Ohne falsches Pathos

Carsten Schmidt über „Kafkas fast unbekannten Freund“ Felix Weltsch

Von Thomas MeyerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Meyer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es ist erfreulich, dass mit Carsten Schmidts Potsdamer Dissertation eine intellektuelle Biografie von Felix Weltsch vorliegt. Damit wird eine von zahlreichen empfindlichen Lücken in der Erforschung des „Prager Kreises“ geschlossen.

Wer aber war Felix Weltsch? 1884 in Prag geboren, promovierte der seit 1903 nachweislich mit Franz Kafka eng befreundete Weltsch 1909 in Jurisprudenz und zwei Jahre später in Philosophie. Von 1910 bis zu seiner Emigration 1939 nach Tel Aviv arbeitete er in seiner Heimatstadt als erfolgreicher Bibliothekar. Dieser Umstand, und mehr noch die Tatsache, dass sein Freund Hugo Shmuel Bergman, wie Max Brod auch Teil des „Prager Kreises“, einflussreicher Professor an der Hebräischen Universität war und als früherer Direktor der Universitätsbibliothek bei Personalentscheidungen gefragt wurde, half Weltsch eine Anstellung ab 1940 in Jerusalem zu finden. Neben seinem Job in der Bibliothek blieb er vornehmlich als gelegentlicher Buchautor, Essayist und Journalist tätig. 1964 starb der lebenslange Zionist Weltsch in Israel.

Das sind knapp die äußeren Daten, die in der Regel dadurch aufgefüllt werden, sie mit Kafka und dem Prager Umfeld in Verbindung zu bringen. Das tut Schmidt naturgemäß auch, kann in der direkten Beziehung zu Kafka gleichwohl nicht mit sensationellen Neuigkeiten aufwarten, rekonstruiert aber dafür klug und sensibel das Milieu, aus dem beide stammen und in dem sie lebten. Zumindest die biografische Kafka-Forschung sollte sich trotz dieser Einschränkung für die Hinweise interessieren, die Schmidt zum Umfeld des Café Louvre gibt. Unmittelbar bedeutsamer ist hingegen die Aufarbeitung der Geschichte der Familie Weltsch, die ausführlich referiert wird und in deren Mittelpunkt die Frage nach Inklusionen und Exklusionen zwischen Minderheits- und Mehrheitsgesellschaft seit dem frühen 18. Jahrhundert steht.

Felix Weltsch durchläuft Schule und Studium ohne besondere Schwierigkeiten, dafür aber mit einem immensen Sensorium für seine Zeit. Unter anderem mit Bergman, Brod, Kafka und seinem Cousin Robert Weltsch, der für die Geschichte des deutschen Judentums ungleich bedeutender scheint, wirkt ein Umfeld, das gleichermaßen affizierbar ist und deren Beobachtungen und Interessen sofort Ausdruck verliehen wird. Der „Prager Kreis“ ist ebenso schreibfreudig wie interdisziplinär ausgerichtet. Die Theater, die Cafés, Lesungen und die vielen durchreisenden Künstler und Intellektuellen bilden Anreiz genug, zu allem und jedem eine eigene Position auszubilden. Und was erstaunt, wenn man die frühen Schriften der Genannten liest: es entsteht kein Dilettantismus.

Ein Beispiel dafür, das bei Schmidt überraschenderweise fehlt, sei angeführt. 1913 legen Brod und Weltsch die Schrift „Anschauung und Begriff“ vor. Sie entstammt einer heute kaum mehr beachteten, aber für die Geschichte der Wissenschaftstheorie nicht unwichtigen Diskussion zwischen Anhängern Christian von Ehrenfels’ und Franz Brentanos. Anders als etwa Bergman standen Brod und Weltsch auf der Seite von Ehrenfels’. Die Schrift wird lange Zeit nicht beachtet, dann allerdings macht sie eine gute Karriere, weil sie der bedeutende Hamburger Philosoph Ernst Cassirer im dritten Band seiner „Philosophie der symbolischen Formen“ 1929 einer ausführlichen kritischen Würdigung unterzieht. Von dieser Tatsache aus wäre es möglich gewesen, auch auf die weiteren Schriften Weltschs genauer einzugehen. Zwei seiner Schriften, nämlich „Gnade und Freiheit“ und „Religion und Humor im Leben und Werk Franz Kafkas“ sind übrigens im Düsseldorfer onomato-Verlag nachgedruckt worden.

Weltsch verbleibt aber nicht im Akademischen, auch wenn er später an der Redaktion der berühmten, im Hebräischen lange Zeit stilbildenden, heute eher skurril anmutenden Übersetzung der Hauptwerke Kants durch Bergman und Nathan Rotenstreich eingebunden ist, sondern wird Mitarbeiter der zionistischen Zeitung „Selbstwehr“. Der Aktivist und Analytiker der Bewegung hat in dem Blatt nicht nur die Möglichkeit, die Entwicklungen und Positionen zu kommentieren, sondern wird selbst Teil der Auseinandersetzungen. Es ist die Verwurzelung in den Debatten, Gefühlen und Sehnsüchten, die den Freunden aus dem früheren „Prager Kreis“ den Start in Palästina zumindest erleichtert. Schmidt bietet hier Einblicke nicht nur in eine komplexe Emigrations-, Familien- und Alltagsgeschichte, sondern kann mit bemerkenswerten Details über das israelische Geistesleben aufwarten, die die Rolle der deutschsprachigen Intellektuellen jenseits von falscher Melancholie und neuerdings zu beobachtender Verklärung deutlich werden lässt.

Die archivgestützte, gelegentlich vielleicht zu sehr der Person Weltschs verpflichtete Arbeit ist gut geschrieben, immer auf der Höhe des Gegenstandes und kommt ohne falsches Pathos aus. Künftige Forschungen zum „Prager Kreis“, seines Verfalls und seiner Neukonstituierung in Palästina beziehungsweise Israel werden an Schmidts Dissertation nicht vorbeikommen. Man kann nur die Hoffnung formulieren, dass die Arbeit dazu anregt weitere Anstrengungen zu unternehmen, die scheinbaren Minores neben solchen scheinbaren Maiores wie Hannah Arendt, Walter Benjamin oder gar Theodor W. Adorno genauer in den Blick zu nehmen. Unerschlossenes Material gibt es dazu in Berlin, New York oder Jerusalem in Hülle und Fülle.

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Carsten Schmidt: Kafkas fast unbekannter Freund. Leben und Werk von Felix Weltsch. Philosoph, Journalist und Zionist.
Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2010.
378 Seiten, 48,00 EUR.
ISBN-13: 9783826042744

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