Ästhetik des Authentischen – oder: Gibt es ein Richtiges im Falschen?

Eine Studie von Christoph Zeller untersucht Literatur und Kunst um 1970

Von Torsten MergenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Torsten Mergen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In der Reihe „Spectrum Literaturwissenschaft“ des Walter de Gruyter-Verlages ist unlängst die Studie des Germanisten Christoph Zeller erschienen, der an der Vanderbilt University in Nashville lehrt und forscht. Darin untersucht Zeller Ursprünge, Darstellungsweisen und Rezeptionsformen des Authentischen im 20. Jahrhundert. Einen Schwerpunkt seiner Arbeit bilden Beispiele der Kunst und Literatur aus den 1960er- und 1970er-Jahren, die vorrangig mit den Namen Alexander Kluge, Wolf Vostell, Hans Magnus Enzensberger, Peter Handke und Rolf Dieter Brinkmann verbunden sind, zugleich aber auf Theoretiker wie Theodor W. Adorno, Walter Benjamin, Elias Canetti und Herbert Marcuse sowie Friedrich Nietzsche und Georg Simmel verweisen.

Ausgangspunkt des um begriffliche Klarheit bemühten Buches ist eine zeitkritische Diagnose: In Zeiten massenmedialer Omnipräsenz entstehe bei vielen Menschen eine ungetrübte Sehnsucht nach unmittelbaren, ja sogar einzigartigen Erfahrungen. Dieses Gefühl werde umso vehementer, je mehr „die“ Wirklichkeit durch digitale Medien und deren Suggestionstechniken als korrumpiert und vordergründig beziehungsweise reversibel erscheint. Dem gegenüber vertritt das Authentische per se Wahrhaftigkeit, Originalität, Verlässlichkeit und Aufrichtigkeit.

Aber Zeller weiß um die Zeit- und Ortsgebundenheit solcher Idealisierungen des Authentischen – nicht nur in den 1960er-Jahren –, wie er es kulturphilosophisch und ideologiekritisch schlüssig im ersten Kapitel seines Bandes darlegt: „Die Geschichte des Authentischen als einer ästhetischen Kategorie fällt mit dem Aufkommen und Verschwinden avantgardistischer Bewegungen zusammen […] Nicht-fiktionale literarische Genres (Dokumentarliteratur, Essay, Autobiographie, Tagebuch, Reisebericht), Happenings, Performance Art und politische Aktionen entsprechen einer Ästhetik, die nicht ästhetisch, sondern authentisch sein will.“

Nach einem kenntnisreichen Resümee des bisherigen Forschungs- und Erkenntnisstandes zum „Begriff des Authentischen“ im ersten Kapitel, der einen Akzent auf die Konzeptionen und Theoriemodelle Theodor W. Adornos und Jean Baudrillards sowie Erika Fischer-Lichtes setzt, geht es Christoph Zeller um die Erkenntnis, dass das Konzept des Authentischen „auf der avantgardistischen Forderung nach einer Identität von Leben und Kunst“ beruhe. Das beleg- und zitatreiche zweite Kapitel untersucht daher die Manifeste und Proklamationen der Avantgardisten, deren Ziel in einer „Zusammenführung von Kunst und Leben“ bestanden habe. „Décadence“, „Intensität“, „Lebensreform“, „Atomisierung“ und „Lebenskunst“ mit ihren jeweiligen Repräsentanten und ideologischen Prämissen werden in diesem Kontext präzise und stringent vorgestellt.

Kapitel 3 bis 6 sind jeweils Studien zu exemplarischen Themenfeldern zugeordnet. Als dominante avantgardistische Kunstformen der 1960er- und 1970er-Jahren erkennt der Kulturwissenschaftler die mit dem Namen Alexander Kluge verbundene Dokumentarliteratur der 1962 veröffentlichten „Lebensläufe“. Obwohl sie sich nur mit Vorbehalten als solche bezeichnen lasse, da Kluge „Wirklichkeit als ‚geschichtliche Fiktion‘“ destruiere, konstatiert Zeller, dass für Kluge Authentizität ein Verfahren sei, Glaubhaftes, Echtes und Direktes zu erzeugen, indem er sich den Stil des Dokumentarischen glaubhaft aneigne.

