Tochter von Carla und Yoram, Vered, die trotz ihrer noch größeren Entfernung von der „alten Geschichte“ von dieser Vergangenheits-Belastung nicht frei ist. Was auf den letzten Seiten des Buches klar wird: Es handelt nicht vom Holocaust. Es handelt von unserer Gegenwart, in der der Holocaust langsam aber sicher vergessen wird. Genauer gesagt, die Leute glauben, sich das nun endlich leisten zu können. Gegen dieses Vergessen ist kein Kraut gewachsen. Aber es gibt Menschen, bei denen das Kraut „Vergessen“ nicht wirkt. Zu ihnen gehört Ulrike Kolb.

Titelbild

Ulrike Kolb: Yoram. Roman.
Wallstein Verlag, Göttingen 2009.
288 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783835305595

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