Anrausch eines großen Traums

Friederike Reents’ brillante Benn-Monografie beobachtet die Geburt eines lyrischen Ichs

Von David WachterRSS-Newsfeed neuer Artikel von David Wachter

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Das ist reines Gelb. Das löst wie Zuckerei. Da kann Gott nicht weit sein. Was heutzutage Gott ist: Tablette oder die Originalstaude mit Pottasche oder Coquero.“ Mit diesem Motto beginnt „Der Garten von Arles“, der nicht zu Unrecht als einer der dichtesten und zugleich dunkelsten Prosatexte des frühen Gottfried Benn gilt. Am Vorabend seiner geplanten Vorlesung grübelt ein Privatdozent der Philosophie, in Berlin ansässig, der Geschichte des abendländischen Ichs nach. Doch was er auf den Begriff bringen will, entzieht sich ihm konsequent. Beim Blick aus dem Fenster schweifen die Gedanken umher; der Parcours von Heraklit zur „Kreuzspinne Kant“ biegt in eine unberechenbare Traumreise ab. Ein Feuerwerk wilder Assoziationen (ent)führt den Bewusstseinsstrom des Akademikers in die unbekannten Gefilde eines anderen Reichs, von Ephesos über Tahiti zurück zum „Eierstockschlamm von Ur-Europa“ – und gelangt in einem fernen Garten, Treffpunkt von Lemuren-Ich und Hadrianschädel, zum rätselhaften Abschluss. „Der Garten von Arles“ ist ein komplexer Text, der vor geistesgeschichtlichen Anspielungen nur so strotzt und sich dem einfachen Verständnis verweigert. Wohl nicht zuletzt deswegen ist er in der Benn-Forschung der letzten Jahre kaum ausführlicher untersucht worden.

Dies ändert nun die Heidelberger Germanistin Friederike Reents. Ihre mehr als 400 Seiten umfassende, doch alles andere als behäbige Monografie „Ein Schauern in den Hirnen“ erkennt in der nur zehnseitigen Miniatur nicht weniger als ein „Paradigma der Moderne“. Der „Garten von Arles“ gilt ihr als literarische Keimzelle jener Dichtungstheorie, die Benns Essayistik vom „Aufbau der Persönlichkeit“ bis zur Marburger Rede „Probleme der Lyrik“ durchzieht. Darüber hinaus begreift sie ihn als ein literaturgeschichtliches Scharnier zwischen Expressionismus und Neuer Sachlichkeit – und verortet ihn zugleich an der Schwelle von Benns assoziativer „Gehirne“-Prosa zum lyrischen Gedicht der 1920er-Jahre. Dabei distanziert sie sich gleichermaßen von philologischen Apotheosen der Unverständlichkeit, die den literarischen Sinn in komplexe Texturen auflösen, wie von diskursarchäologischen Zugängen, in denen sich die autonome Dichtung in ein Relais diskursiver Muster und wissensgeschichtlicher Bezüge verflüchtigt. Stattdessen ist sie überzeugt, dass die opaken Assoziationsketten im „Garten von Arles“ einen zusammenhängenden Gehalt aufweisen, den eine „ganzheitliche“ Interpretation zu entschlüsseln vermag.

In guter hermeneutischer Tradition liest sie den Text sehr genau. Absatz für Absatz nähert sich ihre Untersuchung seinem immanenten Sinn. Exkurse zur literaturgeschichtlichen Bedeutung des Garten-Motivs, zu Heraklits Fließen oder zur Pathologie des Genies um 1900 erschließen jene intertextuellen Bezugsebenen, die in unzähligen Varianten den „Garten von Arles“ durchziehen. Wie Reents akribisch nachweist, kombiniert Benns assoziative Montagekunst ihre Anklänge an Nietzsches ästhetische Metaphysik mit Bezügen auf André Gides Roman „L’Immoraliste“, auf künstlerische Motive bei van Gogh („Sonnenblume“), auf wissenschaftliche Wahrnehmungstheoreme („Synopsie“) oder auf die Farbmystik der klassischen Moderne („reines Sehen“). In ihrer Optik nimmt „Der Garten von Arles“ surrealistische Traumbilder ebenso vorweg wie James Joyces „stream of consciousness“ – und lässt sich so als Wegbereiter einer „reflektierten Moderne“ (Helmut Kiesel) begreifen.

Reents’ Monografie erschließt diese Kontexte über Chiffren und Motive wie „Strom der Stunde“ oder „Sprunggarten“, die im „Garten von Arles“ zu einem vielschichtigen Netzwerk verknüpft sind. Indem sie deren geistes- und literaturgeschichtliche Bezüge herausarbeitet, weist sie nach, dass die poetischen Bilder keineswegs richtungslos umherschwirren, sondern auf ein implizites Ziel zusteuern. In ihrer Perspektive führt der zunehmende Zweifel des Privatdozenten an einem begrifflich fixierenden Weltzugang zunächst zu Erkenntnisskepsis, Wirklichkeitszerfall und Ich-Dissoziation, deren literarische Faszinationspotenziale der Text auslotet. Doch dabei bleibt es nicht. Denn im Nachvollzug der Textbewegung wohnt Reents’ Studie der „Geburt eines lyrischen Ichs“ bei, mit der die mäandernde Einbildungskraft des zunächst verwirrten Privatdozenten in eine dichterische Sprache übergeht. Die „Krise des Erzählens“ werde im „Garten von Arles“ poetisch fruchtbar gemacht und zugleich bewältigt.

