Happy Ends gibt es nur in Hollywood

Anton Tschechows „Erzählungen von Liebe, Glück und Geld“ sind ein Meisterwerk der Ironie

Von Jana ScholzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jana Scholz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die junge Sofja Lwowna kommt nur zwei Monate nach ihrer Heirat mit einem alternden, jedoch wohlhabenden Mann zu der Erkenntnis, dass sie ihn eigentlich nur wegen seines Namens geheiratet hat. Denn er trägt denselben Namen wie ihre wahre, große Liebe, nämlich „Wolodja“. Nach dieser Feststellung gesteht sie dem geliebten und sehr viel jüngeren Wolodja schließlich ihre Zuneigung und es entsteht ein kurzes, außereheliches Tête-à-tête. Doch bereits nach acht Tagen lässt der junge Wolodja sie gnadenlos fallen. Und Sofja Lwowna aus der Erzählung „Wolodja der Große und Wolodja der Kleine“ bleibt zurück wie nahezu alle Protagonistinnen in Anton Tschechwos kleinen Prosastücken: in Reue und Selbstmitleid. 2010 wäre Anton Pawlowitsch Tschechow 150 Jahre alt geworden. Pünktlich zu diesem Geburtstag hat der Basler Literaturwissenschaftler Thomas Grob im Verlag Hoffmann und Campe eine Sammlung der Erzählungen des großen russischen Realisten mit dem Titel „Eine Bagatelle. Erzählungen von Liebe, Glück und Geld“ herausgegeben.

Als Tschechow 1860 im russischen Tangarog geboren wurde, war ihm als Sohn eines armen Ladenbesitzers keine sorgenlose Kindheit vergönnt. Schon mit 16 Jahren von der Familie in der kleinen Hafenstadt zurückgelassen, war er gezwungen, sich selbst mit Hilfe von Nachhilfestunden zu versorgen. Später unterstützte er seine Familie finanziell während seines Medizinstudiums in Moskau durch die Veröffentlichung kurzer Erzählungen in verschiedenen Zeitschriften. Dass diese ein unterhaltsames Zeugnis seines großes schriftstellerischen Talents sein könnten, war ihm selbst nie in den Sinn gekommen – vielmehr sah Tschechow in sich einen „Banausen“, der „keine einzige Zeile“ geschrieben habe, die „ernsthafte literarische Bedeutung besäße“. Allerdings erkannte der Schriftsteller Dmitrij Grigorowitsch dessen Talent und wies ihn 1886 in einem Brief eindringlich darauf hin. Also begann der 26-jährige Medizinstudent sich ernster zu nehmen – um einige Jahre später seine bekanntesten Dramen „Die Möwe“ und „Der Kirschgarten“ zu schreiben. Die im neu erschienenen Band versammelten Erzählungen stammen zum größten Teil aus dieser Zeit des literarischen Umbruchs in den 1880er-Jahren.

Vielleicht liegt Tschechows Sinn für menschliches Unglück, für bösen Zufall und Pech in seiner bedrückenden Jugendzeit begründet. Seine kurzen Prosastücke kreisen alle um verpasste Chancen, unglückliche Zufälle und Fehlentscheidungen. Dass an menschlichem Unglück aber womöglich nicht das Schicksal allein die Schuld trägt, darauf spielt Tschechows ironischer Unterton immer wieder an. Denn das Menschenbild, dass der russische Realist in den Erzählungen zeichnet, zeigt hochgradig determinierte Persönlichkeiten, die nicht in der Lage sind, ihr Schicksal in die Hand zu nehmen. Zu groß erscheint ihre Angst, sich gesellschaftlich fehlzuverhalten und verborgene Wünsche zu verwirklichen.

Eigentlich müssten sich seine Protagonisten endlich hinaus bewegen aus den Schranken ihres „Unglücks“ – doch sie tun es nicht. Warum? Vielleicht spricht der Realist Tschechow damit eine Kritik aus am (bürgerlichen) Menschen, der nicht seines „eigenen Glückes Schmied“ zu sein versteht; der sich um jeden Preis an vergangene Konventionen hält. Diese erscheinen uns heute allerdings hochgradig materialistisch geprägt.