Ebenso glaubwürdig wie eigenwillig gestalte die Aufführungspraxis der Performance Art Kunst. Sie inszeniere durch „die Darstellung von Gegenwärtigkeit, die Beteiligung des Publikums und den gleichzeitigen Einsatz verschiedener Medien“ unmittelbare Anschaulichkeit, wie Zeller am Exempel von Happenings demonstriert.

Das sehr zu lobende fünfte Kapitel präsentiert auf der Folie von Adornos „Ästhetischer Theorie“ die Aufnahme der „vitalistischen Rhetorik des Avantgardismus“ in Publikationen des studentischen Protests und des Linksterrorismus der späten 1960er- und frühen 1970er-Jahre. Die „Ästhetik der Gewalt“ steht nach den Ergebnissen von Zeller, der dazu Texte von Bernward Vesper, Enzensberger und Handke konsultiert und analysiert, in einem dialektischen Verhältnis zur „Ästhetik des Authentischen“. Mit anderen Worten: „Literatur ist das Gegenmodell zu einer auf Unmittelbarkeit ausgerichteten Utopie, die Gewalt in ihr Kalkül einbezieht […] Politische Taten lassen sich jedoch ebenso wenig ästhetisch rechtfertigen wie ästhetische Urteile politisch zu erzwingen sind.“

Im vorletzten Kapitel steht das Werk Rolf Dieter Brinkmanns im Zentrum. Am Beispiel seiner Collage „Rom, Blicke“ demonstriert Zeller die Brüche im Spätwerk der 1970er- Jahre. Authentisch sei darin nur der Moment der Wahrnehmung, ansonsten negiere er explizit vorherige Versuche, Sprache als Mittel des Authentischen zu stilisieren beziehungsweise zu nutzen.

Im abschließenden siebten Kapitel geht es um die Relevanz des Authentischen in der Gegenwart. Dabei konstatiert Zeller, dass in einem cybermedialen Zeitalter, in dem der Status eines autonomen Individuums höchst fraglich geworden sei, es zu einer Relativierung gekommen sei: „Entblößt sich Authentizität in der Erlebnisgesellschaft als Projektion unbewusster (Konsum-)Wünsche und stets aufgeschobenes Versprechen, so verzichtet die Web-Community vollends auf die Utopie des Authentischen.“

Abgerundet wird der Band durch ein umfangreiches Literaturverzeichnis, welches die wissenschaftliche Akribie des Autors dokumentiert, und ein sehr hilfreiches Personenregister. Trotz mancher gegenwartskritischer Überzeichnungen, die sprachlich von imaginären „Facebook-Freunden“ und „Youtube-Camouflagen“ gekennzeichnet sind, gelingt es Zeller, den kulturellen Paradigmenwandel im Umgang mit (ästhetischen) Wertungsprämissen und Authentizitätsansprüchen konzise auf den Punkt zu bringen. Seine Kenntnis einschlägiger Konzepte beeindruckt, die vorgestellten ästhetischen Ausprägungen des Authentischen wirken repräsentativ und hinreichend plausibel. Manch lesenswerter Text wird durch Zeller in einem Kontext offeriert, der neue Lesarten und Deutungshorizonte eröffnet. Allerdings bleibt resümierend offen, ob Literatur und Kunst nicht doch ein größeres Potenzial haben, als dies Zeller suggeriert, wenn er in seinem Schlusskapitel rekapituliert: „Literatur und Kunst sind gleichermaßen Paradigmen des Inauthentischen, denn sie repräsentieren das imaginäre Andere der Wirklichkeit.“

Titelbild

Christoph Zeller: Ästhetik des Authentischen. Literatur und Kunst um 1970.
De Gruyter, Berlin 2010.
333 Seiten, 99,95 EUR.
ISBN-13: 9783110227208

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