Mit ihrer eigenwilligen Verknüpfung von gründlicher Textlektüre und erläuternden Exkursen entwickelt Friederike Reents’ Monografie eine brillante Interpretation des „Gartens von Arles“. Sie besticht durch eine erzähltechnische Genauigkeit und eine stilistische Sensibilität, die immer nah am Text argumentiert und doch das große Ganze von Benns Poetik nicht aus den Augen verliert. Ihre Detailanalysen der vier Textfassungen oder des verworfenen van Gogh-Mottos sind mit allen Wassern der Philologie gewaschen. Sie überzeugen in gleichem Maße wie die Bezüge auf Benns „hyperämische Metaphysik“ und seine Überlegungen zum Wallungswert des Dichterischen. Bekanntes wie Benns Nietzsche-Rezeption erscheint so in neuem Licht. Weniger Bekanntes wie sein Rekurs auf Gides „L’Immoraliste“ wird in einer geradezu detektivischen Spurensuche neu erschlossen. Meisterhaft ist etwa, wie Reents von der Formel „Diagonalmotiv“ auf den Bereich des Fechtens und von dort auf Kleists „Marionettentheater“ zu sprechen kommt. Der Umgang mit der Sekundärliteratur ist ebenso souverän wie der stilistische Duktus ihrer Untersuchung, die selten in akademische Formeln abdriftet, vielmehr dem eigenen Ideal der Verständlichkeit folgt und der unermüdlichen Textlektüre durch eher spielerische Überschriften – „Apocalypse now?“ – eine offene Struktur gibt.

Was ließe sich bemängeln? Gelegentlich werden Exkurse wie ein 35-seitiger Abschnitt zur van Gogh-Rezeption um 1900 langatmig. Hier und da bleibt die Deutung spekulativ, wenn etwa die Chiffre von den „Erstgeburten jenes ganz anderen Reichs“ wie selbstverständlich auf C. G. Jungs „Zwei Arten des Denkens“ zurückgeführt wird. Und Kiesels „Geschichte der literarischen Moderne“ müsste auch nicht unbedingt auf jeder dritten Seite zitiert werden. Doch insgesamt ist „Ein Schauern in den Hirnen“ eine klare und flüssige Untersuchung, die einem enigmatischen Text mit großer Beharrlichkeit höchstmögliche Kohärenz abgewinnt. Ihre Ergebnisse sind über weite Strecken überzeugend und geben der Forschung besonders zu Benns früher Prosa eine Fülle von neuen Anregungen.

Doch indem Reents’ Monografie „der Raffinesse des Autors auf die Spur kommen“ will, lässt sie Nutzen und Nachteil einer hermeneutischen Interpretation erkennbar werden. Formulierungen wie „Benn zielt auf …“ oder „Benn schafft …“ weisen darauf hin, wie überzeugt die Autorin von der Präsenz einer sinnstiftenden Autorintention im Text ist. Darin verbirgt sich nicht nur ein stilistisches, sondern auch ein methodisches Problem. Denn im Nachvollzug literarischer Bedeutung gerät ihre nüchterne Distanz an die Grenze zur Identifikation – und manchmal auch darüber hinaus. Besonders gegen Ende liest sich die Studie so, als würde sie nicht nur minutiös die Verweisungsspuren auf Benns Dichtungstheorie ans Licht bringen, sondern den Text selbst durch die Brille einer ästhetischen Metaphysik wahrnehmen. Wenn dem „Zauberer Benn“ die Fähigkeit attestiert wird, „in Überwindung der Vielfalt zu einer letzten und Sinn stiftenden, quasireligiösen Einheit vorzudringen“, fragt man sich unwillkürlich: Wer spricht hier eigentlich?

Zuletzt vermag auch die Ausweitung des „Gartens von Arles“ zum „Paradigma der Moderne“ nicht vollständig zu überzeugen. Gemeint sein kann ohnehin nur die ästhetische Moderne. Doch auch in Bezug auf den „visionären“ Gehalt des Textes, der literarische Innovationen der 1920er-Jahre vorwegnehmen soll, bleibt diese Deutung fragwürdig. Die „Krise des Erzählens“ war schließlich schon um 1900 virulent. Und so überzeugend die Deutung des Textes als Laboratorium surrealistischer Traumprotokolle sein mag – die Neue Sachlichkeit, an deren Schwelle sich der Text angeblich befindet, spielt in Reents’ eigentlicher Interpretation kaum eine Rolle. Oder soll Benns Autonomieästhetik der Form, seine Apotheose des lyrischen Ichs verallgemeinert werden? Der damit einhergehende Begriff ästhetischer Moderne wäre allzu verkürzt.

Doch wie dem auch sei – Reents’ Monografie zeigt allemal und auf beeindruckende Weise, welche überraschenden Erkenntnisse sich aus der Analyse eines so enigmatischen Textes wie Benns „Garten von Arles“ gewinnen lassen. Und wie spannend die Lektüre einer akademischen Qualifikationsschrift sein kann.

Titelbild

Friederike Reents: "Ein Schauern in den Hirnen". Gottfried Benns "Garten von Arles" als Paradigma der Moderne.
Wallstein Verlag, Göttingen 2009.
448 Seiten, 49,00 EUR.
ISBN-13: 9783835303232

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