Der heutige Leser wird sich also wundern, warum Tschechows Sofjas, Aljochins und Olgas aus den Erzählungen in Liebesfragen so viel dulden, warum sie nicht bereit sind, den langweiligen, alternden Gemahl oder die Gemahlin samt Geld und Besitz aufzugeben, um ihrer scheinbar so innigen, außerehelichen Leidenschaft nachzugehen. So denkt Aljochin, der Gutsherr, noch während er zu seiner langjährigen Liebe Anna in den abfahrenden Zug springt und sie mit Küssen und Umarmungen verabschiedet: „Ich gestand ihr meine Liebe und sah erst jetzt mit brennendem Weh im Herzen ein, wie nichtig, trügerisch und unnötig alles war, was unserer Liebe im Wege stand. Ich begriff, daß man an wichtigere Dinge als an Glück und Unglück, Tugend und Sünde im landläufigen Sinne oder überhaupt nicht denken soll, wenn man liebt“. Doch ganz gegensätzlich dazu zieht Aljochin keinerlei Konsequenzen aus dieser Erkenntnis, unmittelbar auf diese folgt nämlich: „Ich küßte sie zum letzten Mal, drückte ihr die Hand, und wir trennten uns für immer. Der Zug war bereits abgefahren. Ich setzte mich ins Nachbarcoupé, das zufällig leer war, und saß bis zur nächsten Station da und weinte.“ Dem heutigen Leser entsteht an diesem Punkt der Lektüre womöglich der Verdacht, dass ein solcher Gefühlsschwall einer verheirateten Frau gegenüber vielleicht gerade deswegen aufkommt, weil diese nicht zu haben ist.

Tschechows Bagatellen lesen sich schön und hässlich zugleich. Schließlich sind sie überaus unterhaltsam, klar und angenehm beschwingt fomuliert. Hässlich wird die Lektüre dort, wo man zu tief in das Seelenleben geschaut hat, wo alles Gefühl zum Schwulst, zur Rührseligkeit verkommt. Darin jedoch liegt die Schönheit des Tschechow’schen Schreibens: in seinem Geschick, die Inkonsequenz seiner Figuren in ihrem Fühlen und Handeln zu zeigen. Trotz aller Reue und dem Selbstmitleid ihrer Protagonisten hat es nicht den Anschein, als hätte der russische Realist Empathie für die Charaktere aufbringen können. Dafür zeichnet der Erzähler die Ehemänner seiner jungen, liebesuchenden Frauenfiguren viel zu abstoßend, zu alt, zu gelangweilt und ohne Sinn für das Glück, das ihnen ihre Gattinnen bescheren. Umgekehrt bemerken die weiblichen Protagonistinnen kaum, dass ihre zumeist jungen Verführer kein ehrliches Interesse für sie aufbringen und sie den Ehebruch schließlich nur zu ihrem eigenen Ruin begehen. Die Figuren erscheinen uns wie Blinde, gelenkt von Begierden und Wünschen, die sie sich gar nicht erfüllen wollen. Der Autor entlarvt diese Selbstlüge, welche womöglich tief im bürgerlichen Selbstverständnis verwurzelt ist.

Tschechows Erzählungen von Liebe, Glück und Geld ironisieren die Schicksalhaftigkeit der Liebe. Die Erwartungen des Lesers an einen letztlich guten Ausgang von Liebesbeziehungen werden gnadenlos enttäuscht. Happy Ends sucht man bei dem großen russischen Realisten vergeblich, denn die gibt es wohl nur in Hollywood.

Titelbild

Anton Tschechow: Eine Bagatelle. Erzählungen von Liebe, Glück und Geld.
Herausgegeben von Thomas Grob.
Übersetzt aus dem Russischen von Alexander Eliasberg und Dorothea Trottenberg.
Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2010.
128 Seiten, 10,00 EUR.
ISBN-13: 9783455402636

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